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5. Der Heimgang des Weisen

Phädon Kap. 62 Schluß bis 67. Stephanus I, pag. 114 C-118.

Personen des Gesprächs: Sokrates; Kriton; der Gefängnisaufseher; ein gewöhnlicher Gefängnisdiener. – Berichterstatter ist Phädon.

Nachdem Sokrates die Schicksale der Seelen nach dem Tode dargelegt hat, fährt er fort:

»Schon um deswillen, was wir jetzt auseinandergesetzt haben, muß man alles tun, um der Tugend und Erkenntnis im Leben teilhaftig zu werden; denn schön ist der Preis und die Hoffnung groß.«

Kap. 63. »Zu behaupten nun, daß sich das alles so verhalte, wie ich es dargelegt habe, ziemt einem vernünftigen Manne nicht; daß es jedoch so oder ähnlich mit unseren Seelen und ihren Wohnungen bestellt ist, das darf man, da ja die Seele offenbar unsterblich ist, meines Erachtens behaupten, und es lohnt, es darauf hin zu wagen, in dem Glauben, daß es sich so verhalte; denn das Wagnis ist schön, und man muß sich mit solchen Reden gleichwie mit Zaubergesängen beruhigen. Darum verweile ich auch bei dieser Erzählung schon lange. Aus diesen Gründen also muß ein Mann getrosten Mutes wegen seiner Seele sein, der in seinem Leben alle sinnlichen Genüsse und den Schmuck des Leibes hat fahren lassen als etwas Fremdartiges, das nach seiner Überzeugung das Übel nur ärger macht, den Freuden der Erkenntnis aber nachgetrachtet und seine Seele geschmückt hat, nicht mit einem ihr fremden, sondern mit dem ihr eigenen Schmucke, mit Mäßigung, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Freiheit und Wahrheit, und so auf die Wanderung in den Hades wartet, bereit zu gehen, wenn das Schicksal ruft. Ihr nun, mein Simias und Kebes und ihr anderen, werdet ein andermal gehen, ein jeder zu seiner Zeit, mich aber ruft jetzt schon das Schicksal, so würde ein tragischer Dichter sagen, und so ist es für mich wohl an der Zeit, an das Bad zu denken; denn es dünkt mich besser, zu baden, bevor ich trinke, und nicht die Frauen mit der Waschung des Leichnams zu bemühen.«

Kap. 64. Als er so gesprochen hatte, sagte Kriton: »Gut, mein Sokrates! Was hast du aber diesen oder mir noch aufzutragen wegen deiner Kinder oder einer Sache, mit der wir dir einen besonderen Gefallen tun könnten?« – »Was ich immer sage,« erwiderte er, »lieber Kriton, nichts Neues: daß ihr, wenn ihr für euch sorgt, mir und den Meinigen und euch zu Danke tun werdet, was ihr auch tut, auch wenn ihr es jetzt nicht versprecht; wenn ihr euch aber verwahrlost und den jetzt und in der früheren Zeit bezeichneten Spuren in eurem Leben nicht nachgehen wollt, so werdet ihr nichts weiter ausrichten, wolltet ihr auch jetzt alles mögliche hoch und heilig versprechen.« – »Wir werden uns also bemühen,« erwiderte er, »so zu handeln. Doch auf welche Weise sollen wir dich bestatten?« – »Wie ihr wollt,« sagte Sokrates, »wofern ihr mich nur bekommt und ich euch nicht entwische.« Dabei lachte er leise und sprach, den Blick auf uns gerichtet: »Liebe Männer, ich vermag Kriton nicht davon zu überzeugen, daß ich der Sokrates bin, der sich jetzt mit euch unterredet und jeden einzelnen Gegenstand des Gesprächs darlegt, sondern er meint, ich sei der Sokrates, den er ein wenig später als Leiche sehen wird, und fragt danach, wie er mich bestatten soll. Was ich aber schon lange in ausführlicher Rede dargetan habe: sobald ich das Gift getrunken, werde ich nicht mehr bei euch bleiben, sondern werde zu den Freuden der Seligen fortgehen, das hält er alles für vergebliche Worte, nur gesagt, um zugleich euch und mich zu beruhigen. Verbürgt euch also für mich bei Kriton für das Gegenteil von dem, wofür sich dieser bei den Richtern verbürgen wollte. Dieser wollte nämlich dafür Bürgschaft übernehmen, daß ich ganz gewiß bleiben würde, verbürgt ihr aber euch dafür, daß ich ganz gewiß nicht bleiben werde, nachdem ich gestorben bin, sondern davongehen werde, auf daß es Kriton leichter trage und nicht, wenn er sieht, wie mein Leib verbrannt oder beerdigt wird, schmerzlich erregt werde, als ob mir Schlimmes begegnete, und auch nicht bei der Bestattung sage, er stelle Sokrates zur Schau, geleite ihn zu Grabe, beerdige ihn. Denn wisse wohl, mein bester Kriton, sich nicht richtig ausdrücken, ist nicht bloß in eben dieser Hinsicht fehlerhaft, sondern bringt auch etwas Schlimmes in die Seelen. Darum sei getrosten Mutes und sage, daß du meinen Leib bestattest, und bestatte ihn so, wie es dir lieb ist und es nach deiner Überzeugung dem Herkommen am besten entspricht.«

Kap. 65. Nach diesen Worten erhob er sich, ging in ein Gemach, um das Bad zu nehmen, und Kriton folgte ihm, uns aber hieß er bleiben. Wir blieben also und redeten untereinander über seine Worte und überdachten sie noch einmal, dann aber sprachen wir auch von dem großen Unglück, das uns betroffen hätte, und es war uns geradezu, als sollten wir, gleichwie des Vaters beraubt, als Waisen unser künftiges Leben hinbringen. Als er nun gebadet hatte und die Knaben zu ihm gebracht worden waren – er hatte nämlich zwei kleine und einen großen – und die Frauen aus der Verwandtschaft zu ihm gekommen waren, da sprach er mit ihnen in Gegenwart Kritons und tat ihnen seinen letzten Willen kund. Darauf hieß er die Frauen und die Kinder gehen und kam zu uns. Und es war schon nahe an Sonnenuntergang, denn er hatte lange drinnen verweilt. Als er nun gekommen war, setzte er sich nieder, und er hatte darnach nicht viel gesprochen, da kam der Gefängnisaufseher, trat zu ihm und sprach: »O Sokrates, an dir werde ich nicht die Erfahrung machen, die ich an anderen mache, daß sie mir zürnen und mich verwünschen, wenn ich ihnen ankündige, das Gift zu trinken, da es die Behörde so verlangt. Dich habe ich auch sonst während dieser Zeit als den edelsten, sanftmütigsten und besten Mann kennen gelernt unter allen, die jemals hierher gekommen sind, und so weiß ich auch jetzt recht wohl, daß du mir nicht zürnest – du kennst ja die Schuldigen –, sondern diesen. So lebe denn wohl – du weißt ja, mit welcher Botschaft ich gekommen bin – und versuche, dich in das Unabänderliche zu finden, so gut es geht.« Dabei brach er in Tränen aus, wandte sich um und ging. Sokrates aber sah ihm nach und sagte: »Lebe auch du wohl! Ich werde so tun.« Und zugleich sprach er zu uns: »Wie freundlich der Mann ist! Auch die ganze Zeit über kam er zu mir und unterhielt sich gar manchmal mit mir und war der beste Mensch, und wie aufrichtig weint er jetzt um mich! Wohlan denn, Kriton, wir wollen ihm folgen. Es mag einer das Gift bringen, wenn es schon bereitet ist, sonst mag es der Mann bereiten.« Kriton aber erwiderte: »Liebster Sokrates, ich denke, die Sonne steht noch über den Bergen und ist noch nicht untergegangen. Ich weiß auch, daß andere erst ganz spät nach der ergangenen Weisung den Trank genommen haben, und daß sie vorher noch gut gegessen und getrunken haben; ja manche haben sich erst noch des Zusammenseins mit solchen erfreut, nach denen sie Verlangen trugen. Drum eile ja nicht, denn es ist noch Zeit.« Und Sokrates sprach: »Bei jenen, von denen du sprichst, ist solches Tun begreiflich, denn sie meinen damit etwas zu gewinnen; aber ebenso begreiflich ist es, daß ich das nicht tue, denn ich glaube nicht, irgend welchen anderen Gewinn davon zu haben, wenn ich das Gift ein wenig später trinke, als daß ich mich vor mir selbst lächerlich mache, wenn ich so sehr am Leben hänge und geize, wo nichts mehr vorhanden ist. Darum folge mir und tu nicht anders!«

Kap. 66. Als Kriton das hörte, winkte er seinem Diener, der in der Nähe stand, und der Diener ging hinaus und kehrte nach einiger Zeit zurück mit dem Wärter, der den Trank reichen sollte, den er zubereitet in einem Becher brachte. Als Sokrates den Menschen sah, sagte er: »Gut, mein Bester, du verstehst dich ja darauf, was muß ich tun?« »Nichts weiter«, erwiderte der, »als nachdem du getrunken hast, herumgehen, bis dir die Schenkel schwer werden, und dann dich niederlegen. So wird es von selbst wirken.« Zugleich reichte er Sokrates den Becher. Der ergriff ihn ganz heiter, mein Echekrates, ohne auch nur im geringsten zu zittern und Farbe und Miene irgendwie zu verändern, sondern er sah nach seiner Gewohnheit mit ruhigem Blicke nach dem Manne und fragte: »Was denkst du hinsichtlich einer Spende von diesem Tranke? Darf man oder nicht?« – »Wir stellen nur so viel her«, erwiderte dieser, »als wir für gerade ausreichend halten.« – »Ich verstehe,« entgegnete Sokrates, »aber zu den Göttern beten darf man und muß man doch wohl, daß die Wanderung von hier nach dort eine glückliche werde. So bitte ich denn darum, und so möge es geschehen!« Mit diesen Worten setzte er den Becher an die Lippen und leerte ihn ganz leicht und heiter. Die meisten von uns hatten bis dahin so ziemlich vermocht, die Tränen zurückzuhalten; als wir aber sahen, wie er trank und getrunken hatte, waren wir es nicht mehr imstande, und auch meine Tränen flossen mit Gewalt in Strömen, so daß ich mich verhüllte und laut über mich weinte; denn nicht ihn beweinte ich, sondern mein Schicksal, daß ich eines solchen Freundes beraubt wäre. Kriton aber war noch vor mir aufgestanden, denn er vermochte nicht seine Tränen zurückzuhalten, und Apollodoros, der schon vorher unaufhörlich geweint hatte, schrie jetzt laut auf vor Schmerz und brachte einen jeden der Anwesenden aus der Fassung, nur Sokrates nicht. Der aber sprach: »Was tut ihr doch, ihr seltsamen Menschen? Ich habe ja namentlich deshalb die Frauen fortgeschickt, damit sie nicht so Verkehrtes täten, denn ich habe gehört, man müsse in andächtiger Stille sterben. Drum verhaltet euch ruhig und seid standhaft!« Als wir das hörten, schämten wir uns und hielten inne mit Weinen. Er aber ging im Zimmer herum, und als er merkte, daß ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich nieder auf den Rücken; denn so hatte es ihn der Mann geheißen. Und nach einiger Zeit faßte ihn dieser an und betrachtete dabei Füße und Schenkel, dann drückte er seinen Fuß und fragte, ob er es fühle. Sokrates verneinte es. Darauf drückte er wiederum die Waden, und indem er so an dem Körper hinaufging, zeigte er uns, wie er kalt und starr wurde. Und wieder faßte er ihn an und sagte: »Sobald es ihm an das Herz kommt, wird er verscheiden«. Schon war ihm der Unterleib fast ganz erkaltet, als er sein Antlitz enthüllte – er hatte es nämlich verhüllt – und sagte, was denn seine letzten Worte waren: »Lieber Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, drum entrichtet ihm den und versäumt es ja nicht.« – »Das soll geschehen«, sagte Kriton; »doch sieh zu, ob du sonst noch etwas zu sagen hast.« Auf diese Frage gab er keine Antwort mehr, nach kurzer Zeit aber zuckte er, und als der Mann sein Antlitz enthüllte, war sein Auge gebrochen. Als Kriton das sah, schloß er ihm Mund und Augen.

Kap. 67. Das war das Ende unseres Freundes, der, wie wir wohl sagen können, der beste, vernünftigste und gerechteste unter allen Männern seiner Zeit war, die wir kennen gelernt haben.


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