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Protagoras Kap. 11-15. Stephanus I, pag. 320 C-326 E.
Kap. 10 erklärt Sokrates auf Grund von tatsächlichen Erscheinungen des öffentlichen und privaten Lebens, er halte die Tugend, für deren Lehrer sich Protagoras ausgibt, nicht für lehrbar, und fordert Protagoras auf, ihre Lehrbarkeit nachzuweisen. Protagoras ist gern dazu bereit und gibt zunächst, sophistischer Sitte gemäss, eine teils an Volkssagen sich anschliessende, teils frei erfundene Erzählung, darauf eine verstandesgemässe Auseinandersetzung.
Kap. 11. Protagoras. Es war einmal eine Zeit, da gab es zwar Götter, sterbliche Geschlechter aber gab es nicht. Als nun auch für diese die bestimmte Zeit der Entstehung kam, da formten sie die Götter in der Erde aus Erde und Feuer, die sie miteinander mischten, und aus dem, was mit Feuer und Erde sich eint. Als sie sie nun an das Licht des Tages fördern sollten, da trugen sie Prometheus und Epimetheus auf, sie auszustatten und die Kräfte an jegliche auszuteilen nach Gebühr. Von Prometheus aber erbittet sich Epimetheus die Gunst, austeilen zu dürfen. »Habe ich ausgeteilt,« sagte er, »so sieh du nach!« Nachdem er ihn so beredet, nahm er die Austeilung vor. Hierbei maß er den einen Stärke ohne Schnelligkeit zu, die Schwächeren aber begabte er mit Schnelligkeit, andere bewaffnete er, für andere wieder, deren Natur er wehrlos schuf, ersann er irgend ein anderes Mittel zu ihrer Erhaltung. So wies er den Geschöpfen, die er mit Kleinheit antat, beschwingte Flucht oder unterirdische Behausung zu; die er aber durch Größe auszeichnete, erhielt er durch eben diesen Vorzug; und auch die anderen Eigenschaften verteilte er so, auf Ausgleich bedacht. Diese Mittel wandte er an aus Fürsorge, daß keine Art ausgetilgt werde. Nachdem er ihnen aber Errettung von gegenseitiger Vernichtung geschaffen hatte, ersann er ihnen Schutzmittel gegen die von Zeus geordneten Zeiten des Jahres, indem er sie mit dichten Paaren und harten Häuten bekleidete, hinreichend, die Kälte abzuwehren, gut auch zum Schutze vor Hitze, und suchten sie ihr Lager auf, so sollte ein jedes davon seine eigene und natürliche Decke haben, und den einen gab er Hufe, den anderen harte und blutlose Sohlen als Schuhe an die Füße. Darauf schuf er ihnen verschiedene Arten der Nahrung, den einen Pflanzen, die aus dem Boden wachsen, Baumfrüchte andern, wieder andern Wurzeln. Manchen gab er zur Nahrung den Fraß anderer Tiere, und diese stattete er nur mit geringer Fruchtbarkeit aus, dagegen die zu ihrem Fraße bestimmten mit sehr großer, und sicherte so die Erhaltung der Arten. Da nun Epimetheus nicht gerade sehr klug war, hatte er, ohne es zu merken, alle seine Gaben aufgebraucht. Übrig war ihm nun noch ohne jede Ausstattung das Geschlecht der Menschen, und er wußte nicht, was er anfangen sollte. Während er ratlos dasteht, kommt zu ihm Prometheus, um nach der Verteilung zu sehen, und er sieht alle anderen Geschöpfe mit allem wohl ausgestattet, den Menschen aber nackt und ohne Schuhe, unbedeckt und unbewehrt. Es war aber auch schon der vom Schicksal bestimmte Tag da, an dem auch der Mensch aus dem Schoße der Erde an das Licht hervorgehen sollte. Zu seiner Verlegenheit nun, welche Mittel er dem Menschen zu seiner Erhaltung ausfindig machen könnte, stiehlt Prometheus des Hephästos und der Athene Kunstgeschicklichkeit zusammen mit dem Feuer – denn ohne Feuer konnte sie unmöglich jemand erwerben oder nutzen – und schenkt sie dem Menschen. So hatte nun wohl der Mensch die Kunst erhalten, die für die Bedürfnisse des Leibes nötig ist, aber die zum Zusammenleben in staatlicher Gemeinschaft nötige besaß er nicht, denn sie war bei Zeus; Prometheus aber stand es nicht mehr frei, in die Hochburg, die Wohnung des Zeus, einzutreten; dazu waren auch die Wachen des Zeus zu fürchten. Dagegen gelangt er unbemerkt in Athenes und Hephästos' gemeinsames Gelaß, in dem die beiden ihre Kunst betrieben, stiehlt die Kunst der Feuerarbeit des Hephäst und auch die der Athene und macht sie dem Menschen zum Geschenke. Infolgedessen kann der Mensch leicht seinen Lebensunterhalt gewinnen, aber Prometheus erreichte nach der Sage später die Strafe wegen Diebstahls.
Kap. 12. Nachdem der Mensch nun Anteil am göttlichen Lose bekommen, gewann er erstens allein von allen Geschöpfen den Glauben an Götter, und ging daran, Altäre und Bildsäulen von Göttern aufzurichten; sodann artikulierte er seine Stimme und bildete so vermöge seiner Kunstfertigkeit Worte und erfand sich Wohnung, Kleidung, Schuhwerk, Lagerstätten und die Nahrungsmittel des Bodens. So nun ausgerüstet, wohnten die Menschen anfangs zerstreut, und Städte gab es nicht. Daher wurden sie eine Beute der wilden Tiere, weil sie in jeder Beziehung schwächer waren als sie, und wenn auch die handwerksmäßige Kunst ihnen eine ausreichende Helferin war für die Nahrung, so war sie doch ungenügend für den Kampf mit den wilden Tieren. Die bürgerliche Kunst hatten sie ja noch nicht, von der die Kriegskunst ein Teil ist. So suchten sie denn sich zu sammeln und durch Gründung von Städten zu retten. Wenn sie sich nun gesammelt hatten, so verübten sie gegeneinander Unrecht, da sie die bürgerliche Kunst nicht hatten. Daher zerstreuten sie sich wieder und kamen so um. In Sorge nun um unser Geschlecht, es möchte vollständig zugrunde gehen, sandte Zeus Hermes, Scheu und Rechtsgefühl unter die Menschen zu bringen, damit es in den Staaten feste Ordnungen gäbe und vereinigende Bande der Liebe. Hermes fragt nun Zeus, in welcher Weise er denn den Menschen Rechtsgefühl und Scheu verleihen solle. »Soll ich sie in derselben Weise austeilen, wie die Künste ausgeteilt sind? Die aber sind folgendermaßen ausgeteilt: einer, der im Besitze der Heilkunst ist, reicht für viele Laien aus, und so auch die anderen Meister. Soll ich denn nun auch Rechtsgefühl und Scheu den Menschen in der Weise einpflanzen, oder soll ich sie an alle austeilen?« – »An alle,« erwiderte Zeus, »und alle sollen daran teilhaben. Es kann ja keine Staaten geben, wenn nur wenige an ihnen Anteil haben. Und gib ihnen von mir aus geradezu das Gesetz: wer nicht imstande ist. Scheu und Rechtsgefühl in seiner Brust zu hegen, den sollen sie töten, da er eine Pest für den Staat ist.«
So nun und aus diesem Grunde sind, wie alle andern, so namentlich die Athener der Ansicht, daß da, wo die Tüchtigkeit eines Baumeisters oder sonst eines Meisters in Frage kommt, nur wenigen es zusteht, mitzuraten, und wenn einer, der außerhalb des Kreises dieser wenigen steht, mitraten will, so lassen sie sich das nicht gefallen, wie du sagst; und das mit Recht, meine ich. Schreiten sie aber zu einer Beratung, bei der es sich um Bürgertugend handelt und die sich ganz und gar auf dem Boden der Gerechtigkeit und Besonnenheit bewegen muß, da lassen sie sich mit gutem Grunde jeden gefallen, in der Überzeugung, daß diese Tugend jeder besitzen muß, da Staaten sonst nicht existieren könnten. Das, mein Sokrates, ist der Grund hiervon.
Damit du dich aber nicht betrogen wähnst, so nimm noch folgendes als Beweis dafür, daß wirklich alle Menschen der Überzeugung sind, ein jeder Mann habe an der Gerechtigkeit und der sonstigen bürgerlichen Tugend teil. Wenn auf dem Gebiete der übrigen Tugenden einer behauptet, er sei ein guter Flötenspieler oder sonst in einer Kunst tüchtig, in der er es nicht ist, so lachen sie ihn entweder aus oder sind böse auf ihn, und seine Angehörigen treten ihm entgegen und sehen ihm den Kopf zurecht als einem, der nicht recht bei Sinnen sei. Ganz anders ist es auf dem Gebiete der Gerechtigkeit und der übrigen bürgerlichen Tugend. Wenn da einer, dessen Ungerechtigkeit die Menschen recht wohl kennen, von sich die Wahrheit sagt, so halten sie das, was sie dort für Tugend hielten, nämlich die Wahrheit zu sagen, hier für Wahnsinn, und sie meinen, alle müßten behaupten, sie wären gerecht, möchten sie es nun sein oder nicht, und wer Gerechtigkeit für sich nicht beanspruche, sei von Sinnen; denn irgendwie müsse ein jeder an ihr teilhaben, oder er dürfe nicht unter Menschen sein.
Kap. 13. So viel darüber, daß die Menschen mit Recht einen jeden Mann, wenn es sich um diese Tugend handelt, zur Beratung zulassen, weil sie jeden in ihrem Besitze glauben; daß sie aber nicht glauben, sie sei von Natur und von selbst da, sondern daß sie ein Gegenstand der Lehre ist und durch Fleiß erreicht wird, das will ich nunmehr nachzuweisen versuchen. Denn wegen aller der Übel, mit denen die Menschen einander durch die Schuld der Natur oder des Zufalls behaftet glauben, zürnt keiner den damit Behafteten, noch ermahnt oder belehrt oder bestraft er sie, auf daß sie nicht so bleiben, sondern alle haben Mitleid mit ihnen. Wer wäre z. B. so unvernünftig, daß er Häßlichen oder Kleinen oder Schwachen so etwas anzutun gedächte? Sie wissen ja, denke ich, daß solche Eigenschaften von Natur und durch Zufall den Menschen zuteil werden, die guten und die diesen entgegengesetzten, wenn aber jemand die guten Eigenschaften nicht hat, die nach ihrer Meinung durch Fleiß, Übung und Unterweisung den Menschen zuteil werden, sondern die ihnen entgegengesetzten schlechten Eigenschaften, darüber geraten sie in Zorn und schreiten zu Strafen und Zurechtweisungen. Hierher gehört auch die Ungerechtigkeit und die Gottlosigkeit und mit einem Worte alles, was der bürgerlichen Tugend entgegengesetzt ist. Auf diesem Gebiete allerdings zürnt ein jeder jedem und weist ihn zurecht, offenbar in der Überzeugung, daß man diese Tugend durch Fleiß und Belehrung erwerben kann. Denn wenn du erwägen willst, was die Bestrafung von Übeltätern bedeutet, so wird schon dies dich belehren, daß die Menschen glauben, Tugend lasse sich erwerben. Denn keiner straft einen Schuldigen im Hinblick darauf und aus dem Grunde, weil er unrecht getan hat, er müßte denn gleich einem wilden Tiere in blindem Unverstande nur Rache üben wollen; nein, wer mit Vernunft an die Züchtigung geht, straft nicht wegen des vergangenen Unrechtes, das Begangene kann er ja nicht ungeschehen machen, sondern um der Zukunft willen, damit nicht derselbe wieder unrecht tut, noch ein anderer, der seine Bestrafung mit angesehen hat. Eine solche Auffassung von dem Wesen der Strafe ist bedingt durch die Überzeugung, daß die Tugend anerzogen werden kann; auf jeden Fall straft er, um abzuschrecken. Diese Ansicht haben also alle, die strafen daheim sowohl als in der Öffentlichkeit. Es strafen und züchtigen aber alle Menschen diejenigen, die nach ihrer Meinung unrecht getan haben, insbesondere auch deine Mitbürger, die Athener. Und so gehören nach dieser Darlegung auch die Athener zu denen, die glauben, die Tugend könne erworben und gelehrt werden. Daß also deine Mitbürger mit Recht auch den Rat eines Schmiedes und Schusters im öffentlichen Leben annehmen, und daß sie der Überzeugung sind, die Tugend könne gelehrt und erworben werden, das ist dir, lieber Sokrates, meines Erachtens hinreichend nachgewiesen.
Kap. 14. (Gekürzt.) Es ist nun noch die schwierige Frage übrig, die du betreffs der tüchtigen Männer aufwirfst, warum denn die im Staate hervorragenden Männer ihre Söhne in anderen Dingen, bei denen es auf Lehrer ankommt, unterrichten und darin weise machen, jedoch in der Tugend, in der sie selber tüchtig sind, ihnen keinen Vorzug vor irgend einem andern verschaffen. Betrachte die Sache in folgender Weise: Gibt es etwas oder nicht, woran alle Bürger teilhaben müssen, wenn überhaupt der Staat bestehen soll? Hierauf und auf nichts anderem beruht die Lösung der Schwierigkeit, die du hervorhebst. Es gibt etwas dieser Art, was wir mit dem einen Worte Mannestugend nennen wollen, und an diesem Einen müssen alle teilhaben, die im Staate leben wollen, und wer nicht daran teil hat, mag es nun ein Kind oder ein Mann oder ein Weib sein, den muß man belehren und strafen, bis er durch Strafe besser geworden ist; wer aber trotz Strafe und Belehrung nicht hört, den muß man aus dem Staate verbannen oder töten. Und dieses Eine ist, wie wir nachgewiesen haben, lehrbar und wird auch allgemein dafür gehalten. Und da lassen die hervorragenden Staatsmänner ihre Söhne in allem anderen unterrichten, worauf nicht der Tod als Strafe gesetzt ist, wenn sie es nicht kennen, in dem aber, worauf für ihre Söhne Tod und Verbannung steht, wenn sie es nicht gelernt haben und nicht dazu erzogen sind, lassen sie ihre Söhne nicht unterrichten und daraus verwenden sie nicht alle Sorgfalt?
Kap. 15. Das sollte man doch meinen, mein Sokrates. Von frühster Kindheit an, solange einer lebt, belehrt und erzieht man ihn. Sobald er versteht, was gesagt wird, bemühen sich Wärterin, Mutter, der Pädagoge und der Vater selbst darum, daß der Knabe möglichst gut werde, und bei allem, was er tut und spricht, belehren sie ihn und weisen ihn darauf hin: »Das ist recht, das ist unrecht; das gut, das schlecht; das fromm, das gottlos; das tu, das tu nicht!« Und wenn er willig gehorcht, dann ist es ja gut, wo nicht, so richten sie ihn wie ein Bäumchen, das sich verbiegt und krümmt, mit Drohungen und Schlägen gerade. Wenn sie die Knaben dann in die Schule schicken, so legen sie den Lehrern weit mehr ans Herz, auf wohlanständiges Verhalten Fleiß zu verwenden als auf Lesen und Schreiben, Gesang und Saitenspiel. Und die Lehrer geben sich damit Mühe, und wenn die Knaben Lesen gelernt haben, und man erwarten kann, daß sie nun Geschriebenes verstehen wie früher das gesprochene Wort, dann legen sie ihnen zum Lesen die Gedichte guter Dichter auf die Schulbänke und nötigen sie dazu, sie auswendig zu lernen, Gedichte, die viele moralische Sentenzen enthalten und viele Schilderungen, Lobpreisungen und Verherrlichungen von tüchtigen Männern der alten Zeit, auf daß der Knabe ihnen nacheifere und darnach trachte, ebenso zu werden. Auch die Musiklehrer verfahren in ähnlicher Weise, sie halten auf Sittsamkeit und sehen darauf, daß die Schüler nichts Böses tun, und haben diese Gesang und Saitenspiel gelernt, so geben sie ihnen Gedichte guter lyrischer Dichter auf, die sie in Musik sehen, und sie dringen darauf, daß Rhythmen und Harmonien heimisch werden in den Seelen der Knaben, damit diese milder werden und durch größere innere Ebenmäßigkeit und Harmonie geschickt zu Wort und Tat. Denn das ganze Leben des Menschen bedarf der rechten ebenmäßigen und harmonischen Gestaltung. Außerdem schicken sie ihre Söhne auch noch zum Lehrer der Gymnastik in die Schule, damit sie, ausgestattet mit tüchtigeren Körpern, edle Entschlüsse ausführen können und nicht durch die schlechte Beschaffenheit ihres Leibes genötigt sind, in Kämpfen und bei sonstigen Aufgaben des Lebens sich feig zurückzuziehen. Das tun namentlich die, die die meisten Mittel dazu haben, und das sind die Reichsten. Ihre Söhne besuchen die Schule im frühesten Lebensalter und verlassen sie am spätesten. Sind sie von der Schule befreit, dann nötigt sie wiederum der Staat, die Gesetze kennen zu lernen und nach ihnen zu leben, damit sie nicht nach eigenem Gutdünken aufs Geratewohl handeln, sondern geradeso wie die Lehrer den Kindern, die noch nicht schreiben können, Schriftzüge mit dem Griffel vorschreiben und ihnen dann die Tafel hingeben und sie nötigen, nach Anleitung dieser Züge zu schreiben, ebenso hat der Staat Gesetze vorgezeichnet, Erfindungen guter Gesetzgeber aus der alten Zeit, und nötigt sie, nach diesen zu regieren und sich regieren zu lassen, und wer sie überschreitet, den züchtigt der Staat, und diese Züchtigung hat bei euch und an vielen anderen Orten, indem die Strafe als etwas angesehen wird, was zur Rechenschaft zieht, den Namen Rechenschaft. Während nun die Sorge für die Tugend im privaten und im öffentlichen Leben so groß ist, fragst du verwundert und bist in Ungewißheit, ob die Tugend lehrbar ist? Doch hierüber darf man sich nicht wundern, sondern es wäre weit wunderbarer, wenn sie nicht lehrbar wäre.