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Plato wollte sein Volk zu reinerer Erkenntnis und damit zu grösserer Sittlichkeit im privaten wie im öffentlichen Leben und zu wahrer Religiosität erheben. Dieses hohe Ziel suchte er durch Belehrung in Wort und Schrift zu erreichen. Aber in richtiger Auffassung der menschlichen Natur hat er im innigen Zusammenhange mit seiner Lehre seinen Schülern und seinen Lesern ein Beispiel vor die Seele gestellt, dem sie nacheifern sollten. In seinem innigst verehrten Lehrer und Meister sah Plato das Bild des vollkommenen Weisen, und er wollte, dass ihn auch andere in diesem Lichte erblicken und so zur Nacheiferung angetrieben werden sollten. Aber im wesentlichen führt er uns doch den wirklichen Sokrates vor, den er zum Ideale vor allem dadurch erhebt, dass er seine vielen schönen Charaktereigenschaften klar zutage treten lässt. Mag er auch hier und da bei seiner Begeisterung für den geliebten Lehrer und bei seiner dichterischen Anlage die schöne Wirklichkeit in ein noch helleres und reineres Licht gestellt haben, im grossen und ganzen stimmt doch seine Charakteristik mit der Schilderung des nüchternen Xenophon überein, die wir auf S. 20 angeführt haben. Von diesem Gesichtspunkte aus mögen die folgenden Abschnitte betrachtet werden.
Symposion Kap. 32. 33. 35-37. Stephanus III, pag. 215 A-217 A. 219 E-222 A.
Bald nachdem Sokrates die Lehren der weisen Diotima von dem Wesen und den Wirkungen des Eros mitgeteilt hatte, erschien Alkibiades, der berauscht von einem anderen Gelage herkam, um Agathon den Siegerkranz auf das Haupt zu setzen. Er war begleitet von Sklaven, die ihn unterstützten, und von einer Flötenspielerin, und sein Haupt war mit einem dichten Veilchen- und Efeukranze und mit vielen Bändern geschmückt. Mit diesen Bändern bekränzte er Agathon. Als er aber zu seiner Überraschung Sokrates erblickt, da nimmt er einen Teil der Bänder wieder vom Haupte Agathons und schmückt damit das Haupt des Sokrates, der nicht ein einmaliger Sieger sei, sondern immer den Sieg über alle davontrage. Als er ein gewaltiges Trinkgelage in Szene setzen will, mahnt Eryximachos, man möge doch den beschlossenen Redeturnus fortsetzen, damit nicht an die Stelle der Unterhaltung ein wüstes Zechen trete. Die Reihe, eine Rede zu halten, sei jetzt an Alkibiades. Da Alkibiades erklärt, in Gegenwart des Sokrates könne er keinen andern loben als nur diesen, fordert ihn Eryximachos dazu auf. Sokrates widerstrebt anfangs, gibt aber seinen Widerstand auf, als Alkibiades ihm verspricht, er werde nur die Wahrheit sagen, und die Aufforderung hinzufügt, er solle ihn jedesmal unterbrechen, wenn er von ihr abweiche. Hierauf hielt Alkibiades die folgende Lobrede auf Sokrates.
Kap. 32. Alkibiades. Sokrates will ich durch Anwendung eines Gleichnisses zu loben versuchen. Er wird es wohl für Spott halten, aber mein Gleichnis soll der Wahrheit dienen und nicht dem Spotte. Ich behaupte nämlich, daß er die größte Ähnlichkeit mit jenen Silenen in den Werkstätten der Bildhauer hat, die die Meister anfertigen mit Hirtenpfeifen oder Flöten in der Hand, und die, wenn man sie nach beiden Seiten öffnet, in ihrem Innern Götterbilder zeigen. Weiter behaupte ich, daß er dem Satyr Marsyas gleicht. Daß du mit diesen Wesen in der äußeren Erscheinung Ähnlichkeit hast, lieber Sokrates, wirst du wohl selbst nicht bestreiten; inwiefern du aber auch sonst ihnen gleichst, das sollst du gleich hören. Du bist ein übermütiger Schalk. Oder bist du es etwa nicht? Wenn du es nicht zugibst, werde ich Zeugen beibringen. Und bist du nicht ein Tonkünstler? Ganz gewiß, ein viel bewunderungswürdigerer als Marsyas; denn der bezauberte mit Hilfe von Instrumenten die Menschen durch die von seinem Munde ausgehende Kraft, und so macht es auch jetzt noch ein jeder, der seine Weisen aus der Flöte vorträgt. Die Weisen nämlich, die Olympos auf der Flöte spielte, schreibe ich seinem Lehrer Marsyas zu. Mag nun seine Weisen ein ausgezeichneter Flötenspieler oder eine gewöhnliche Flötenspielerin vortragen, sie fesseln in ganz hervorragendem Maße die Zuhörer und offenbaren durch die Wirkung, die das Göttliche, das in ihnen ist, auf die Gemüter der Hörer ausübt, wen von ihnen nach den Göttern und den Weihen verlangt. Du aber unterscheidest dich nur insofern von ihm, als du ohne Instrumente, mit bloßen Worten dieselbe Wirkung hervorbringst. Wenn wir irgend einen anderen, der ein ganz guter Redner ist, andere Reden vortragen hören, so macht das fast auf keinen von uns irgendwelchen Eindruck. Wenn wir aber dich hören oder einen anderen, vielleicht einen ganz unbedeutenden Redner, deine Reden vortragen hören, so sind wir alle, Frauen, Männer und Jünglinge, außer uns und sind wie gebannt. Müßte ich nicht befürchten, von euch für vollkommen betrunken gehalten zu werden, so würde ich es auch mit einem feierlichen Eide bekräftigen, welche Wirkung ich selbst von seinen Reden erfahren habe und auch jetzt noch immer erfahre. Denn wenn ich sie höre, so schlägt mir das Herz heftiger als den Korybanten in ihrer begeisterten Raserei, und meine Tränen fließen in Strömen, und wie ich sehe, ergeht es noch vielen anderen ebenso. Wenn ich Perikles hörte und andere gute Redner, da dachte ich wohl: »Die können schöne Reden halten«, aber einen solchen Einfluß verspürte ich nie, und meine Seele war auch nicht unruhig noch unwillig über die Sklaverei, in der ich mich befand. Aber dieser Marsyas hier hat mich schon oft in eine Stimmung versetzt, daß mir der Gedanke kam: So, wie du bist, kannst du nicht weiterleben. Du wirst nicht sagen können, Sokrates, daß das nicht wahr ist. Und auch jetzt noch bin ich mir bewußt, wollte ich ihm mein Ohr leihen, so würde ich nicht fest bleiben, sondern es würde mir geradeso ergehen. Er zwingt mich nämlich, zu bekennen, daß ich trotz meiner vielen Mängel nichts für meine Besserung tue, aber doch politisch tätig bin. Mit Gewalt also, indem ich mir die Ohren zuhielt, habe ich mich von ihm losgerissen wie von den Sirenen, um nicht bis in mein hohes Alter bei ihm zu sitzen. Auf der ganzen weiten Erde habe ich allein ihm gegenüber ein Gefühl gehabt, das mir niemand zutrauen wird, das Gefühl der Scham; ja ich schäme mich vor diesem allein, denn ich kann, des bin ich mir wohl bewußt, die Berechtigung seiner Anforderungen an mich nicht in Abrede stellen, bin ich aber von ihm fort, so vermag ich nicht dem Beifalle der Menge zu widerstehen. Ich laufe also davon und meide ihn, und wenn ich ihn sehe, schäme ich mich meiner Zugeständnisse, und oft würde ich es ganz gern sehen, wenn er nicht mehr unter den Lebenden weilte; träte das aber ein, so wäre mein Schmerz ganz gewiß noch weit größer, und so weiß ich gar nicht, was ich mit diesem Manne anfangen soll.
Kap. 33. So hat es mit seinem Flötenspiele dieser Satyr mir und vielen anderen angetan. Laßt euch aber von mir noch weiter erzählen, wie ähnlich er den Wesen ist, denen ich ihn verglichen habe, und welche wunderbare Gewalt er besitzt. Ihr müßt nämlich wissen, daß niemand unter euch ihn kennt; ich aber will euch mit ihm bekanntmachen, da ich einmal damit begonnen habe. Ihr seht ja, Sokrates liebt die Schönen, ist gern in ihrer Nähe und ist von ihnen entzückt, wenn man nach seinem Gebahren schließen will. Ist das nicht die Art der Silenen? In ganz besonderem Maße. Das ist nämlich bei ihm nur eine äußere Umhüllung, gerade so wie der geschnitzte Silen nur eine solche ist. Öffnet man ihn aber, wie groß, meint ihr wohl, meine lieben Trinkgenossen, ist die Sittenreinheit, die sein Inneres erfüllt? Wißt, daß es ihm gar nichts ausmacht, wenn einer schön ist, sondern er achtet das fast unglaublich gering, oder wenn einer reich ist, oder wenn er im Besitze sonst eines Vorzuges zu den von der Menge glücklich Gepriesenen gehört. Alle diese Besitztümer haben in seinen Augen gar keinen Wert, und er hält uns für nichtige Menschen, aber er verstellt sich und treibt sein ganzes Leben hindurch fortgesetzt mit den Menschen sein Spiel. Ob aber jemand die Herrlichkeiten in seinem Inneren gesehen hat, wenn er ernsthaft war und seine Seele aufschloß, das weiß ich nicht; ich habe sie schon einmal gesehen, und mir erschienen sie so göttlich und golden und ganz schön und wunderbar, daß ich kurzweg alles tun mußte, was er mir befahl.
Kap. 35. Wir nahmen zusammen an dem Feldzuge gegen Potidäa teil und waren da Tischgenossen. Da nun tat er es im Ertragen von Strapazen nicht bloß mir zuvor, sondern auch allen anderen. Wenn wir, irgendwo abgeschnitten, nichts zu essen hatten, wie es ja im Felde vorkommt, da waren die anderen in der Standhaftigkeit bei Entbehrungen ihm gegenüber gar nichts, und anderseits schmeckte es ihm bei Schmausereien so gut wie keinem, und wenn er gegen seinen Willen genötigt wurde, an einem Trinkgelage teilzunehmen, da trank er alle unter den Tisch, und das Wunderbarste ist, daß niemals ein Mensch Sokrates betrunken gesehen hat. Doch hierfür wird, wie mich dünkt, der Beweis alsbald erbracht werden. Ferner leistete er im Ertragen der Kälte – die Winter sind dort sehr streng – ganz Erstaunliches. Hierfür nur ein Beispiel. Als einst eine grimmige Kälte herrschte und alle entweder gar nicht ausgehen mochten, oder wenn einer ja ausging, er alles mögliche angezogen und sich mit ordentlichem Schuhwerk versehen und mit Filzen und Schafpelzen umwickelt hatte, zeigte sich dieser unter ihnen in seinem gewöhnlichen Mantel und schritt über das Eis ohne Schuhe leichter als die anderen in ihrem Schuhwerke. Die Soldaten aber sahen ihn scheel an, da sie meinten, er wolle sie beschämen.
Kap. 36. So benahm er sich hierin. »Doch was er da noch vollbracht und bestand unbeugsamen Mutes« einmal auf jenem Feldzuge, das verlohnt sich zu hören. Als ihm nämlich etwas eingefallen war, stand er vom frühen Morgen an auf einer und derselben Stelle in Nachdenken versunken, und da er zu keinem Resultate kam, ließ er nicht nach, sondern stand immer sinnend da. Als es nun Mittag war, da wurden die Menschen darauf aufmerksam, und verwundert sagte einer zu dem anderen: »Sokrates steht vom frühen Morgen an da und denkt über etwas nach.« Schließlich, als es Abend war und die Mannschaften ihre Mahlzeit eingenommen hatten, trugen eine Anzahl junger Leute ihre Strohschütten heraus, teils um im Kühlen zu schlafen, es war nämlich gerade Sommer, teils um achtzugeben, ob er auch die Nacht über stehen bleiben werde. Und wirklich blieb er stehen, bis die Morgenröte erschien und die Sonne aufging. Dann betete er zur Sonne und ging fort.
Doch nun, wenn es euch recht ist, zu seinem Verhalten in den Gefechten! Denn eine Anerkennung auf diesem Gebiete schulden wir ihm nach Recht und Billigkeit. In der Schlacht, nach der die Feldherren mir den Ehrenpreis zuerkannten, hat mich niemand anders gerettet als er. Ich war verwundet, aber er konnte sich nicht entschließen, mich zu verlassen, sondern rettete mich samt meinen Waffen aus der äußersten Gefahr. Ich forderte damals, so wie ich es noch heutigen Tages tun würde, die Feldherren auf, sie sollten dir den Ehrenpreis geben – und das wirst du, Sokrates, mir weder verdenken noch wirst du sagen, ich redete nicht die Wahrheit. Als aber die Feldherren im Hinblicke auf meine vornehme Stellung mir den Preis zuerteilen wollten, da tratst du selbst viel eifriger als die Feldherren dafür ein, daß ich ihn statt deiner erhalten sollte.
Auch verlohnte es sich gewiß, ihr lieben Männer, Sokrates damals zu sehen, als unser Leer bei Delion in Auflösung zurückging. Ich machte nämlich die Schlacht als Reiter mit, dieser als Hoplit. Er zog sich also mit Laches zurück, während sich die Mannschaften bereits zerstreut hatten. Zufällig stoße ich auf sie, und sobald ich sie sehe, rede ich ihnen zu, sie sollten nur gutes Mutes sein, ich würde sie nicht im Stiche lassen. Da nun konnte ich Sokrates noch weit besser beobachten als bei Potidäa; denn ich selbst war weniger gefährdet, da ich zu Pferde war. Fürs erste nun, wie weit war er Laches an Geistesgegenwart überlegen! Sodann schien er mir nach deinen eigenen Worten, mein Aristophanes, auch dort genau so seines Weges zu gehen wie hier, »einherstolzierend und seitwärts werfend die Blicke«; denn in voller Seelenruhe sah er von der Seite auf Freunde und Feinde, und es war einem jeden schon von weitem klar: Wer sich an den Mann wagt, der wird den kräftigsten Widerstand erfahren. Daher kam er auch mit seinem Begleiter ungefährdet davon; denn an solche wagt man sich im Kampfe gewöhnlich gar nicht, sondern verfolgt die über Hals und Kopf Davonfliehenden.
Gewiß könnte man auch sonst noch vieles der Bewunderung Würdige zum Lobe des Sokrates Vorbringen, jedoch könnte man hinsichtlich seines übrigen Wesens solches wohl auch von einem anderen sagen; daß er aber niemand in der weiten Welt gleicht, weder einem Manne der Vorzeit noch der Gegenwart, das ist ganz staunenswert. Denn mit Achilleus könnte man Brasidas und andere vergleichen, und mit Perikles Nestor, Antenor und noch mehrere, und so ließen sich auch für die anderen bedeutenden Männer Parallelen finden. So aber, wie dieser Mann ist, er selbst und seine Reden, dafür kann man trotz alles Suchens nichts auch nur annähernd Ähnliches finden, weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit, man müßte ihn denn den von mir angeführten Wesen vergleichen, einem Menschen überhaupt nicht, sondern den Silenen und Satyrn, ihn und seine Reden.
Kap. 37. Das habe ich ja allerdings anfangs übergangen, daß auch seine Reden den Silenen, die sich öffnen lassen, ungemein ähnlich sind. Denn wenn einer die Reden des Sokrates anzuhören begehrt, so werden sie ihm anfangs lächerlich erscheinen; in solche Worte und Redewendungen sind sie von außen gehüllt, gleich wie in die Laut eines übermütigen Satyrs; denn er spricht von Lasteseln, Schmieden, Schustern und Gerbern und scheint immer mit denselben Worten dasselbe zu sagen, so daß jeder unerfahrene und törichte Mensch über seine Reden lachen wird. Sieht man sie aber geöffnet und dringt in sie ein, so wird man finden, daß sie erstens vor allen anderen Reden vernünftigen Inhalt haben, sodann daß sie ganz göttlich sind und eine Fülle der herrlichsten Tugenden in sich schließen und sich auf das meiste oder vielmehr auf alles erstrecken, worauf man seinen Blick richten muß, wenn man ein edler und guter Mensch werden will.
Das ist es, ihr Männer, was ich zum Lobe des Sokrates zu sagen habe.
Nach der Rede des Alkibiades, die viel Heiterkeit erregte, sollte Sokrates eine Lobrede auf Agathon halten. Dieser war darüber entzückt. Als aber Sokrates beginnen will, da kommt eine neue Schar von Nachtschwärmern, nimmt auf den Speiselagern Platz und eröffnet ein wüstes Zechen. Ein Teil der ursprünglichen Tischgenossen schleicht sich fort, andere schlummern ein, unter ihnen Aristodemos, aus dessen Erzählung der ganze Bericht über die Vorgänge und Reden bei jenem Symposion stammt. Als er gegen Morgen wieder erwacht, bemerkt er, dass Sokrates sich mit Agathon, dem Tragödiendichter, und mit Aristophanes, dem Lustspieldichter, während sie aus einer grossen Schale trinken, über das Wesen der dramatischen Dichtung unterhält und den Satz verficht, dass der tragische Dichter auch imstande sein müsse, Komödien zu dichten. Das gestehen ihm beide zu und versinken dann auch in Schlaf. Nur Sokrates schläft nicht ein, sondern erhebt sich nach Tagesanbruch und begibt sich in Begleitung des Aristodemos ins Lykeion, wo er den Tag in gewohnter Weise zubringt. Erst am folgenden Abende geht er nach Hause. Offenbar hat Plato diesen Zug so stark hervorgehoben, um die Willensstärke des Weisen zu zeichnen und den hohen Grad der Herrschaft, den bei ihm der Geist über den Körper erlangt hatte.