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Protagoras Kap. 8 u. 9. Stephanus I, pag. 316 B-319 A.
Personen des Gesprächs: Protagoras aus Abdera in Thrakien, der Begründer der Sophistik; Sokrates.
Kap. 8. Sokrates. Als wir nun eingetreten waren, da warteten wir noch ein Weilchen und sahen uns dies alles genau an. Dann traten wir an Protagoras heran, und ich sprach: »Protagoras, zu dir kommen wir, ich und Hippokrates hier.« Er erwiderte: »In der Absicht, euch mit mir allein zu unterreden oder auch in Gegenwart der übrigen?« – »Uns ist das ganz gleich«, entgegnete ich. »Vernimm, weswegen wir gekommen sind, und dann erwäge es selbst.« – »Was ist denn nun der Zweck eures Kommens?« sagte er. – »Hippokrates hier ist ein Kind dieser Stadt, der Sohn des Apollodoros, der Sproß eines großen und reich gesegneten Hauses, und was ihn selbst anlangt, so kann er es bei seinen Gaben wohl mit seinen Altersgenossen aufnehmen. Irre ich nicht, so erfüllt ihn das Verlangen, eine Rolle im Staate zu spielen, und das glaubt er am ersten zu erreichen, wenn er sich dir anschließt. In Hinsicht hierauf sieh du nun zu, ob du meinst, dich hierüber mit uns allein unterreden zu sollen oder in Gegenwart anderer.« – »Das ist sehr recht von dir, mein Sokrates,« erwiderte er, »daß du meinetwegen vorsichtig bist. Denn ein Fremdling, der in große Städte kommt und in diesen die besten unter den jungen Leuten veranlaßt, den Umgang mit allen andern aufzugeben, mit Verwandten und Fremden, mit Älteren und Jüngeren, und sich ihm anzuschließen in der Überzeugung, durch seinen Umgang besser zu werden, ein solcher muß auf seiner Hut sein, denn dadurch wird nicht geringer Neid hervorgerufen und außerdem Feindseligkeiten und Nachstellungen. Ich meinesteils behaupte, daß die sophistische Kunst alt ist, daß aber die Männer aus der alten Zeit, die sich mit ihr befaßten, aus Furcht vor dem Gehässigen, das ihr anhaftet, teils die Poesie zum Vorwand und Deckmantel genommen haben, wie Homer, Hesiod und Simonides, teils Weihen und Weissagungen, wie Orpheus und Musäus und ihre Anhänger. Von einigen habe ich bemerkt, daß sie auch die Gymnastik zu diesem Zweck verwandt haben, wie der Tarentiner Ikkos und Herodikos aus Selymbria, ursprünglich von Megara, der jetzt noch lebt und als Sophist seinesgleichen sucht. Die Musik aber hat euer Landsmann Agathokles zum Deckmantel genommen, der ein großer Sophist ist, ebenso Pythokleides von Keos und viele andere. Diese alle haben, wie gesagt, aus Furcht vor Mißgunst diese Künste als Aushängeschild gebraucht. Ich teile aber in dieser Hinsicht ihren Standpunkt gar nicht. Meines Erachtens haben sie ihren Zweck in keiner Weise erreicht, denn die einflußreichen Männer in den Staaten haben es wohl gemerkt, und gerade um ihretwillen werden doch solche Vorwände gesucht. Der große Haufe merkt ja fast gar nichts, sondern die Losung, die jene ausgeben, die sagt er nach. Wenn man aber entrinnen will und nicht entrinnen kann, sondern ertappt wird, so liegt schon in dem Versuche eine große Torheit, und das muß die Menschen noch weit feindseliger stimmen; denn einen solchen halten sie zu allem anderen auch noch für einen Schurken. Ich habe nun gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen und bekenne ganz offen, daß ich ein Sophist bin und Menschen erziehe, und halte diese Vorsicht für besser als jene, bekenne es lieber, als daß ich es verleugne. Ich habe mir außerdem auch noch andere Vorsichtsmaßregeln ausgedacht, so daß ich, Gott sei Dank! deswegen, weil ich mein Sophistentum bekenne, nichts Schlimmes zu erdulden habe. Und doch betreibe ich meine Kunst bereits viele Jahre; ist doch auch die Zahl meiner Lebensjahre eine große, und unter euch allen ist keiner, von dem ich nicht dem Alter nach der Vater sein könnte. So ist es mir bei weitem am angenehmsten, wenn es euch recht ist, über diese Dinge in Gegenwart von allen, die im Hause sind, zu sprechen.«
Ich vermutete, daß er es gern Prodikus und Hippias zeigen und sich damit groß tun wollte, daß wir uns als seine Verehrer eingefunden hätten, daher sagte ich: »Wollen wir nicht auch gleich Prodikus und Hippias rufen und die, die bei ihnen sind, damit sie uns zuhören?« – »Ganz unbedingt«, erwiderte Protagoras. – »Ist es euch recht,« sprach Kallias, »daß wir ein Auditorium herrichten, damit ihr bei der Unterredung sitzen könnt?« Man fand es für nötig, und wir waren alle hocherfreut über die Aussicht, weise Männer zu hören, und so legten wir gleich selbst Hand ans Werk und setzten die Bänke und Divans in der Nähe von Lippias zurecht; die Bänke standen nämlich schon da. Inzwischen kamen Kallias und Alkibiades mit Prodikus, der mit ihrer Hilfe sich von seinem Lager erhoben hatte, und mit seinen Zuhörern.
Kap. 9. Als wir nun alle beisammen saßen, hub Protagoras an: »Jetzt, wo nunmehr auch diese Männer zugegen sind, sei so gut, das zu sagen, was du kurz vorher mir gegenüber über diesen Jüngling erwähntest.« Ich erwiderte ihm: »Der Anfang meiner Rede über den Zweck unseres Kommens, o Protagoras, ist genau derselbe wie vorhin. Hippokrates hier trägt großes Verlangen nach deinem Unterrichte, möchte aber gern wissen, welchen Gewinn er sich davon versprechen darf. Das ist es, was ich zu sagen habe.« Protagoras antwortete sofort: »Lieber junger Mann, wenn du dich mir anschließt, wirst du den Gewinn haben, daß du gleich an dem ersten Tage, den du mit mir zusammen gewesen bist, besser geworden nach Hause kommst, und gerade so an dem folgenden Tage, und daß du Tag für Tag regelmäßig zum Bessern fortschreitest.« Darauf erwiderte ich: »Damit sagst du gar nichts Besonderes, Protagoras, sondern das ist ganz natürlich, denn trotz deines Alters und deiner so großen Weisheit würdest du auch besser werden, wenn dich jemand etwas lehrte, was du noch nicht weißt. Drum sprich nicht so, sondern wir wollen die Sache einmal folgendermaßen betrachten: Nimm zum Beispiel an, unser Hippokrates änderte sein Verlangen und suchte den Unterricht des jungen Mannes, der seit kurzem in unsrer Stadt sich aufhält, des Zeuxippos aus Heraklea. Er kommt nun zu ihm ebenso wie jetzt zu dir, und hört von ihm genau dieselben Worte wie von dir, er werde jeden Tag durch das Zusammensein mit ihm besser werden und Fortschritte machen. Wenn er ihn nun weiter fragte: ›Was ist denn das, worin ich besser werden und hinsichtlich dessen ich Fortschritte machen werde‹, so würde Zeuxippos antworten: ›Die Malerei.‹ Und wenn er zu Orthagoras von Theben käme, dieselben Worte von ihm hörte wie von dir und dann weiter fragte: ›Worin werde ich denn täglich durch das Zusammensein mit dir besser werden?‹ so wird er sagen: ›In dem Flötenspiel.‹ So sage denn auch du dem Jünglinge und mir, der ich für ihn die Frage an dich richte: »Inwiefern, o Protagoras, und worin wird Hippokrates hier, wenn er sich an Protagoras anschließt, gleich am ersten Tage des Unterrichtes besser geworden von ihm gehen und an jedem der übrigen Tage in gleicher Weise Fortschritte machen?« Auf diese Worte erwiderte Protagoras: »Das ist eine gute Frage, und es ist mir eine Freude, auf solche Fragen zu antworten. Wenn Hippokrates zu mir kommt, so wird ihm das nicht widerfahren, was ihm widerfahren wäre, wenn er sich irgend einem andern Sophisten angeschlossen hätte, denn die andern behandeln die jungen Leute schlecht. Nachdem diese der Schulweisheit glücklich entronnen sind, führen sie sie wider ihren Willen wiederum zu Schulwissenschaften und zwingen sie ihnen auf und lehren sie Arithmetik, Astronomie, Geometrie, Musik (dabei warf er einen Blick auf Hippias), wenn er aber zu mir kommt, soll er nichts anderes lernen als das, weshalb er gekommen ist. Das Ziel des Unterrichtes aber ist die rechte Einsicht in Sachen des Hauswesens, wie man sein Haus am besten verwaltet, und auf dem Gebiete des Staates, wie man am fähigsten wird, sich an den öffentlichen Angelegenheiten durch Wort und Tat zu beteiligen.« – »Verstehe ich dich recht?« sagte ich. »Du scheinst mir die Staatskunst zu meinen und versprichst, gute Staatsbürger heranzubilden.« – »Gewiß«, erwiderte er, »mein Sokrates, eben das ist es, was ich für meinen Beruf erkläre.«