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In Athen folgte die Hinrichtung gewöhnlich bald auf das Todesurteil. Bei Sokrates musste sie verschoben werden. Am Tage vor der Verurteilung war das Schiff bekränzt worden, das die Festgesandtschaft nach Delos tragen sollte, zur Erinnerung an die durch Theseus bewirkte Errettung der sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen, die zum Opfer für den Minotaurus bestimmt gewesen waren. Von dieser Bekränzung des Staatsschiffes an bis zu seiner Rückkehr durfte keine Hinrichtung stattfinden. So blieb Sokrates dreissig Tage im Gefängnisse. Während dieser Zeit kamen seine Freunde täglich zu ihm und unterhielten sich mit ihm in der gewohnten Weise. Zugleich bereiteten sie seine Flucht aus dem Gefängnisse vor und drangen in ihn, darein zu willigen. Namentlich war Kriton, sein Alters- und Gaugenosse, bis zuletzt bemüht, den Freund zu retten. Darum heisst nach ihm das Gespräch, in dem Plato die Frage behandelt, ob Sokrates aus dem Gefängnisse fliehen durfte.
Übersicht über den Inhalt des Dialogs
Kriton kommt beim ersten Morgengrauen zu Sokrates ins Gefängnis und meldet ihm, das Schiff, das die Festgesandtschaft nach Delos gebracht habe, werde noch am selbigen Tage nach Athen zurückkehren, und so werde er am nächsten Tage sterben müssen. Sokrates glaubt nach einem Traume, den er eben gehabt, das Schiff werde erst am folgenden Tage ankommen. Kriton bittet ihn, in die von den Freunden für die nächste Nacht vorbereitete Flucht aus dem Gefängnisse zu willigen. Er werde, so führt er aus, sonst des trefflichsten Freundes beraubt, wie er ganz gewiss keinen wieder finden würde. Auch würden viele von ihm sagen, das Geld habe ihm höher gestanden als der Freund, den er leicht habe retten können, wenn er nur Geld habe aufwenden wollen. Sokrates' Bedenken sind unbegründet. Kein Grund ist die Sorge, dass die Freunde durch seine Flucht in Gefahr kommen, denn es ist die Pflicht der Freunde, um seiner Rettung willen Gefahren auf sich zu nehmen. Die Opfer, die die Freunde zu bringen haben, sind nicht gross. Für wenig Geld wollen ihn Leute aus dem Gefängnisse entführen. Auch die Sykophanten sind wohlfeil, und ausserdem sind viele bereit, zu den Kosten beizusteuern. Unbegründet ist auch das Bedenken wegen seiner eigenen Person, dass er nach seiner Flucht nicht wissen werde, was er mit sich anfangen solle. Die Flucht ist für Sokrates eine Pflicht, denn wenn er nicht flieht, so fördert er nur die Absicht seiner Feinde, ihn zu verderben, und verletzt er seine Pflichten als Vater, indem er seine Kinder ruhig ihrem Schicksale überlässt. Schliesslich ist seine Flucht für ihn und die Freunde Ehrensache. Es macht ihnen schon jetzt keine Ehre, dass sie es aus Feigheit und Unmännlichkeit haben so weit kommen lassen, wenn aber noch die Gelegenheit zur Flucht verabsäumt wird, so setzt das der Lächerlichkeit die Krone auf. Hierauf entgegnet Sokrates folgendes: Für die Entscheidung der vorliegenden Frage ist nicht das Urteil der Menge massgebend. Wer diesem folgt, der schädigt Leib und Seele und bewirkt so, dass sein Leben aufhört, lebenswert zu sein. Massgebend ist der durch vernünftige Erwägungen festgestellte Satz, dass nicht das Leben das höchste der Güter ist, sondern das wahrhaft gute Leben. Gut aber und schön und gerecht leben ist ein und dasselbe. Da also das wahrhaft gute Leben auf der Gerechtigkeit beruht, so muss gefragt werden, ob es gerecht ist, wenn Sokrates flieht, oder nicht. Erwägungen über den Aufwand von Geld, über die Ehre und die Erziehung der Kinder dabei anzustellen, ist die Weise der grossen Menge. In dem Begriffe der Gerechtigkeit liegt, dass wir unter keinen Umständen unrecht tun, also auch nicht Unrecht mit Unrecht und Böses mit Bösem vergelten dürfen, und dass wir eingegangenen Verpflichtungen nachkommen müssen. Demnach schliesst die Frage, ob Sokrates recht handelt, wenn er flieht, die beiden Fragen in sich: 1. Fügt Sokrates, wenn er flieht, irgendwem Böses zu, und zwar dem, dem er es am wenigsten sollte? 2. Bleibt er den von ihm eingegangenen Verpflichtungen treu? Die Antwort auf diese beiden Fragen ist: Durch seine Flucht richtet Sokrates, soviel an ihm liegt, Gesetze, Staat und Vaterland zugrunde, die doch seine grössten Wohltäter sind und die er höher zu schätzen und mehr zu scheuen hat als Vater und Mutter, und zweitens bricht er durch seine Flucht den mit dem Staate geschlossenen Vertrag, und zwar in ganz besonderem Masse.
Auch um der Folgen willen darf Sokrates nicht fliehen, denn seine Freunde kommen dadurch in die grösste Gefahr, verbannt zu werden oder ihr Vermögen zu verlieren, er selbst wird in der Verbannung ein trauriges und unwürdiges Dasein führen, und seinen Kindern wird seine Flucht eher schaden als nützen.
Die Stimme der Gerechtigkeit im Innern des Sokrates übertönt alles andere. Kriton weiss nichts mehr zu sagen. Sokrates will den Weg gehen, den Gott ihn führt.
Kriton Kap. 9-17. Stephanus I, pag. 48 B-54 E.
Personen des Gesprächs: Sokrates; Kriton, der gute Freund und Altersgenosse des Sokrates. Auch werden die Gesetze des athenischen Staates von Sokrates redend eingeführt.
Ort der Handlung: Das Staatsgefängnis in Athen.
Zeit: Das Jahr 399 v. Chr.
Kap. 9. Sokrates. Auf Grund der gewonnenen Übereinstimmung müssen wir erwägen, ob es gerecht ist oder nicht, wenn ich versuche, ohne die Einwilligung der Athener von hier fortzugehen, und wenn es uns als gerecht erscheint, so wollen wir es versuchen, im anderen Falle es lassen. Was du aber über den Aufwand von Geld, den guten Ruf und die Erziehung der Kinder vorbringst, das sind wohl, mein Kriton, Erwägungen von solchen, die leicht töten und, wenn sie nur könnten, wieder ins Leben zurückrufen würden, ohne alle Vernunft, Erwägungen der großen Menge. Wir aber müssen gemäß vernünftiger Überlegung nur das eine ins Auge fassen, ob es recht von uns ist, denen, die mich von hier fortbringen sollen, Geld zu zahlen und Dank zu zollen, und daß du mich befreist und ich mich befreien lasse, oder ob wir damit unrecht tun, und wenn es sich zeigt, daß wir damit unrecht tun, so dürfen wir gewißlich den Tod und alles, was wir etwa sonst erleiden müssen, falls wir ruhig hier bleiben, nicht mehr in Anschlag bringen als die Ungerechtigkeit unseres Tuns.
Kriton. Auch mich dünkt das ganz richtig, mein Sokrates. Sieh nun zu, was wir tun sollen.
Sokr. Laß uns die Sache gemeinsam betrachten, mein Bester, und wenn du irgendwie in der Lage bist, meine Rede zu widerlegen, so tu es, und ich werde dir folgen, wo nicht, so höre endlich auf, mein trefflichster Freund, dieselbe Rede immer und immer wieder vorzubringen, ich müsse von hier gegen den Willen der Athener fortgehen. Ich lege hohen Wert darauf, mit deiner Zustimmung zu handeln, doch nicht gegen das Recht. Siehe also zu, ob wir eine genügende Grundlage für unsere Betrachtung gewonnen haben, und versuche, meine Fragen nach bestem Wissen zu beantworten.
Krit. Ich will es versuchen.
Kap. 10. Sokr. Meinen wir, daß man in keinem Falle vorsätzlich unrecht tun darf, oder daß man in dem einen Falle wohl unrecht tun darf, in dem anderen aber nicht? Oder ist es unter keinen Umständen weder gut noch schön, unrecht zu tun, wie wir schon in der früheren Zeit wiederholt gemeinsam festgestellt haben? Sind uns denn alle jene früheren Vereinbarungen in diesen wenigen Tagen zerronnen? und wir alten Männer, mein lieber Kriton, haben bei unseren ernsten Gesprächen die ganze lange Zeit über gar nicht gemerkt, daß wir die reinen Kinder sind? Oder steht es durchaus so, wie wir damals sagten: Mag die große Menge zustimmen oder nicht, und mögen wir noch Schwereres als das Gegenwärtige oder auch Milderes zu erdulden haben, so bleibt das Unrecht gleichwohl für den, der es tut, unter allen Umständen ein Übel und eine Schande? Ja oder nein?
Krit. Ja.
Sokr. Unter keinen Umständen also darf man unrecht tun?
Krit. Gewiß nicht.
Sokr. So darf man auch nicht Unrecht mit Unrecht vergelten, wie die meisten Menschen glauben, da man unter keinen Umständen unrecht tun darf?
Krit. Es scheint nicht so.
Sokr. Wie denn nun? Darf man Böses tun, mein Kriton, oder nicht?
Krit. Man darf doch wohl nicht.
Sokr. Wie aber? Ist es recht. Böses mit Bösem zu vergelten, wie die große Menge sagt, oder ist es nicht recht?
Krit. Unter keinen Umständen.
Sokr. Gewiß, denn den Menschen Böses zufügen ist doch wohl nichts anderes als ihnen unrecht tun?
Krit. So ist es.
Sokr. Also darf man niemals seinen Mitmenschen Unrecht mit Unrecht vergelten noch ihnen Böses zufügen, sie mögen einem getan haben, was sie wollen. Siehe zu, mein Kriton, daß du nicht mit diesem Zugeständnisse etwas zugestehst, was gegen deine Überzeugung ist. Denn ich weiß, daß nur ganz wenige diese Überzeugung haben und haben werden. Zwischen denen nun, die diese Überzeugung haben, und denen, die sie nicht haben, gibt es keine Verständigung, sondern die müssen einander verachten, wenn sie ihre beiderseitige Handlungsweise sehen. Daher siehe auch du wohl zu, ob du zustimmst und derselben Ansicht bist, und ob wir das zum Ausgangspunkte unserer Erwägungen machen sollen, daß es niemals richtig ist, unrecht zu tun, noch Unrecht mit Unrecht oder Böses mit Bösem zu vergelten, oder ob du von diesem Grundsatze dich lossagst und nichts von ihm wissen willst. Ich habe diese Überzeugung nach wie vor, wenn du aber irgendwelche andere Überzeugung hast, so sage es und belehre mich darüber. Verharrst du aber bei der vorigen, so höre nun das Weitere.
Krit. Ich verharre dabei und teile deine Überzeugung. Darum sprich!
Sokr. Ich gehe also zu dem Folgenden über, vielmehr ich frage: Muß man das, was man einem als gerecht zugestanden hat, tun oder darf man wortbrüchig werden?
Krit. Man muß es tun.
Kap. 11. Sokr. Von hier aus also halte Umschau. Wenn wir ohne die Einwilligung der Stadt von hier fortgehen, fügen wir da irgendwelchen Böses zu, und zwar denjenigen, die es am wenigsten verdienen, oder nicht? und verharren wir bei dem, was wir als gerecht anerkannt haben, oder nicht?
Krit. Ich weiß auf deine Frage nicht zu antworten, denn ich verstehe sie nicht.
Sokr. Betrachte die Sache folgendermaßen! Wenn wir von hier fortlaufen wollten, oder wie man das nun nennen soll, und die Gesetze und der Staat kämen, träten an uns heran und fragten: »Sage mir, Sokrates, was willst du tun? Es ist doch wohl deine Absicht, mit der Tat, die du vorhast, uns Gesetze und den ganzen Staat, soviel an dir liegt, zugrunde zu richten? Oder hältst du es für möglich, daß ein Staat weiterbesteht und nicht dem Untergange verfallen ist, in dem die gefällten Urteile keine Kraft haben, sondern von Privatleuten wirkungslos gemacht und aufgehoben werden?« Was werden wir auf solche und ähnliche Worte sagen? Denn vieles kann einer, zumal ein Redner, für das Gesetz, das die gefällten Richtersprüche für rechtskräftig erklärt, vorbringen, im Falle es abgeschafft werden soll. Werden wir etwa zu ihnen sagen: »Der Staat hat uns ja unrecht getan und hat nicht recht gerichtet?« Werden wir das sagen oder was sonst?
Krit. Das bei Zeus, mein Sokrates.
Kap. 12. Sokr. Wie nun, wenn die Gesetze sagten: »Sokrates, ist denn wirklich eine solche Vereinbarung zwischen dir und uns getroffen, oder eine Vereinbarung, daß wir bei den richterlichen Entscheidungen des Staates verbleiben sollen?« Wenn wir uns nun über ihre Rede verwunderten, so würden sie wohl sagen: »Sokrates, wundere dich nicht über unsere Rede, sondern antworte! besteht doch deine gewohnte Weise der Unterredung in Frage und Antwort. Sprich, was hast du denn uns und dem Staate vorzuwerfen, daß du darangehst, uns zugrunde zu richten? Sind wir es erstens nicht, die dich zur Welt gebracht haben, und hat nicht dein Vater durch uns deine Mutter bekommen und dich gezeugt? Sage also, kannst du den Gesetzen von uns, die sich auf die Ehen beziehen, irgendwie vorwerfen, daß sie nicht gut sind?« – »Das kann ich nicht«, müßte ich antworten. – »Aber den Gesetzen, die die leibliche und geistige Erziehung des Kindes betreffen, in der auch du herangebildet worden bist, kannst du etwas vorwerfen? Gaben die von uns, die hierüber gesetzt sind, keine schöne Weisung, wenn sie deinem Vater auftrugen, dich in den musischen Künsten und in der Gymnastik zu erziehen?« – »Gewiß«, würde ich antworten. – »Nun gut! Nachdem du geboren, aufgezogen und herangebildet worden bist, kannst du da sagen, daß du nicht unser Kind und Diener warst, du selbst und deine Vorfahren? Und wenn sich das so verhält, meinst du das gleiche Recht zu haben wie wir, und hältst es für gerecht, uns das wieder zu tun, was wir dir zu tun uns anschicken? Also während dir deinem Vater und deinem Herrn gegenüber, wenn du einen hattest, nicht das gleiche Recht zustand, das, was dir widerfuhr, auch wieder zu tun, gescholten, wieder zu schelten, und geschlagen wieder zu schlagen, da wirst du wohl dem Vaterlande und den Gesetzen gegenüber das gleiche Recht haben, und wirst also, wenn wir dich zu verderben beabsichtigen, weil wir es für gerecht halten, dich unterfangen, soweit es in deiner Macht steht, uns, die Gesetze, und das Vaterland wieder zu verderben, und wirst behaupten, daran recht zu tun, du wahrer Tugendheld? Reicht denn deine Weisheit nicht weiter, und ist es dir verborgen geblieben, daß das Vaterland wertvoller ist als Vater und Mutter und die übrigen Vorfahren insgesamt, und ehrwürdiger und heiliger und höher angesehen bei Göttern und vernünftigen Menschen? Muß man nicht das Vaterland mehr scheuen und ihm sich mehr fügen, und wenn es zürnt, ihm mehr gute Worte geben als seinem Vater, und es entweder überzeugen oder tun, was es befiehlt, und wenn es uns etwas zu dulden auferlegt, stillhaltend es dulden, mögen es Schläge oder Fesseln sein? Und wenn es uns in den Krieg führt, in Wunden und Tod, ist es da nicht unsere Pflicht, ihm zu gehorchen und nicht zu weichen, noch zurückzugehen, noch seinen Platz zu verlassen? Weißt du nicht, daß man im Kriege und vor Gericht und überall tun muß, was Staat und Vaterland gebieten, oder daß wir es in der rechten Weise überzeugen müssen, daß es aber nicht fromm ist, Vater und Mutter Gewalt anzutun und noch weit weniger als diesen dem Vaterlande?« – Was werden wir darauf sagen? Haben die Gesetze damit recht oder nicht?
Krit. Ich denke, sie haben recht.
Kap. 13. Sokr. »Erwäge demnach, Sokrates«, dürften wohl die Gesetze sagen, »ob wir damit die Wahrheit reden, daß das nicht recht ist, was du jetzt an uns zu tun beabsichtigest. Denn wir, die wir dich zur Welt gebracht, auferzogen, herangebildet und dir und allen anderen Bürgern teilgegeben haben an allem Schönen, woran wir nur konnten, erklären gleichwohl durch die Erlaubnis, die wir dazu gegeben haben, vor aller Welt, es solle jedem Athener, der will, nachdem er in die Zahl der Bürger aufgenommen ist und die Verhältnisse im Staate und die Gesetze kennen gelernt hat, freistehen, wenn wir ihm nicht gefallen, mit Hab und Gut zu gehen, wohin er will. Und mag nun einer von euch, dem wir und der Staat nicht gefallen, in eine Kolonie gehen, oder mag er irgendwo sonst als Schutzverwandter leben wollen, so verwehrt es ihm kein Gesetz, hinzugehen, wohin er will, mit allem, was er hat. Wer aber von euch sieht, in welcher Weise wir des Rechtes walten und im übrigen das Leben im Staate regeln, und doch bleibt, von dem erklären wir, daß er uns durch die Tat angelobt hat, er werde unsere Gebote erfüllen, und wer uns dann nicht gehorcht, der tut, so sagen wir, dreifach unrecht: weil er uns, seinen Erzeugern, uns, seinen Erziehern, nicht gehorcht, und während er angelobt hat, er werde ganz gewiß gehorchen, weder gehorcht noch uns überzeugt, wo wir etwas nicht richtig machen. Wir legen ja die Entscheidung in eure Hand und befehlen nicht schroff die Ausführung unserer Gebote, sondern wir stellen es frei, entweder uns zu überzeugen oder nach unserem Willen zu handeln, und doch tut er keines von beidem.«
Kap. 14. »Diese Anklagen werden auch dich treffen, Sokrates, im Falle du tust, was du im Sinne hast, und dich nicht am wenigsten von den Athenern, sondern in erster Linie.« Wenn ich nun sage: »Warum denn das?« so werden sie mit Recht mich hart anlassen und werden sagen, daß ich vor allen anderen Athenern dieses Versprechen gegeben habe. Sie werden nämlich sagen: »Sokrates, vollgültige Beweise haben wir dafür, daß wir und der Staat dir gefielen, denn nun und nimmermehr würdest du unter allen Athenern ganz besonders in ihm weilen, wenn er dir nicht ganz besonders gefiele. Bist du doch weder je zu einer Festschau aus der Stadt gegangen noch sonst wohin, außer wenn du mit zu Felde zogst, noch hast du sonst eine Reise ins Ausland unternommen wie andere Menschen, und hast auch nicht Verlangen getragen, eine andere Stadt und andere Gesetze kennen zu lernen, sondern wir und unser Staat genügten dir. So sehr zogst du uns vor und gelobtest du, im öffentlichen Leben dich nach uns zu richten, und du hast auch Kinder in unserer Stadt gezeugt, ein Beweis dafür, daß dir der Staat gefiel. Außerdem stand es dir gleich bei dem Prozesse frei, Verbannung zu beantragen, wenn du wolltest, und dann mit Zustimmung der Stadt zu tun, was du jetzt wider ihren Willen zu tun beabsichtigst. Damals aber tatest du groß, als ob dir der Tod gar nichts wäre, und wähltest, wie du sagtest, lieber den Tod als Verbannung. Jetzt aber schämst du dich vor jenen Reden nicht und kehrst dich auch an uns Gesetze nicht, sondern suchst uns zu verderben, und tust, was der gemeinste Sklave tun würde, suchst davonzulaufen gegen die Verträge und Vereinbarungen, denen im öffentlichen Leben nachzukommen du uns gelobt hast. Zuerst nun beantworte uns die Frage: Ist es wahr oder nicht, daß du uns durch dein tatsächliches Verhalten und nicht bloß mit Worten gelobt hast, du wolltest im öffentlichen Leben dich nach uns richten?« – Was sollen wir darauf sagen, mein Kriton? Wir müssen es doch wohl zugeben?
Krit. Ganz unbedingt, lieber Sokrates.
Sokr. »Übertrittst du nun damit nicht«, werden sie fortfahren, »deine Verträge und Vereinbarungen mit uns, obwohl du sie nicht gezwungen getroffen hast, und auch nicht hintergangen noch genötigt, in kurzer Zeit dich zu entschließen, sondern in einem Zeitraume von siebzig Jahren, in welchem es dir freistand, fortzugehen, wenn wir dir nicht gefielen und die Vereinbarungen dir nicht gerecht erschienen? Du zogst aber weder Lakedämon noch Kreta vor, deren gute Verfassung du ja bei jeder Gelegenheit rühmst, noch sonst einen Staat der Griechen oder Barbaren, sondern hast dich von hier seltener entfernt als Lahme und Blinde und andere Gebrechliche. So ausnehmend gefielen dir Staat und Gesetze. Und nun willst du doch der Vereinbarung nicht treu bleiben? Wenn du auf uns hörst, wirst du es tun, Sokrates, und wirst dich nicht durch Entweichen aus der Stadt lächerlich machen.«
Kap. 16. »Drum gehorche uns, Sokrates, da wir dich auferzogen haben, und schätze nicht deine Kinder oder dein Leben oder sonst etwas höher als die Gerechtigkeit, damit du, in den Hades gekommen, das alles vor denen, die dort gebieten, zu deiner Verteidigung vorbringen kannst. Denn das zu tun, wozu Kriton rät, scheint weder hier in Hinsicht auf dich oder einen der Deinigen gut oder gerecht und gottwohlgefällig zu sein, noch wird es im Hades für dich gut sein, wenn du dorthin kommst. Wenn du jetzt abscheidest, so wirst du scheiden, nicht von uns, den Gesetzen, ungerecht behandelt, sondern von Menschen. Wenn du aber fortläufst und in so schändlicher Weise Unrecht mit Unrecht und Böses mit Bösem vergiltst, indem du deine mit uns geschlossenen Vereinbarungen und Verträge übertrittst und denen Böses zufügst, denen du es am wenigsten solltest, dir, deinen Freunden, dem Vaterland und uns, so werden wir dir zürnen, solange du lebst, und unsere Brüder, die Gesetze im Hades, werden dich dort nicht gnädig aufnehmen, da sie wissen, daß es deine Absicht gewesen ist, auch uns zu verderben, soweit du konntest. Darum möge Kriton dich in deinem Handeln nicht mehr bestimmen als wir.«
Kap. 17. Solches, mein lieber Freund, glaube ich zu hören, gleichwie die korybantisch Verzückten die Flöten, und in mir dröhnt der Schall dieser Reden und seht mich außerstande, andere Reden zu vernehmen. Drum wisse, wenn du dagegen sprichst, so wird deine Rede, wenigstens soweit ich es jetzt ermessen kann, vergeblich sein. Gleichwohl sprich, wenn du etwas ausrichten zu können vermeinst.
Krit. Mein Sokrates, ich habe nichts weiter zu sagen.
Sokr. Laß es also, mein lieber Kriton, und laß uns den Weg gehen, den uns die Gottheit führt.