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6. Die Grundzüge des Platonischen Staatsideals

Timäus Kap. 1. Steph. III, pag. 17 A-19 A.

Personen des Gesprächs: Sokrates; Timäus.

Ort: Unbestimmt.

Zeit: Das Jahr 410 v.Chr.

Sokrates hatte Timäus, Kritias, Hermokrates und einen vierten ungenannten Freund durch die Darlegung seiner Gedanken über den besten Staat sehr erfreut. Daher hatten diese beschlossen, ihm ihrerseits gewissermassen eine Gegenbewirtung für das ihnen bereitete philosophische Mahl zu gewähren. Sie kommen also am folgenden Tage mit ihm zusammen mit Ausnahme des ungenannten Freundes, der durch Unwohlsein ferngehalten wurde. Bevor sie in das neue Gespräch eintreten, wiederholt Sokrates die Grundzüge seiner tags vorher entwickelten Lehre von der besten Staatsverfassung.

Kap. 1. Sokrates. Einer, zwei, drei! Wo aber bleibt uns, mein lieber Timäus, der vierte der gestrigen Gäste, die heute die Wirte sein sollen?

Timäus. Irgendwelches Unwohlsein hat ihn befallen, mein Sokrates; denn freiwillig ist er dieser Zusammenkunft nicht fern geblieben.

Sokr. Fällt da nicht dir und den mit dir Erschienenen die Aufgabe zu, für den Abwesenden einzutreten?

Tim. Zweifellos, und soweit es in unsern Kräften steht, werden wir es an nichts fehlen lassen; es wäre auch gar nicht recht, wollten wir drei noch übrigen, die wir gestern von dir sehr anständig bewirtet worden sind, deine Gastlichkeit nicht mit Freuden erwidern.

Sokr. Erinnert ihr euch noch an alles, was und worüber ich euch zu sprechen aufgab?

Tim. Zum Teil haben wir es noch im Gedächtnisse, das aber, was uns entschwunden ist, uns in die Erinnerung zurückzurufen, dazu haben wir ja dich. Oder, wenn es dir nicht zuviel ist, gehe es lieber von Anfang an noch einmal in der Kürze durch, damit es sich bei uns noch mehr befestige.

Sokr. Das soll geschehen. Den Hauptinhalt meiner gestrigen Erörterungen über den Staat bildete wohl die Darlegung meiner Ansicht über die Gestaltung und Zusammensetzung des besten Staates.

Tim. Jawohl, mein Sokrates, und wir alle mußten deiner Darstellung vollkommen beistimmen.

Sokr. Schieden wir nicht in dem Staate zunächst die Klasse der Bauern und alle anderen Gewerbe von dem Stande derer, die für ihn kämpfen sollen?

Tim. Gewiß.

Sokr. Und indem wir naturgemäß einem jeden nur einen einzigen ihm allein angemessenen Beruf zuwiesen, erklärten wir, daß folglich auch diejenigen, die für alle kämpfen sollten, nur Hüter des Staates sein dürften, möchten nun Ausländer oder auch Einheimische kommen, um ihn zu schädigen, mild als Richter über die von ihnen Regierten, da sie ihre natürlichen Freunde sind, aber hart im Kampfe gegen die Feinde, die ihnen entgegentreten.

Tim. So ist es.

Sokr. Denn wir sagten, denk' ich, die Seele der Wächter müsse ihrer Natur nach feurig sein und zugleich in besonderem Maße dem Wesen des Philosophen entsprechen, um in der rechten Weise gegen beide Teile mild und hart verfahren zu können.

Tim. Jawohl.

Sokr. Und was sagten wir von ihrer Erziehung? Sagten wir nicht, sie müßten in Gymnastik, Musik und in allen Wissenschaften, die solchen zukommen, unterrichtet sein?

Tim. Ganz gewiß.

Sokr. Von den so Erzogenen aber sagten wir doch wohl, sie dürften weder Gold, noch Silber, noch sonst eine Habe je als ihr Eigentum betrachten, sondern als Beschützer sollten sie von ihren Schützlingen für ihre Obhut Sold erhalten, so viel als für mäßige Männer gerade genug ist, und sie sollten ihn gemeinsam verbrauchen und in Tischgenossenschaft ein gemeinschaftliches Leben führen, frei von allen anderen Geschäften, nur immer auf die Tugend bedacht.

Tim. Auch das wurde so gesagt.

Sokr. Und so gedachten wir denn auch der Frauen, daß die ihrer Natur nach den Männern ähnlichen diesen beigeordnet und alle Aufgaben im Kriege wie im übrigen Leben allen gemeinsam mit den Männern gestellt werden müßten.

Tim. Auch das wurde so gesagt.

Sokr. Was wurde aber über die Erzeugung von Kindern gesagt? Das war doch wohl wegen der ungewöhnlichen Bestimmungen leicht zu behalten, daß wir nämlich Ehen und Kinder und alles, was damit zusammenhängt, für alle gemeinschaftlich machten, darauf bedacht, daß niemals einer die von ihm Entsprossenen als seine eigenen Kinder herausfinden sollte, sondern alle sollten alle anderen als Blutsverwandte betrachten, als Schwestern und Brüder, soweit sie innerhalb des entsprechenden Zeitabschnittes geboren würden, die aber vorher und noch weiter zurück Geborenen als Eltern und Großeltern und die in absteigender Linie Geborenen als Kinder und Kindeskinder.

Tim. So ist es, und das war aus dem von dir angegebenen Grunde leicht zu behalten.

Sokr. Erinnern wir uns nicht auch des Folgenden? Damit sie sogleich von so trefflicher Beschaffenheit als nur möglich geboren würden, sollten die Vorsteher und Vorsteherinnen des Staates für die eheliche Paarung durch eine Art von Losung es so einrichten, daß die Schlechten und die Guten voneinander gesondert, beide mit Frauen von der gleichen Beschaffenheit wie sie selbst zusammenkämen, und daß deswegen kein Groll in ihnen sich regte, sondern sie in dem Zufälle den Grund für die Zusammenstellung der Paare erblickten.

Tim. Das wissen wir noch recht wohl.

Sokr. Gewiß auch das, daß die Kinder der Guten zu künftigen Hütern des Staates erzogen, die Kinder der Schlechten aber heimlich unter die übrige Bürgerschaft verteilt werden sollten. Die Regierenden sollten jedoch die Heranwachsenden im Auge behalten und sollten von den der Bürgerschaft Eingereihten diejenigen, die es verdienten, wieder in ihren früheren Stand zurückführen, dagegen von den im Kreise der Krieger Aufwachsenden die Unwürdigen an Stelle jener wieder Emporrückenden in die Bürgerschaft versehen.

Tim. So ist es.

Sokr. Haben wir nun unsere ganze gestrige Erörterung in ihren Hauptzügen wiederholt, oder vermissen wir noch irgend einen Punkt, der übergangen wurde?

Tim. Keineswegs, sondern eben das war der Inhalt der gestrigen Erörterungen.

Dieser zusammenfassenden Darstellung von den Grundzügen des Platonischen Staatsideals muss noch Folgendes hinzugefügt werden.

Die Philosophen sind die wahren Lenker der Staaten

Staat V. Kap. 18. Stephanus II, pag. 473 C-E.

Sokrates erzählt seine Unterredung mit Glaukon. Über Ort und Zeit s. S. 90

Kap. 18. Sokrates. »Auf das nun will ich losgehen, was wir der gewaltigsten Woge verglichen. Das soll nun doch gesagt werden, wenn auch schallendes Gelächter und Hohn uns wie ein Wogenschwall überschütten wird. Merk aber auf das, was ich sagen will.« – »Sprich«, antwortete er. – »Wenn nicht«, fuhr ich fort, »die Philosophen in den Staaten Könige werden, oder die, die jetzt Könige und Gewalthaber heißen, wahre und vollkommene Philosophen, und wenn nicht das in eines zusammenfällt, staatliche Gewalt und Philosophie, und die vielen talentvollen Männer, die sich jetzt nur dem einen von beiden zuwenden, mit Gewalt von der politischen Tätigkeit fern gehalten werden, so gibt es, mein lieber Glaukon, kein Ende des Unglücks für die Staaten und, wie ich denke, auch nicht für das ganze Geschlecht der Menschen. Auch dieses Staatswesen, das wir jetzt dargestellt haben, wird gewißlich niemals früher in den Bereich der Möglichkeit treten. Aber das ist es, was mir schon lange Scheu einflößt, dies auszusprechen, daß ich sehe, wie sehr eine solche Behauptung mit der herrschenden Ansicht in Widerspruch stehen wird; denn es ist schwer einzusehen, daß sonst niemand glücklich werden kann, weder im privaten noch im öffentlichen Leben.«


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