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Gorgias Kap. 1-4 (gekürzt). Kap. 6-11 (gekürzt). Stephanus I, pag. 447 A-449 E. 451 D-457 C.
Personen des Gesprächs: Kallikles, ein vornehmer, feingebildeter und reicher Athener; Sokrates; Chairephon, ein treuer Anhänger des Sokrates; Gorgias von Leontini auf Sizilien, berühmter Sophist und vielbewunderter Redner; Polos von Akragas, dem heutigen Girgenti auf Sizilien, ein unbedeutender Schüler des Gorgias.
Der Ort der Handlung ist in dem Dialoge nicht angegeben. Zu denken ist an ein öffentliches Gebäude, ein Gymnasium oder eine Säulenhalle.
Zeit der Handlung: Die Zeit des Peloponnesischen Krieges.
Kap. 1. Kallikles. An Kampf und Schlacht, Sokrates, muß man, wie die Leute sagen, in solcher Weise teilnehmen.
Sokrates. Kommen wir denn wirklich, wie es im Sprichwort heißt, post festum und haben das Nachsehen?
Kall. Und noch dazu nach einem sehr schönen Feste; denn vieles Herrliche hat uns kurz zuvor Gorgias vorgetragen.
Sokr. Daran ist fürwahr, mein Kallikles, Chairephon hier schuld, der uns genötigt hat, auf dem Markte zu verweilen.
Chairephon. Das macht nichts aus, mein Sokrates; ich werde den Schaden schon wieder gutmachen. Gorgias ist mein Freund, und so wird er uns jetzt oder ein andermal, sowie es dir recht ist, eine Probe seiner Beredsamkeit geben.
Kall. Wie denn, Chairephon? Sokrates trägt Verlangen, Gorgias zu hören?
Chair. Dazu sind wir ja hier.
Kall. Wenn ihr also wollt, so kommt zu mir in mein Haus. Gorgias wohnt bei mir, und er wird euch eine Probe seiner Kunst vorführen.
Sokr. Sehr wohl, Kallikles. Wird er aber geneigt sein, sich mit uns zu unterreden? Ach möchte nämlich von ihm erfahren, welches das Wesen seiner Kunst ist, und was er zu lehren verspricht und auch lehrt. Einen Beweis seiner Beredsamkeit mag er uns ein andermal geben, wie du sagst.
Kall. Das Beste ist, wir fragen ihn selbst. Das war ja auch ein Stück seiner Schaustellung. Wenigstens forderte er jetzt eben dazu auf, zu fragen, was irgend einer der Anwesenden fragen wolle, und erklärte, er werde auf alle Fragen antworten.
Sokr. Sehr wohl. Frage ihn, Chairephon!
Chair. Was soll ich ihn fragen?
Sokr. Was er ist.
Chair. Wie meinst du das?
Sokr. Denk dir, sein Gewerbe wäre, Schuhe anzufertigen, und du fragtest ihn, was er ist; dann würde er doch wohl antworten: »Schuhmacher.« Verstehst du nicht, wie ich es meine?
Kap. 2. Chair. Ich verstehe und werde ihn fragen. – Sage mir, lieber Gorgias, ist das wahr, was Kallikles hier sagt, du erklärtest öffentlich, auf jede Frage zu antworten, die jemand an dich richtet?
Gorgias. Das ist wahr, mein Chairephon. Dasselbe habe ich noch eben jetzt erklärt, und ich kann sagen, daß mich innerhalb vieler Jahre niemand nach etwas gefragt hat, was mir fremd gewesen wäre.
Chair. Demnach wirst du wohl mit Leichtigkeit meine Frage beantworten, verehrter Gorgias.
Gorg. Ein Versuch steht dir frei, lieber Chairephon.
Polos. Beim Zeus! wenn es dir recht ist, so mach ihn mit mir. Gorgias scheint mir abgespannt zu sein, denn er hat soeben einen langen Vortrag gehalten.
Kap. 3. Sokr. Sage uns lieber selbst, mein Gorgias, auf welche Kunst du dich verstehst und wie man dich daher nennen soll.
Gorg. Auf die Redekunst, Sokrates.
Sokr. Also muß man dich einen Redner nennen?
Gorg. Jawohl, und einen guten, wenn du mich wirklich als den bezeichnen willst, der zu sein ich mich rühme, wie es bei Homer heißt.
Sokr. Gewiß will ich das.
Gorg. Also nenne mich so!
Sokr. Dürfen wir sagen, daß du imstande bist, auch andere dazu zu machen?
Gorg. Dazu bekenne ich mich ja, hier und anderwärts.
Kap. 4. Sokr. Wohlan denn! Du sagst also, du verstehest dich auf die Redekunst und könnest auch andere zu Rednern machen. Was hat denn nun die Redekunst zum Gegenstande, gleichwie die Webkunst die Herstellung von Gewändern zu ihrer Aufgabe hat? So ist es doch?
Gorg. Gewiß.
Sokr. Und auch die Musik hat die Herstellung von Melodien zum Gegenstande?
Gorg. Jawohl.
Sokr. Wohlan denn, gib mir in der Weise auch über die Redekunst Antwort! Von welcher Sache ist sie eine Wissenschaft?
Gorg. Von den Reden.
Sokr. Was sind das für Reden? Etwa solche, die darlegen, durch welche Behandlung Kranke wieder gesund werden?
Gorg. Nein.
Sokr. Also sind nicht alle Reden Gegenstand der Redekunst?
Gorg. Gewiß nicht.
Kap. 6. Sokr. Was bildet denn nun den Gegenstand der Reden, mit denen es die Redekunst zu tun hat?
Gorg. Das Bedeutendste und Beste, was es im menschlichen Leben gibt.
Kap. 7. Sokr. Auch diese Erklärung ist strittig und noch gar nicht gewiß. Du hast doch wohl bei Gastmählern Leute ein Trinklied singen hören, in dem sie die Güter des Lebens in folgender Reihe herzählen: Das größte Gut ist Gesundheit, darnach kommt Schönheit, das dritte ist, wie der Dichter des Trinkliedes sagt, ehrlich erworbener Reichtum.
Gorg. Ich habe es gehört; doch wozu sagst du das?
Sokr. Weil alsbald die Urheber dieser von dem Dichter des Trinkliedes gepriesenen Güter an dich herantreten werden, der Arzt, der Lehrer der Gymnastik und der Geschäftsmann. Und zuerst wird der Arzt sagen: »Sokrates! Gorgias hintergeht dich; denn nicht seine Kunst hat es mit dem größten Gute zu tun, das es für die Menschen gibt, sondern meine.« Wenn ich ihn nun fragte: »Wer bist du denn, der du das sagst?« so wird er wohl antworten: »Arzt.« – »Was sagst du also? Das Werk deiner Kunst ist das höchste Gut?« – »Wieso denn nicht? o Sokrates!« würde er wohl sagen. »Gibt es ein größeres Gut für die Menschen als die Gesundheit?« Wenn aber nach diesem der Lehrer der Gymnastik sagte: »Wahrhaftig, mein Sokrates, es sollte auch mich wundern, wenn Gorgias in der Lage wäre, von seiner Kunst ein größeres Gut nachzuweisen als ich von der meinigen«, so würde ich auch zu dem wieder sagen: »Wer bist du denn, guter Mann? und was ist dein Beruf?« – »Lehrer der Gymnastik,« würde er antworten, »und mein Beruf ist es, die Leiber der Menschen schön und kräftig zu machen.« Nach dem Lehrer der Gymnastik wird wohl der Geschäftsmann, wie ich meine, mit stolzer Verachtung aller sagen: »Siehe ja zu, Sokrates, ob du bei Gorgias oder sonst irgendeinem ein größeres Gut findest als den Reichtum.« Wir werden nun zu ihm sagen: »Wie denn? Bist du es, der diesen schafft?« – »Jawohl«, würde er antworten. – »Und was bist du?« – »Geschäftsmann.« – »Wie nun,« werden wir sagen, »du hältst den Reichtum für das größte Gut der Menschen?« – »Wie so denn nicht?« wird er fragen. – »Und doch behauptet Gorgias hier, seine Kunst bringe ein größeres Gut hervor als die deine«, werden wir sagen. – »Und was ist das für ein Gut? Gorgias mag Antwort geben!« – Wohlan nun, Gorgias, antworte auf die Frage: Was ist das, was nach deiner Meinung das größte Gut für die Menschen ist, und dessen Urheber du bist?
Gorg. Eben das, was in Wahrheit das größte Gut ist und der Grund zur Freiheit für die Menschen selbst und zugleich für einen jeglichen der Grund zur Herrschaft über andere in seinem Staate.
Sokr. Was meinst du damit?
Gorg. Ich meine die Fähigkeit, mit seinen Reden vor Gericht die Richter zu überreden und in dem Rate die Ratsherren und in der Volksversammlung die Teilnehmer an ihr, und so in jeder anderen politischen Versammlung. Vermöge dieser Fähigkeit wirst du den Arzt zu deinem Sklaven machen und ebenso den Lehrer der Gymnastik; was aber den Geschäftsmann hier anlangt, so wird es sich zeigen, daß der für einen andern seine Geschäfte treibt und nicht für sich, sondern für dich, der du die Gabe besitzest, zu reden und die Massen zu überreden.
Kap. 8. Sokr. Jetzt scheinst du mir, o Gorgias, ganz genau anzugeben, was für eine Kunst nach deiner Ansicht die Redekunst ist, und wenn ich dich recht versiehe, so meinst du, die Redekunst schaffe Überredung, und ihre gesamte Tätigkeit laufe der Hauptsache nach darauf hinaus. Oder weißt du sonst noch etwas anzugeben, was die Redekunst vermag, als Überredung in der Seele der Hörer zu bewirken?
Gorg. Keineswegs, mein Sokrates, sondern du scheinst mir ihr Wesen genügend zu bestimmen; denn das ist wirklich die Hauptsache bei ihr.
Kap. 9. Sokr. Was ist das nun für eine Überredung, und was ist der Gegenstand der Überredung, die die Redekunst zu bewirken hat?
Gorg. Ich meine die Überredung in den Gerichtshöfen und vor anderen Volksmengen, wie ich auch eben schon sagte, und ihr Gegenstand ist das Gerechte und Ungerechte.
Sokr. Laß uns nun auch folgendes erwägen! Brauchst du den Ausdruck: Etwas gelernt haben?
Gorg. Jawohl.
Sokr. Auch den Ausdruck: Einen Glauben gewonnen haben?
Gorg. Gewiß.
Sokr. Ist nun »gelernt haben« und »einen Glauben gewonnen haben«, und »Wissen« und »Glaube« ein und dasselbe oder etwas Verschiedenes?
Gorg. Nach meinem Dafürhalten sind das zwei verschiedene Dinge.
Sokr. Das ist sehr richtig, wie du auch auf folgende Weise erkennen wirst. Wenn dich jemand fragte: »Gibt es einen falschen und einen wahren Glauben?« so würdest du meines Erachtens die Frage bejahen.
Gorg. Jawohl.
Sokr. Wie aber? Gibt es ein falsches und ein wahres Wissen?
Gorg. Auf keinen Fall.
Sokr. Demnach sind offenbar Wissen und Glaube nicht identisch.
Gorg. Du hast recht.
Sokr. Aber doch haben sich sowohl die, die ein Wissen, als auch die, die einen Glauben gewonnen haben, in ihrer Ansicht bestimmen lassen.
Gorg. So ist es.
Sokr. Willst du nun, daß wir zwei Arten einer solchen Bestimmung unserer Ansichten annehmen, von denen die eine Glauben gewährt ohne Wissen, die andere aber Wissen?
Gorg. Sicherlich.
Sokr. Bewirkt nun die Redekunst in den Gerichtshöfen und bei anderen Volksmengen hinsichtlich des Gerechten und Ungerechten Glauben ohne Wissen oder ein Wissen?
Gorg. Offenbar doch wohl, lieber Sokrates, einen Glauben.
Sokr. Die Redekunst wirkt also auf uns in der Weise ein, daß sie Glauben hervorruft, aber sie belehrt uns nicht über Recht oder Unrecht.
Gorg. Jawohl.
Sokr. Also belehrt der Redner auch nicht die Gerichtshöfe und die übrigen Volksmengen über Recht und Unrecht, sondern erzeugt darüber nur einen Glauben. Denn er ist doch wohl nicht imstande, eine so große Menge in kurzer Zeit so bedeutende Dinge zu lehren.
Gorg. Gewiß nicht.
Kap. 10. Sokr. Wohlan denn, laß uns einmal zusehen, was wir denn eigentlich von der Redekunst denken. Wenn sich die Bürger einer Stadt wegen der Wahl von Ärzten versammeln oder von Schiffsbaumeistern oder von Leuten aus irgend einer anderen Berufsgenossenschaft, so wird doch wohl nicht der Redner die Ratschläge erteilen? Denn offenbar muß man bei jeder Wahl den tüchtigsten Fachmann wählen; und wenn es sich um den Bau von Mauem oder die Anlage von Häfen oder Schiffswerften handelt, so werden die Architekten raten; und wenn andererseits eine Beratung über die Wahl von Feldherren stattfindet oder über die Aufstellung zur Schlacht oder die Besetzung von Plätzen, dann werden die strategisch Gebildeten die Ratgeber sein und nicht die Redekünstler. Oder wie denkst du über solche Dinge, mein Gorgias? Denn da du erklärst, selbst ein Redner zu sein und andere zu tüchtigen Rednern zu machen, so ist es richtig, dich nach Dingen zu fragen, die mit deiner Kunst im Zusammenhang stehen. Glaube mir, ich habe dabei auch dein Interesse im Auge. Denn vielleicht ist auch der eine oder der andere unter den hier Anwesenden, der dein Schüler werden möchte, wie ich manche, ja sogar ziemlich viele wahrnehme, die sich vielleicht scheuen, dich zu fragen. Glaube nun, daß, wenn ich dich frage, zugleich diese die Frage an dich richten: »Welchen Gewinn werden wir haben, o Gorgias, wenn wir uns dir anschließen? Aber welche Dinge werden wir in den Stand gesetzt werden, der Stadt zu raten? Ausschließlich über Recht und Unrecht oder auch über solche Dinge, wie sie jetzt Sokrates anführte?« Versuche also, ihnen zu antworten.
Gorg. Ich werde also versuchen, das gesamte Wesen der Redekunst dir deutlich zu enthüllen; denn du selbst hast schon den Weg dazu gezeigt. Du weißt ja wohl, daß die Schiffswerften und Mauern der Athener und die Anlage der Häfen durch den Rat des Themistokles ins Leben gerufen worden sind, teils auch durch den des Perikles, aber nicht durch den Rat der Bauleute.
Sokr. Erzählt wird dies von Themistokles, Perikles hörte ich selbst, wie er uns zu dem Bau der mittleren Mauer riet.
Gorg. Und wenn eine Wahl von solchen vorgenommen wird, wie du sie eben nanntest, da sind es die Redner, wie du siehst, die raten und mit ihren Ansichten durchdringen.
Sokr. Voll Verwunderung hierüber frage ich ja auch schon längst, welches denn das Wesen der Redekunst ist; denn sie kommt mir wie etwas ganz Übernatürliches vor, wenn ich so ihre Macht betrachte.
Kap. 11. Gorg. Du weißt noch gar nicht alles, lieber Sokrates! Sie enthält ja fast alle Kräfte in sich. Einen schlagenden Beweis will ich dir hierfür angeben. Schon oft bin ich mit meinem Bruder und mit anderen Ärzten zu einem Kranken gegangen, der nicht die Arznei einnehmen oder sich von dem Arzte schneiden oder brennen lassen wollte, und während kein Arzt vermochte, ihn dazu zu bereden, habe ich ihn dazu beredet, mit Hilfe keiner anderen Kunst als mit der Kunst der Rede. Ich meine aber, wenn in eine Stadt, es mag sein, in welche es will, ein redegewandter Mann und ein Arzt kommen und vor der Volksversammlung oder sonst einer Versammlung mit Worten streiten, welcher von beiden als Arzt gewählt werden soll, so wird der Arzt gar nicht in Betracht kommen, sondern es wird der der Rede Mächtige gewählt werden, wenn er will. Und wenn er mit einem anderen Werkmeister oder Künstler sich um eine Stelle bewürbe, so würde es dem Redegewandten eher gelingen, seine Wahl durchzusetzen, als irgend einem anderen. Denn es gibt gar nichts, worüber der rhetorisch Gebildete vor einer Volksmenge nicht überzeugender reden könnte als irgend einer von den Werkmeistern.
So weit also reicht die Macht dieser Kunst, und von solcher Art ist sie. Man muß jedoch von der Redekunst denselben Gebrauch machen, wie von jeder anderen Kunst des Wettkampfes. Denn auch die übrigen Künste solcher Art darf man nicht gegen alle Menschen in Anwendung bringen. Weil einer den Faustkampf, das Pankration (die Verbindung von Faust- und Ringkampf) und den Gebrauch der schweren Waffen gelernt hat und darin Freunden und Feinden überlegen ist, deswegen darf er doch nicht seine Freunde schlagen oder niederstechen und töten. Und wenn ein Mensch von kräftigem Körperbau, der die Palästra besucht hat und ein tüchtiger Faustkämpfer geworden ist, dann seinen Vater und seine Mutter schlägt oder sonst einen seiner Angehörigen und Freunde, so darf man beim Himmel deswegen doch nicht die Lehrer der Gymnastik hassen und aus den Städten jagen. Denn die haben sie die Kunst zu gerechtem Brauche gelehrt, gegen Feinde und Missetäter, zur Verteidigung und nicht zum Angriffe; solche aber verkehren die Sache und brauchen ihre Stärke und ihre Kunst nicht in der rechten Weise. Also sind nicht die Lehrer schlecht, und auch die Kunst trifft deswegen weder eine Schuld noch ist sie schlecht, sondern die sind es, meine ich, die sie nicht in der rechten Weise anwenden. Dasselbe muß nun auch von der Redekunst gesagt werden. Denn der Redner vermag zu allen und über alles zu reden, so daß er die Massen zu allem überredet, wozu er nur will; aber deswegen darf er noch lange nicht den Ärzten ihre Ehre nehmen, weil er das tun kann, noch den übrigen Meistern, sondern er muß die Redekunst in gerechter Weise anwenden. Wenn er aber, denke ich, ein tüchtiger Redner geworden ist und dann mit Hilfe dieser Macht und dieser Kunst unrecht tut, so darf man nicht seinen Lehrer hassen und aus den Städten vertreiben. Denn der hat sie zu gerechtem Gebrauche gelehrt, er aber macht den entgegengesetzten Gebrauch davon. Also erfordert es die Gerechtigkeit, den zu hassen, zu verjagen und zu töten, der nicht den rechten Gebrauch davon macht, aber nicht den Lehrer.
Gorgias Kap. 21. 22. 24-26. (Gekürzt.) Stephanus I. pag. 446 A-E. 468 E-471 D.
Personen des Gesprächs: Polos; Sokrates.
Ort und Zeit wie vorher.
Kap. 21. Polos. Was sagst du? Die Redekunst scheint dir eine Schmeichelei zu sein?
Sokrates. Allerdings habe ich sie als eine Art von Schmeichelei bezeichnet.
Pol. Also gelten nach deiner Ansicht die Redner, da sie Schmeichler sind, für unbedeutende Menschen in den Staaten?
Sokr. Nach meiner Ansicht gelten sie überhaupt nichts.
Pol. Wie? Sie gelten nichts? Besitzen sie denn nicht die größte Macht in den Staaten?
Sokr. Nein, vorausgesetzt, daß Macht ein Gut für den ist, der sie besitzt.
Pol. Das ist allerdings meine Ansicht.
Sokr. Demnach scheinen mir die Redner unter den Bürgern des Staates die geringste Macht zu besitzen.
Pol. Wieso denn? Töten sie nicht, gleich den Tyrannen, wen sie wollen, und berauben des Vermögens und vertreiben aus den Städten jeden, wenn es ihnen beliebt?
Kap. 22. Sokr. Ich meine, lieber Polos, daß die Redner gleich den Tyrannen die geringste Macht in den Staaten besitzen, so wie ich eben jetzt sagte, denn meines Erachtens tun sie beinahe nichts von dem, was sie wollen, aber freilich, was ihnen das Beste zu sein dünkt, das tun sie.
Pol. Ist denn das nicht eine große Macht?
Sokr. Nein.
Kap. 24. Pol. Du natürlich, Sokrates, wirst die Macht nicht haben wollen, im Staate zu tun, was dir beliebt, und fühlst auch keinen Neid, wenn du siehst, wie einer hinrichten läßt, wen ihm beliebt, oder sein Vermögen einzieht oder ihn in Ketten und Banden schlägt.
Sokr. Meinst du gerechter- oder ungerechterweise?
Pol. Mag er es so oder so tun, ist er nicht beide Male beneidenswert?
Sokr. Schweig still, Polos!
Pol. Warum denn?
Sokr. Weil man weder die nicht Beneidenswerten beneiden soll noch die Unglücklichen, sondern bedauern.
Pol. Wie denn? Meinst du, daß es mit den Menschen, von denen ich rede, so steht?
Sokr. Wie sollte es denn nicht?
Pol. Wenn nun einer einen hinrichten läßt, dessen Hinrichtung ihm gut scheint, und ihn mit Recht hinrichten läßt, erscheint der dir unglücklich und bedauernswert?
Sokr. Das nicht, aber auch nicht beneidenswert.
Pol. Nanntest du ihn nicht eben unglücklich?
Sokr. Den, der ungerechterweise einen hinrichten läßt, nannte ich so, und dazu noch bedauernswert, den aber, der mit Recht diese Strafe verhängt, nicht beneidenswert.
Pol. Einer, der mit Unrecht hingerichtet wird, ist doch Wohl bedauernswert und unglücklich.
Sokr. Weniger als der, der ihn hinrichten läßt, und auch weniger als einer, der mit Recht hingerichtet wird.
Pol. Wieso denn, lieber Sokrates?
Sokr. Weil unrecht tun der Übel größtes ist.
Pol. Ist denn das das größte Übel? Ist nicht unrecht leiden ein größeres?
Sokr. Keineswegs.
Pol. Du möchtest also lieber unrecht leiden als unrecht tun?
Sokr. Ich wünsche beides nicht. Wenn ich aber unbedingt entweder unrecht tun oder unrecht leiden müßte, so würde ich lieber unrecht leiden wollen als unrecht tun.
Pol. Du würdest also nicht gern herrschen?
Sokr. Nein, wenn du unter herrschen dasselbe verstehst wie ich.
Pol. Ich verstehe darunter genau das, was ich eben aussprach, daß man im Staate tun darf, was einem beliebt, indem man hinrichtet, in die Verbannung schickt und alles mögliche ganz nach seinem Gutdünken tut.
Kap. 25. Sokr. Mein Lieber, nun werde ich reden, du aber widerlege mich mit deiner Gegenrede! Nimm an, ich sagte auf belebtem Markte mit einem Dolche unter der Achsel zu dir: »Polos, mir ist soeben eine ganz wunderbare Gewalt und Herrschaft zugefallen. Wenn es mir beliebt, daß irgend einer von den Menschen, die du hier siehst, auf der Stelle tot sein soll, so ist er tot, und wenn es mir gefällt, daß einer ein Loch in den Kopf bekommen soll, so wird er es alsbald haben, und wem sein Mantel zerschlitzt werden soll, dem wird er gleich zerschlitzt sein. So groß ist meine Macht in diesem Staate.« Wenn du nun mir nicht glaubtest und ich dir den Dolch zeigte, so würdest du wohl sagen: »Sokrates, so haben schließlich alle eine große Gewalt, denn auf diese Weise würde auch jedes Haus in Flammen aufgehen, wenn es dir beliebte, und die Seearsenale samt ihren Kriegsschiffen und allen Fahrzeugen, den staatlichen sowohl als den privaten.« Also besteht die große Gewalt nicht darin, daß man tun kann, was einem beliebt; oder meinst du doch?
Pol. Gewiß nicht in dieser Weise.
Sokr. Weißt du nun zu sagen, weshalb du eine solche Macht gering schätzest?
Pol. Gewiß.
Sokr. Warum also? Sprich!
Pol. Weil einer, der so handelt, unbedingt Strafe erleidet.
Sokr. Ist die Strafe nicht etwas Schlimmes?
Pol. Auf jeden Fall.
Sokr. Also ist deine Ansicht, mein Bester, folgende: Wenn einer, der tut, was ihm beliebt, Gewinn davon hat, so ist dieses Handeln nach Belieben etwas Gutes und schließt allem Anscheine nach eine große Macht in sich; im anderen Falle ist es etwas Schlimmes und eine Gewalt von geringer Bedeutung. Laß uns aber auch folgendes in Erwägung ziehen! Wir stimmen doch wohl darin überein, daß es manchmal besser ist, zu tun, was wir jetzt eben anführten: Menschen hinzurichten, zu verbannen, ihr Vermögen einzuziehen, manchmal aber nicht?
Pol. Gewiß.
Sokr. Wann ist es nun nach deiner Meinung besser, dies zu tun? Sprich, welche Grenze ziehst du?
Pol. Beantworte du lieber diese Frage, Sokrates!
Sokr. Wenn du es lieber von mir hören willst, so sage ich: Wenn einer solches mit Recht tut, dann ist es besser, wenn mit Unrecht, schlimmer.
Kap. 26. Pol. Das zu widerlegen ist nicht schwer, sondern jedes Kind kann dir beweisen, daß das falsch ist, was du da sagst.
Sokr. Ich werde dem Kinde von Herzen dankbar sein und ebenso auch dir, wenn du mich widerlegst und von einer Torheit befreist. Drum werde nicht müde, einem dir befreundeten Manne Gutes zu erweisen, und widerlege mich!
Pol. Auf jeden Fall hat man es gar nicht nötig, dich mit alten Geschichten zu widerlegen, sondern die bekannten Vorgänge von gestern und vorgestern genügen, dich des Irrtums zu überführen und zu beweisen, daß viele Menschen unrecht tun und doch glücklich sind.
Sokr. Was sind das für Vorgänge?
Pol. Du siehst doch, daß der wohlbekannte Archelaos, der Sohn des Perdikkas, über Makedonien herrscht?
Sokr. Wenn ich es auch nicht sehe, gehört habe ich allerdings davon.
Pol. Scheint er dir nun glücklich zu sein oder unglücklich?
Sokr. Das weiß ich nicht, Polos; denn ich bin mit dem Manne noch nicht zusammengekommen.
Pol. Wie? Wenn du mit ihm zusammengewesen wärest, würdest du es wissen, aber von hier aus kannst du nicht ermessen, daß er glücklich ist?
Sokr. Wie sollte ich denn?
Pol. Offenbar wirst du also sagen, du wüßtest auch von dem Großkönige nicht, daß er glücklich ist.
Sokr. Und damit werde ich die Wahrheit sagen; denn ich weiß nicht, wie es mit seiner Bildung und mit seiner Gerechtigkeit steht.
Pol. Wie? Beruht denn darauf alle Glückseligkeit?
Sokr. So sage ich allerdings, mein Polos; nach meiner Meinung ist der edle und gute Mann und ebenso die edle und gute Frau glückselig, der ungerechte und schlechte aber unglücklich.
Pol. Also ist nach deiner Rede dieser Archelaos unglücklich?
Sokr. Wenn er ungerecht ist, gewiß, mein Freund.
Pol. Wie sollte er denn nicht ungerecht sein? Er, der gar keinen Anspruch auf den Thron hatte, den er jetzt innehat, da er von einem Weibe stammte, das die Sklavin des Alketas war, des Bruders des Perdikkas; und so war er nach dem Rechte der Sklave des Alketas, und wenn er gerecht handeln wollte, so diente er Alketas als Sklave und wäre so nach deiner Rede glücklich. So aber ist er über alle Maßen unglücklich geworden, da er die größten Ungerechtigkeiten begangen hat. Hat er doch erstens diesen selben Herrn, der zugleich sein Oheim war, gastlich in sein Haus aufgenommen, angeblich um ihm die Herrschaft zurückzugeben, die ihm Perdikkas entrissen hatte, hat ihn und seinen Sohn Alexander, seinen Vetter, der mit ihm so ziemlich in gleichem Alter stand, trunken gemacht, auf einen Wagen geworfen, bei Nacht zur Stadt hinausgefahren und hat beide abgeschlachtet und beiseite geschafft. Und nach solchen Missetaten hat er gar nicht gemerkt, daß er höchst unglücklich geworden war, und hat auch keine Reue empfunden, hat auch gar nicht glücklich werden wollen dadurch, daß er seinen Bruder, den vollbärtigen Sohn des Perdikkas, einen Knaben von ungefähr sieben Jahren, dem nach dem Rechte die Herrschaft zukam, standesgemäß aufzog und ihm sein Reich zurückgab, sondern er hat ihn in einen Brunnen gestoßen und ertränkt, zu seiner Mutter Kleopatra aber hat er gesagt, er habe eine Gans haschen wollen, sei dabei hineingefallen und so ums Leben gekommen. Natürlich ist er, der größte Missetäter in ganz Makedonien, nunmehr der unglücklichste aller Makedonier, und es gibt wahrscheinlich gar manchen Athener, dich gleich eingeschlossen, der lieber der armseligste Makedonier sein möchte als Archelaos.
Gorgias Kap. 38 (Mitte)-41. Teile von Kap. 42. 43. 46. 47. Stephanus I, pag. 482 E-486 D. 488 B-D. 491 C-492 E.
Personen des Gesprächs: Kallikles; Sokrates.
Ort und Zeit sind dieselben wie vorher.
Kap. 38. Kallikles. Mein Sokrates, du erklärst, nur die Wahrheit im Auge zu haben, und dabei führst du die Erörterung auf verfängliche und auf die Menge berechnete Sätze, die nach dem Naturrechte nicht schön sind, wohl aber nach der Satzung der Menschen, denn die sind meistens einander entgegengesetzt, Naturrecht und positives Recht. Wenn einer sich scheut, zu sagen, wie er denkt, und nicht den Mut dazu hat nun, so ist er genötigt, sich zu widersprechen. Dieses Kunststück hast du auch entdeckt und sündigst nun bei den Gesprächen darauf los; wenn einer im Sinne des positiven Rechtes redet, so schiebst du eine Frage im Sinne des Naturrechtes unter, und wenn einer Sätze des Naturrechtes vorbringt, Sätze des positiven Rechtes. Bleiben wir gleich bei dem Unrechttun und Unrechtleiden stehen! Während Polos das Häßlichere im Sinne des positiven Rechtes meinte, behandeltest du das positive Recht so, als ob es das Naturrecht wäre; denn nach dem Naturrechte ist das größere Übel auch häßlicher, und das ist das Unrechtleiden, nach der Satzung der Menschen aber ist das Unrechttun häßlicher. Denn unrecht leiden ist das Schicksal nicht eines Mannes, sondern eines armseligen Sklaven, dem es besser wäre, tot zu sein als zu leben, und der, mißhandelt und mit Füßen getreten, nicht imstande ist, sich zu helfen und auch keinem anderen helfen kann, der seinem Herzen nahe steht. Die Schwachen sind es, meine ich, die die Gesetze geben, und die große Menge. Mit Rücksicht auf sich selbst nun und ihren Vorteil geben sie die Gesetze und bestimmen sie, was zu loben und was zu tadeln sei. Um die stärkeren Menschen zu schrecken, die die Macht haben, sich Vorteile zu verschaffen, und um nicht von ihnen unterdrückt zu werden, sagen sie, es sei häßlich und ungerecht, sich in Vorteil zu setzen, und die Ungerechtigkeit bestehe darin, daß man darnach trachtet, mehr zu haben als andere; denn sie sind natürlich damit zufrieden, ebensoviel zu haben wie die andern, da sie die Schwächeren sind.
Kap. 39. Aus diesem Grunde nennt man es nach dem Gesetze ungerecht und häßlich, wenn einer der großen Menge gegenüber im Vorteile sein will, und heißen sie das unrecht tun. Im Gegensätze hierzu zeigt aber, denke ich, die Natur ganz deutlich, daß es gerecht ist, daß der Bessere Vorteile hat vor dem Schlechteren und der Mächtigere vor dem weniger Mächtigen. Daß sich das so verhält, offenbart sich vielfach, sowohl bei den übrigen Geschöpfen als auch bei ganzen Staaten und Geschlechtern der Menschen, daß nämlich das Recht in der Weise festgesetzt ist, daß der Stärkere über den Schwächeren herrscht und vor ihm bevorzugt ist. Welches Recht hatte denn Xerxes, gegen Griechenland zu Felde zu ziehen, oder sein Vater, gegen die Skythen? Und derartige Fälle lassen sich in Menge anführen. Die haben das, meine ich, naturgemäß und ganz gewiß nach dem Gesetze der Natur getan, freilich nicht nach dem Gesetze, das wir künstlich zurecht machen, um die besten und stärksten unter uns, indem wir sie von Jugend auf vornehmen, gleich Löwen mit Zaubergesängen und Gaukelwerk zu betören und sie so zu unseren Sklaven zu machen, mit der Behauptung, daß Gleichheit herrschen müsse, und daß darauf Sittlichkeit und Recht beruhen. Wenn aber ein Mann, von Natur ausgestattet mit hinreichender Kraft, alle diese Ketten abschüttelt, zerreißt und hinter sich läßt, wenn er unsere papierenen Vorschriften, Vorspiegelungen, Zaubergesänge und der Natur zuwiderlaufenden Gesetze allesamt mit Füßen tritt, wenn er sich erhebt und nun, er, der Sklave, als unser Herr dasteht, auch da bricht das natürliche Recht hervor. Es scheint mir aber auch Pindar genau dieselbe Ansicht in dem Liede kundzutun, in dem er sagt:
Das Gesetz, es gebeut
Als König so Göttern als Menschen.
Doch – fährt er fort – heiligt es auch mit siegender Hand
Die ärgste Gewalt; das weis' ich euch nach
An des Herakles Taten: Erkauft nicht –
So ungefähr sagt er; ich weiß nämlich das Gedicht nicht auswendig. Der Gedanke ist aber: Ohne daß er sie gekauft, und ohne daß Geryones sie ihm geschenkt hatte, trieb er die Rinder fort, in der Überzeugung, daß es dem natürlichen Rechte entspricht, daß Rinder und alles Besitztum der Schlechteren und Schwächeren dem Besseren und Stärkeren zufallen.
Kap. 40. Das ist die Wahrheit, wie du erkennen wirst, wenn du dich bedeutenderen Aufgaben zuwendest und endlich einmal die Philosophie beiseite läßt. Die Philosophie ist allerdings etwas ganz Hübsches, mein Sokrates, aber nur, wenn man sie mäßig treibt, in der Zeit der Jugend; wenn man aber länger, als nötig ist, bei ihr verweilt, so ist sie ein Verderb für die Menschen. Denn wer von Natur mit trefflichen Gaben ausgestattet ist, aber weit hinein in das Leben sich mit Philosophie beschäftigt, der muß ganz unbedingt mit allem unbekannt bleiben, womit einer bekannt sein muß, der ein tüchtiger und berühmter Mann werden will. Denn sie bleiben unbekannt mit den Gesetzen im Staate und mit der Redeweise, in der man sich im Verkehr mit den Menschen bewegen muß im privaten und im öffentlichen Leben, und mit dem, was die Menschen erfreut und was sie begehren, mit einem Worte, mit ihrem ganzen Wesen bleiben sie vollständig unbekannt. Wenn sie nun an eine private oder öffentliche Tätigkeit gehen, so machen sie sich lächerlich, geradeso wie die Staatsmänner, denke ich, wenn sie ihrerseits an euere Beschäftigungen und Erörterungen gehen, sich lächerlich machen. Es bewahrheitet sich das Wort des Euripides:
»Ein jeder glänzt in dem und strebt mit Macht ihm zu.
Gern weihend ihm den größten Teil der Tageszeit,
Worin er seine beste Kraft und Stärke sieht.«
Wenn er aber auf einem Gebiete untüchtig ist, das meidet und schmäht er, das andere aber lobt er aus Eigenliebe, in der Meinung, daß er so sich selbst lobe. Aber ich glaube, das Wichtigste ist, an beiden teilzunehmen. Sich mit Philosophie zu beschäftigen, soweit es der allgemeinen Bildung wegen geschieht, ist schön, und es steht einem jungen Menschen gar nicht übel an, Philosophie zu treiben; wenn aber ein bereits älterer Mensch sich noch mit Philosophie beschäftigt, so wird die Sache, lieber Sokrates, lächerlich, und ich befinde mich gegenüber den Philosophierenden genau in derselben Verfassung wie gegenüber solchen, die stammeln und spielen. Wenn ich nämlich ein Knäblein, dem es noch zukommt, in der Weise zu reden, stammeln höre und spielen sehe, so freue ich mich, und es kommt mir das anmutig, natürlich und dem Alter des Kindes angemessen vor, höre ich aber ein Knäblein so ganz bestimmt und richtig reden, so ist das widerwärtig, tut mir in den Ohren weh und erscheint mir unnatürlich; wenn ich aber einen Mann stammeln höre oder spielen sehe, dann kommt mir das lächerlich vor und unmännlich und wie etwas, wofür es Schläge geben sollte. Genau in derselben Stimmung befinde ich mich denen gegenüber, die sich mit Philosophie beschäftigen. Wenn ich bei einem jungen Menschen diese Beschäftigung wahrnehme, da bin ich ganz damit einverstanden, und es kommt mir angemessen vor, und ich schreibe einem solchen Menschen eine ganz edle Gesinnung zu, einen aber, der sich nicht mit Philosophie beschäftigt, halte ich für einen Banausen und für einen Menschen, der sich niemals zu schönen und edlen Taten aufschwingen wird. Sehe ich aber, wie ein bereits älterer Mann sich noch mit Philosophie beschäftigt und nicht davon loskommt, so verdient der, lieber Sokrates, meines Erachtens eine Tracht Schläge. Denn solcher Mensch verfällt, auch wenn er hochbegabt ist, unfehlbar dem Lose, unmännlich zu werden, da er die Öffentlichkeit der Stadt und ihre Märkte meidet, auf welchen, nach den Worten des Dichters, Männer ihre Trefflichkeit erlangen, und in einen Winkel verkrochen verbringt er mit drei oder vier jungen Menschen die übrige Lebenszeit flüsternd, ein freies, großes und kühnes Wort aber spricht er niemals.
Kap. 41. Mein Sokrates, ich bin dir in wahrer Freundschaft zugetan. Wie es nun scheint, verhalte ich mich dir gegenüber jetzt gerade so, wie bei Euripides Zethos sich dem Amphion gegenüber verhält, denn auch ich möchte zu dir so reden, wie jener zu seinem Bruder sprach: »Du vernachlässigst, lieber Sokrates, das, dessen du dich befleißigen solltest, und wendest die so edle Naturanlage deiner Seele ganz knabenhaftem Gebaren zu, und so wirst du weder vor den Versammlungen des Gerichts in rechter Weise ein Wort vorbringen, noch wirst du etwas Passendes und Überzeugendes sagen, noch für einen anderen einen kühnen Entschluß fassen. Sei mir nicht böse, Sokrates! ich rede ja in wohlwollender Gesinnung zu dir. Kommt dir denn deine Lage nicht kläglich vor und ebenso die Lage aller anderen, welche die Beschäftigung mit der Philosophie zu weit treiben? Jetzt steht es doch so: Wenn einer dich oder sonst einen deiner Art faßt und in das Gefängnis abführt mit der Behauptung, du habest einen Frevel begangen, während du gar nichts getan hast, so weißt du gar nicht, was du anfangen sollst, sondern es schwindelt dir, und du stehst mit offenem Munde da und weißt nicht, was du sagen sollst. Ist nun dein Ankläger ein gemeiner und nichtswürdiger Mensch, so wirst du zum Tode verurteilt, falls es ihm beliebt, die Todesstrafe gegen dich zu beantragen. Und doch, wie soll denn das eine Weisheit sein (die gesperrt gedruckten Worte von hier bis zum Ende dieses Abschnittes sind von Plato der Antiope des Euripides entnommen), wenn eine Wissenschaft oder Kunst einen Mann von guten Anlagen, den sie in ihre Schule nimmt, schlechter macht, so daß er weder sich noch einem andern helfen und Errettung aus den größten Gefahren bringen kann, und wenn er sich von seinen Feinden um sein ganzes Vermögen bringen läßt und geradezu wie rechtlos im Staate lebt? Einem solchen kann man, mag's auch derb klingen, eins hinter die Ohren geben, ohne dafür gestraft zu werden. Drum, mein Guter, folg mir, hör auf mit deinen Untersuchungen, übe den Wohlklang der Tatsachen und übe dich in Dingen, die dir den Ruf eines vernünftigen Mannes eintragen werden, indem du diese hübschen Sachen anderen überläßt, mag man sie nun leere Worte oder eitles Geschwätz nennen sollen, infolgedessen du im leeren Hause wohnen wirst. Ahme nicht Männer nach, die sich mit solchen kleinlichen Untersuchungen abgeben, sondern solche, die Vermögen und Ansehen und viele andere Güter besitzen.
Kap. 42. Sokr. Sag mir noch einmal von vorn: Was verstehst du unter dem Naturrecht? Besteht es darin, daß der Mächtigere den Schwächeren ihr Eigentum mit Gewalt nimmt und der Bessere über die weniger Guten herrscht, und der Tüchtigere gegenüber dem weniger Tüchtigen im Vorteil ist? Verstehst du unter dem Rechte etwas anderes, oder habe ich es so richtig in der Erinnerung?
Kap. 43. Kall. So sagte ich damals, und so sage ich jetzt.
Sokr. Meinst du nun mit dem Besseren und Mächtigeren einen und denselben? Ich war nämlich vorhin gar nicht imstande, den Sinn deiner Worte zu erfassen. Verstehst du unter den Mächtigeren die Stärkeren, und meinst du, daß die Schwächeren dem Stärkeren gehorchen müssen, oder kann einer zwar besser sein als ein anderer, aber doch ihm nicht gewachsen und schwächer als er, und kann andererseits einer zwar mächtiger, aber sittlich schlechter sein? Oder sind Besser und Mächtiger ein und derselbe Begriff? Das bestimme mir genau: Sind Mächtiger, Besser, Stärker ein und dasselbe, oder sind es voneinander verschiedene Begriffe?
Kall. Ich sage dir ganz bestimmt: Sie sind ein und dasselbe.
Kap. 46. Sokr. Sag mir nun kurz und gut: Wer sind denn die Besseren und Mächtigeren? und in welcher Beziehung sind sie es?
Kall. Die auf dem Gebiete des Staates Einsichtsvollen und Tapferen nenne ich so. Denn diesen kommt es zu, über die Staaten zu herrschen, und die Gerechtigkeit besteht darin, daß diese einen Vorzug haben vor den anderen, die herrschenden vor den Beherrschten.
Sokr. Was sind sie nun im Verhältnisse zu sich selbst? Doch wohl die herrschenden?
Kall. Wie meinst du das?
Sokr. Ich meine, daß jeder einzelne sich selbst beherrsche. Ist das etwa nicht nötig, daß einer sich selbst beherrscht, sondern soll er nur andere beherrschen?
Kall. Wie verstehst du das, daß einer sich selbst beherrscht?
Sokr. Ich verstehe darunter gar nichts Außergewöhnliches, sondern brauche den Ausdruck, so wie man ihn allgemein braucht, von einem maßvollen Manne, der Herr seiner selbst ist, indem er die Lüste und Begierden in sich beherrscht.
Kall. Ganz allerliebst. Du meinst jene Toren, die Maßvollen?
Sokr. Wie so denn nicht? Es sieht doch jeder, daß das meine Meinung ist.
Kall. Ganz gewiß hält jeder solche für Toren, mein lieber Sokrates. Denn wie könnte ein Mensch glücklich werden, der der Sklave irgendeines ist? Das von Natur Schöne und Gerechte ist das, was ich dir jetzt ganz freimütig darlege: Wer in der rechten Weise leben will, der muß seine Begierden möglichst groß werden lassen und darf sie nicht einschränken, und wenn sie recht groß sind, muß er imstande sein, ihnen zu willfahren durch Tapferkeit und Einsicht, und muß sie sättigen mit dem, worauf jedesmal die Begierde sich richtet. Aber das, meine ich, ist der großen Masse nicht möglich; daher tadeln sie solche aus Scham, um ihr eigenes Unvermögen zu verbergen, und nennen Zügellosigkeit eine Schande, um, wie ich schon vorhin sagte, die von Natur besseren Menschen zu knechten, und weil sie selbst nicht in der Lage sind, ihren Lüsten Befriedigung zu verschaffen, preisen sie die Mäßigung und die Gerechtigkeit um ihrer Unmännlichkeit willen. Denn wenn welche von vorn herein das Glück hatten, Söhne von Königen zu sein, oder von der Natur mit der Kraft ausgestattet waren, sich eine Gewalt oder Herrschaft oder Machtstellung zu erwerben, was könnte es in Wahrheit für solche Menschen Schimpflicheres und Schlimmeres geben als Mäßigung? Während es ihnen erlaubt ist, von ihren Vorzügen Vorteil zu haben und sie niemand daran hindern kann, sollen sie sich selbst die Satzungen und Wort und Tadel der großen Masse zum Herren setzen? Wie sollten sie nicht durch diese schöne Gerechtigkeit und Mäßigung zu elenden Menschen geworden sein, wenn sie ihren Freunden gar nicht mehr gewähren als ihren Feinden, während sie doch die Herren sind in ihrem Staate? In Wahrheit, lieber Sokrates, und die Wahrheit erklärst du doch immer für dein Ideal, verhält es sich so: Üppigkeit, Zügellosigkeit, Ungebundenheit, wenn der nötige Rückhalt da ist, das ist Tugend und Glückseligkeit, alles andere aber, diese schönen Namen und die das Naturrecht verletzenden Vereinbarungen der Menschen, sind leeres und unnützes Gerede.
Kap. 47. Sokr. Wacker ziehst du zu Felde, Kallikles, mit freimütiger Rede, denn jetzt sagst du ganz deutlich, was die andern denken, aber nicht sagen mögen. Ich bitte dich nun, unter keinen Umständen abzulassen, auf daß in Wirklichkeit klar werde, wie man leben muß. Und sage mir: Du meinst, die Begierden dürfen nicht eingeschränkt werden, wenn einer ein rechter Mann werden soll, sondern er muß sie recht groß werden lassen und dann ihnen Befriedigung schaffen, woher es auch immer sei, und das ist die Tugend?
Kall. Gewiß ist das meine Ansicht.
Sokr. Also sagt man nicht mit Recht, die Bedürfnislosen seien glücklich?
Kall. Da wären ja die Steine und die Leichname am glücklichsten.