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Die wahre Welt ist die Welt der Ideen. Die höchste Idee ist die Idee des Guten. Das Gute ist zugleich das Wahre und Schöne. Diese höchste Idee gleicht der Sonne, die alle Dinge sowohl entstehen als auch erkennen lässt. Sie ist identisch mit Gott, dessen Wesen Güte, Wahrheit und Schönheit im höchsten Sinne in sich schliesst. Somit stammt auch die Wahrheit in unserer Vernunft und die Wahrheit in den Dingen von Gott. Ein wahres Sein ist nur das Sein, das gut ist. Erst das Gute macht das Seiende zu einem wahrhaft Seienden. Nur ein guter König ist in Wirklichkeit ein König.
Staat VI. Kap. 18-21. Stephanus II, pag. 506 E-511 E.
Personen des Gesprächs: Sokrates; Glaukon.
Ort der Handlung: Das Haus des Kephalos, des ehrwürdigen Hauptes einer begüterten Familie im Piräus.
Zeit der Handlung: Das Jahr 410 n. Chr.
Kap. 18. Sokrates. Die Frage, was denn das Gute an sich ist, wollen wir für jetzt beiseite lassen, denn sie erscheint mir zu umfassend, als daß wir bei dem gegenwärtigen Anlaufe an das mir vorschwebende Ziel gelangen könnten; was aber ein Sohn des Guten zu sein scheint, und zwar ein ihm recht ähnlicher, das will ich sagen, wenn es euch lieb ist, wo nicht, es lassen.
Glaukon. Sag es nur! Die Erörterung über den Vater kannst du ja ein andermal nachholen.
Sokr. Ich wollte, ich könnte euch die ganze Schuld abtragen, und ihr könntet das Kapital in Empfang nehmen und nicht bloß, wie jetzt, die Zinsen. (Plato scherzt mit dem Worte τόϰος das er erst synonym mit dem Worte ἔϰγονος im Sinne von »Abkömmling, Sohn«, sodann in der Bedeutung »Zinsen« gebraucht.) Nehmt also einstweilen diesen Zinsertrag und Abkömmling des höchsten Gutes. Seht euch jedoch vor, daß ich euch nicht etwa wider meinen Willen mit einer falschen Rechnung über diese Zinsen hintergehe.
Glauk. Wir werden uns vorsehen, so gut wir können. Sprich nur!
Sokr. Erst nachdem ich mich mit euch über das verständigt habe, was wir vorhin und auch sonst schon oft erklärt haben, und es euch ins Gedächtnis zurückgerufen habe.
Glauk. Was ist denn das?
Sokr. Wir sagen und stellen fest, daß es viele schöne und viele gute Dinge gibt, und daß sich die Dinge jeglicher Art so verhalten.
Glauk. Ganz recht; so sagen wir.
Sokr. Und andererseits nehmen wir ein Schönes an sich an und ein Gutes an sich und verfahren mit allem so, was wir vorhin als eine Vielheit setzten: wir bringen die Dinge einer jeden Art unter eine Idee in der Überzeugung, daß es von ihnen nur eine Idee gibt, und bezeichnen ein jedes als das, was es seiner Idee oder seinem Begriffe nach ist.
Glauk. So ist es.
Sokr. Und von den vielen Einzeldingen sagen wir, sie werden gesehen, aber nicht gedacht, dagegen sagen wir von den Ideen, sie werden gedacht, aber nicht gesehen.
Glauk. Sicherlich.
Sokr. Mit welchem Teile von uns sehen wir nun das, was wir sehen?
Glauk. Mit unserer Sehkraft.
Sokr. Nehmen wir nicht auch mit dem Gehör das wahr, was wir hören, und mit den übrigen Sinnen alles sonst sinnlich Wahrnehmbare?
Glauk. Freilich.
Sokr. Last du bemerkt, wie der Schöpfer der Sinneswerkzeuge das Vermögen zu sehen und sichtbar zu werden bei weitem am vollkommensten eingerichtet hat?
Glauk. Das ist mir entgangen.
Sokr. Betrachte die Sache so! Haben Gehör und Ton noch etwas anderes nötig, damit das Ohr höre und der Ton gehört werde, in der Weise, daß ohne das Hinzukommen dieses dritten das Ohr nicht hören und der Ton nicht gehört werden kann?
Glauk. Nein.
Sokr. Ich meine aber/daß auch viele andere Vermögen, um nicht zu sagen alle, nichts derartiges bedürfen. Oder kannst du eines nennen?
Glauk. Ich weiß keines.
Sokr. Merkst du nicht, daß für das Sehen und das Sichtbare es eines solchen dritten bedarf?
Glauk. Wie so?
Sokr. Nimm an, es ist Sehkraft in den Augen, und ihr Besitzer versucht sie zu brauchen, und es ist Farbe an den Dingen; wenn nicht ein drittes hinzukommt, das eigens hierfür geschaffen ist, so wird, wie du weißt, die Sehkraft nichts sehen, und die Farben werden unsichtbar bleiben.
Glauk. Was meinst du denn damit?
Sokr. Eben das, was du Licht nennst.
Glauk. Du hast recht.
Sokr. Durch eine nicht geringe Sache sind also die Wahrnehmung des Gesichts und die Sichtbarkeit mit einem köstlicheren Bande als die übrigen paarweisen Vereinigungen dieser Art umschlungen; es müßte denn das Licht etwas Wertloses sein.
Glauk. Das ist es ganz gewiß nicht.
Kap. 19. Sokr. Welchen von den Göttern des Himmels kannst du nun als den Gebieter hierüber angeben, dessen Licht es uns schafft, daß unser Auge so schön sieht und das Sichtbare gesehen wird?
Glauk. Genau denselben wie du und alle anderen. Du fragst ja offenbar nach der Sonne.
Sokr. Verhält sich nun die Sehkraft zu diesem Gott so?
Glauk. Wie denn?
Sokr. Die Sehkraft ist nicht die Sonne, weder sie selbst noch das, worin sie wohnt, was wir bekanntlich Auge nennen.
Glauk. Gewiß nicht.
Sokr. Aber das Sonnenähnlichste, denke ich, ist das Auge unter den Sinneswerkzeugen.
Glauk. Bei weitem.
Sokr. Also gleicht auch die Kraft, die das Auge hat, einem zugeströmten Besitze, den ihm dieser Gott aus seinem Schatze spendet
Glauk. Ganz gewiß.
Sokr. Demnach ist auch die Sonne nicht Sehkraft, aber sie ist ihre Ursache und wird von ihr gesehen?
Glauk. So ist es.
Sokr. Nimm also an, daß ich mit ihr den Sprößling des Guten meine, den das Gute geschaffen hat seinem eigenen Wesen entsprechend. Wie sich nun das Gute in dem Reiche der Gedanken zu dem Denken und zu dem Gedachten verhält, so verhält sich der Abkömmling des Guten in dem Reiche des Sichtbaren zu dem Sehen und zu dem, was gesehen wird.
Glauk. Wie? Erkläre es mir noch genauer!
Sokr. Du weißt doch, wenn einer die Augen nicht auf solche Gegenstände richtet, auf deren Oberflächen das Licht des Tages fällt, sondern die Schimmer der Nacht, so sind sie blöde und erscheinen fast blind, wie wenn keine reine Sehkraft in ihnen wäre.
Glauk. Gar wohl.
Sokr. Wenn aber auf solche Gegenstände, die die Sonne bescheint, dann sehen sie deutlich, und es zeigt sich, daß denselben Augen reine Sehkraft innewohnt.
Glauk. Gewiß.
Sokr. In gleicher Weise denke dir auch bei der Seele die Sache folgendermaßen: Wenn sie sich dem zuwendet, was von der Wahrheit und dem Sein erhellt wird, so denkt sie und erkennt es und scheint Vernunft zu haben; wenn sie sich aber auf das richtet, was mit Finsternis vermengt ist, auf das Entstehende und Vergehende, so hat sie nur Meinungen und ist blöde, indem sie ihre Meinungen hin und her ändert, und es sieht nun so aus, als ob sie keine Vernunft hätte.
Glauk. Allerdings.
Sokr. Das nun, was dem Erkennbaren seine Wahrheit gewährt und dem Erkennenden die Erkenntnis schafft, nenne die Idee des Guten, die der Grund des Wissens und der Wahrheit ist. Während aber beide schön sind, die Erkenntnis und die Wahrheit, so betrachte doch das Gute als etwas anderes und noch Schöneres als diese, und das wird die rechte Weise der Betrachtung sein. Wie es aber im vorhergehenden Falle richtig ist, Licht und Sehkraft für sonnenartig zu halten, aber für die Sonne sie zu halten nicht richtig ist, so ist es auch im vorliegenden Falle richtig. Wissen und Wahrheit als dem Guten verwandt anzusehen, aber in dem einen oder dem anderen von ihnen das Gute selbst zu erblicken, ist nicht richtig, sondern man muß die Idee des Guten noch höher schätzen.
Glauk. Von einer unermeßlichen Schönheit sprichst du, wenn das Gute Wissen und Wahrheit schafft, selbst aber an Schönheit noch über ihnen steht. Du meinst damit doch wohl nicht die Lust?
Sokr. Laß so gottlose Rede und betrachte vielmehr das Abbild des Guten noch weiter so!
Glauk. Wie?
Sokr. Ich denke, du wirst bekennen, daß die Sonne nicht bloß das Vermögen, gesehen zu werden, schafft, sondern auch Werden, Wachsen und Gedeihen, obwohl sie selbst kein Werden ist. Und so erkläre denn auch, daß durch das Gute dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden zukommt, sondern außerdem auch Sein und Wesen zu eigen wird, obwohl das Gute nicht bloßes Sein und Wesen ist, sondern an Würde und Macht es überragt.
Kap. 20. Es gibt also zwei Mächte, das Gute und die Sonne, von denen die eine im Reiche der Gedanken, die andere im Reiche des Sichtbaren herrscht. Diese beiden Gebiete gleichen einer geteilten Linie. Teile ich die eine Linie, die, welche dem Gebiete des Sichtbaren entspricht, noch einmal, so stellt der eine dieser beiden Unterteile die Welt der Bilder dar. Die Welt des Sichtbaren ist nämlich zu einem Teile eine Welt der Bilder, wie sie sich als Schatten oder im Wasser oder in Spiegeln irgendwelcher Art zeigen. Der andere Teil der Linie, die das Sichtbare bezeichnet, ist die Welt dessen, wovon jene Bilder Bilder sind, die Tiere der Erde, das ganze Pflanzenreich und alles, was von Menschenhand bereitet ist. Ebenso zerfällt nun auch die Welt der Gedanken in zwei Gebiete. Das eine ist das Gebiet der Mathematik. Der Mathematiker nimmt eine grosse Anzahl von Dingen an, wie z. B. Ungerade, Gerade, Figur, die Arten der Winkel, und gibt darüber weder sich noch anderen Rechenschaft, in dem Glauben, dass sie einem jeden klar sind. Dasselbe gilt auch von den Axiomen, z. B. von dem Grundsätze, dass zwischen zwei Punkten nur eine gerade Linie möglich sei. Solche Begriffe und Sätze untersucht der Mathematiker nicht und führt sie nicht auf eigentliche Prinzipien zurück, sondern macht sie ohne weiteres zur Grundlage seiner Deduktionen, er geht von ihnen aus nicht dem Anfänge und Grunde aller Beweisführung zu, sondern auf das Ende; d. h. auf den zu beweisenden Satz. Auch nehmen die Mathematiker bei ihren Erörterungen und Beweisführungen sichtbare Formen zu Hilfe und reden von diesen, brauchen sie aber nur als Abbilder und meinen dabei das Viereck an sich und die Diagonale an sich, indem sie die mathematischen Dinge ihrem Wesen nach zu erfassen suchen, was nur mit dem Verstände geschehen kann.
Kap. 21. Auf diesem Gebiete des Denkens sieht sich die Seele genötigt, bei ihren Untersuchungen sich an Voraussetzungen zu halten, ohne auf den Anfang und Ursprung zurückzugehen, gleich als ob sie über die Voraussetzungen nicht hinausgehen könnte, und indem sie, um Gedanken und Begriffe klarzumachen, Bilder braucht, gerade das zu brauchen, was dem Niederen, den Sinnendingen nachgebildet ist, und so werden die Sinnendinge im Vergleiche zu den Gegenständen des Denkens als das Klare und Deutliche geschätzt und geehrt.
Das andere Gebiet im Reiche der Gedanken ist dasjenige, das die Vernunft selbst mit der Kraft der Dialektik, d. h. mit philosophischem Denken erfasst. Diese behandelt die Voraussetzungen nicht als Prinzipien, sondern wirklich als Voraussetzungen, gleichsam als Zugänge und Anläufe, um bis zum Voraussetzungslosen, zum Grund und Ursprünge des Alls zu kommen. Wenn die Vernunft aber diesen erfasst hat, dann hält sie sich wiederum an das, was aus ihm folgt, und steigt so von dem Anfänge zum Ende hinab. Sinnlich Wahrnehmbares verwendet sie dabei gar nicht, sondern sie arbeitet mit Ideen, geht von ihnen aus und endet mit ihnen. Die Ideen aber sind die Gedanken Gottes, Gott aber ist ein Geist, und so besteht sein Wesen in seinen Gedanken, deren oberster und höchster der Gedanke des Guten ist. So vollendet sich die philosophische Erkenntnis in der Erkenntnis Gottes, der der Grund und Ursprung aller Erkenntnis und alles wahren Seins ist. Dieses höchste Gebiet, dieses Reich der Ideen oder Gedanken Gottes zu erfassen, ist Sache der Vernunft und des vernünftigen Denkens. Das zweite Gebiet, das Gebiet des Mathematischen, gleicht dem ersten Gebiete dadurch, dass seine Gegenstände gleichfalls Begriffe sind, denen Wahrheit im vollen Sinne des Wortes zukommt, aber es steht dadurch hinter ihm zurück, dass hier Voraussetzungen als Prinzipien verwandt und Vernunftwahrheiten mit Hilfe von Figuren und Zeichnungen, also mit Hilfe von Bildern dargetan werden. Darum ist die Erkenntnis dieses zweiten Gebietes nicht mehr Sache der Vernunft, sondern des Verstandes. Das dritte Gebiet ist die Welt der konkreten Dinge. Auch diese haben an der Wahrheit teil, insofern sie an den Ideen oder Begriffen teilhaben, da sie nach diesen bereitet sind. Die konkrete Kugel, die der Mechaniker schafft, hat teil an dem Begriffe Kugel, weil dieser dem Mechaniker bei seiner auf die Anfertigung einer konkreten Kugel gerichteten Tätigkeit als Muster, Paradigma, vorgeschwebt hat. So ist die konkrete Kugel ein Abbild der begrifflichen Kugel. Ebenso sind die Dinge in der Natur Abbilder der Gedanken Gottes, die er in ihnen zur Darstellung bringen wollte. Das Werden in der Natur, mit anderem Worte das Schaffen Gottes, denkt sich Plato nach der Analogie der Bereitung durch Menschenhand. Gott ist ihm der grosse Werkmeister. Aber die Dinge dieses dritten Gebietes sind Darstellungen der Ideen an einem Stoffe, der seiner eigentlichen Natur nach der Form und Bestimmtheit entbehrt, und insofern der Wahrheit und damit der Erkennbarkeit ermangelt. Vollkommen wahr und damit vollkommen erkennbar ist nur die Welt des Geistes, darum sind die Sinnendinge nur insoweit wahr und erkennbar, als sie an dieser Welt teilhaben, d. h. soweit die Begriffe in ihnen zur Darstellung kommen, oder mit platonischer Ausdrucksweise, soweit sie Abbilder der Ideen sind. Erkennbar ist ferner nur das Einheitliche und Unwandelbare, nur das, was wie die Begriffe der Kategorie des Seins angehört. Aber die Sinnendinge gehören hinein in das Gebiet des Entstehens und Vergehens, des Unsteten und Wandelbaren, sie sind fortwährend im Flusse und bieten darum dem Denken keinen Halt und Stand. So sind die Sinnendinge nicht Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern des Glaubens. Die Menschen glauben eben, etwas von ihnen zu wissen. Sind die Sinnendinge Abbilder der Ideen, so sind die erwähnten Schatten und Bilder Abbilder von diesen Abbildern und damit von dem eigentlichen Sein und der Wahrheit noch viel weiter entfernt. Ein Schluss von ihnen auf das Seiende ist daher nur Vermutung.
Der natürliche Mensch wandelt nicht im Lichte der Erkenntnis, sondern gleicht solchen, die in einer spärlich erhellten Höhle wohnen, in der sie nur Schattenbilder sehen, die sie aber für Wirklichkeit halten.
Staat VII. Kap. 1 und 2. Stephanus II, pag. 514 A-517 A.
Personen, Ort und Zeit des Gesprächs sind dieselben wie vorher.
Kap. 1. Sokrates. Vergleiche nun, so fuhr ich fort, unsere Natur hinsichtlich der Bildung und des Mangels an Bildung folgendem Zustande: Denk dir Menschen in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung, mit einem Eingänge, der sich weit, der ganzen Breite der Höhle entlang, dem Lichte zu öffnet. In ihr sind sie von klein auf, gefesselt an Schenkeln und am Halse, so daß sie in derselben Haltung verharren müssen und nur nach vorn sehen können, den Kopf aber herumzudrehen infolge der Fesselung nicht imstande sind. Licht gewährt ihnen ein Feuer, das oben in der Ferne hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen führt oben ein Weg hin. An diesem entlang denke dir eine niedrige Mauer aufgeführt gleich den Schranken, mit denen sich die Gaukler von den Zuschauern absperren und über die herüber sie ihre Kunststücke zeigen. Siehe nun, wie neben dieser Mauer Leute allerhand Geräte tragen, die über die Mauer hervorragen, und Bildsäulen und Tiere von Stein und Holz und von allerlei Arbeit. Wie natürlich, reden die einen von ihnen dabei, die anderen tragen sie stillschweigend vorüber.
Glaukon. Das ist ein seltsames Bild, und von seltsamen Gefangenen sprichst du.
Sokr. Sie gleichen uns. Meinst du denn, daß solche erstens von sich selbst und voneinander etwas anderes gesehen haben als die Schatten, die von dem Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle geworfen werden?
Glauk. Wie sollten sie denn, wenn sie genötigt sind, den Kopf zeitlebens unbewegt zu halten?
Sokr. Was sehen sie aber von den vorbeigetragenen Gegenständen? Nicht genau dasselbe, nur ihre Schatten?
Glauk. Was denn sonst?
Sokr. Wenn sie nun miteinander reden könnten, meinst du nicht, daß es da bei ihnen Brauch sein würde, eben diesen vorüberziehenden Gegenständen, die sie sehen, Namen beizulegen?
Glauk. Ganz unbedingt.
Sokr. Wie nun? Wenn in ihrer Höhle ein Echo von der gegenüberstehenden Wand her wäre und es spräche einer von den Vorübergehenden, würden sie da etwas anderes für das Sprechende halten als den vorüberziehenden Schatten?
Glauk. Beim Zeus, das glaube ich nicht.
Sokr. Überhaupt würden solche nichts anderes für das Wahre halten als die Schatten der von Menschenhand bereiteten Gegenstände. Erwäge nun auch, wie ihre Lösung und Heilung von den Fesseln und dem Unverstande naturgemäß vor sich gehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Nimm an, es werden einem seine Fesseln gelöst und er wird plötzlich genötigt aufzustehen, seinen Hals umzuwenden, zu gehen und gegen das Licht zu sehen, und er empfindet bei allen diesen Verrichtungen Schmerz und vermag vor dem Flimmern die Gegenstände nicht zu sehen, deren Schatten er vorher sah, was würde der wohl sagen, wenn jemand zu ihm spräche: »Was du früher sahst, war alles nichtig, jetzt aber, wo du dem Seienden etwas näher und dem in höherem Grade Seienden zugewandt bist, stehst du richtiger«, und zeigte ihm jedes der vorüberziehenden Dinge und nötigte ihn durch seine Fragen anzugeben, was es ist? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und das früher Gesehene für wahrer halten als das, was ihm jetzt gezeigt wird?
Glauk. Bei weitem.
Kap. 2. Sokr. Wenn man ihn nun nötigte, in das Licht selbst zu sehen, so würden ihn die Augen schmerzen, und er würde sich abwenden und seine Zuflucht zu den Gegenständen nehmen, die er anzuschauen vermag, und er würde diese für tatsächlich erkennbarer halten als die ihm gezeigten. Und wenn ihn einer von da den rauhen und steilen Aufstieg mit Gewalt heraufzöge und nicht eher losließe, als bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er da nicht heftige Schmerzen empfinden und böse darüber sein, daß man ihn heraufschleppt, und wenn er an das Licht kommt, die Augen geblendet von dem Glanze, nicht imstande sein, auch nur einen der Gegenstände zu sehen, die ihm jetzt als die wirklichen bezeichnet werden?
Glauk. Wenigstens nicht sofort.
Sokr. Der Gewöhnung also wird es bedürfen, wenn er die Dinge hier oben sehen soll. Und zunächst wird er am leichtesten die Schatten ansehen können, sodann die Bilder von Menschen und anderen Gegenständen im Wasser, später sie selbst. Darnach wird er die Himmelskörper und den Himmel selbst bei Nacht leichter betrachten können, indem er das Auge auf das Licht der Sterne und des Mondes richtet, als am Tage die Sonne und ihr Licht. Zuletzt nun wird er die Sonne, nicht Spiegelbilder von ihr im Wasser und an fremder Stätte, sondern sie selbst an ihrem eigenen Platze ansehen können und sie schauen, wie sie ist. Und darnach wird er nunmehr folgern, daß sie es ist, die die Jahreszeiten und Jahre schafft und im ganzen Reiche des Sichtbaren waltet und gewissermaßen auch die Ursache ist von allen den Dingen, die sie selbst sahen. Wie nun? Wenn er zurückdenkt an seine erste Wohnung und an die Weisheit dort und an seine damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, daß er sich glücklich preist wegen des Wandels und jene bedauert?
Glauk. Ganz gewiß.
Sokr. Gab es nun damals bei ihnen Ehren und gegenseitige Lobeserhebungen und Gaben für einen, der die vorüberziehenden Schatten am schärfsten erblickte und am besten im Gedächtnisse behielt, wie viele von ihnen früher oder später oder zugleich zu kommen pflegten, und daher am besten Voraussagen konnte, was nun kommen werde, meinst du, daß ihn darnach verlange und daß er die bei ihnen Hochangesehenen und Mächtigen beneide, oder wird ihm vielmehr das begegnen, wovon Homer spricht, daß er viel lieber als Ackerknecht bei einem dürftigen Manne für Lohn arbeiten und lieber alles über sich ergehen lassen will, als wieder jene Vorstellungen zu haben und zu leben wie dort?
Glauk. Das ist meine Ansicht. Er wird sich lieber alles gefallen lassen, als so zu leben.
Sokr. Bedenke nun auch das! Wenn ein solcher wieder Hinabstiege und sich auf denselben Platz setzte, würde da nicht Dunkel seine Augen erfüllen, da er so plötzlich aus dem Lichte der Sonne kam? Und wenn er in der Beurteilung jener Schatten mit den fortgesetzt dort Gefesselten wetteifern sollte, während seine Augen noch blöde sind und sich noch nicht wieder an das Dunkel gewöhnt haben – und diese Zeit der Gewöhnung wäre wohl keine ganz kurze – würde man ihn da nicht verlachen und von ihm sagen: »Er ist hinaufgestiegen und mit verdorbenen Augen zurückgekehrt. Es lohnt gar nicht, daß man auch nur versucht, hinauszusteigen«? Und wenn er daranginge, ihre Fesseln zu lösen und sie hinaufzuführen, würden sie ihn nicht sogar töten, könnten sie ihn irgendwie unter ihre Hände bekommen?
Glauk. Ganz gewiß.
Phädon Kap. 18-22. Stephanus I, pag. 72 E-77 B.
Personen des Gesprächs: Sokrates; Kebes und Simtas, zwei junge Thebaner, Schüler des berühmten Pythagoreers Philolaos.
Ort der Handlung: Das Staatsgefängnis in Athen.
Zeit: Das Jahr 399 v. Chr., am Tage der Hinrichtung des Sokrates.
Vor dem Eintritte in dieses Leben war die Seele im bewussten Besitze von Begriffen, also im Besitze des Denkens. An den Dingen dieser Welt besinnt sich der Geist auf seinen ewigen Inhalt. Lernen ist also Wiedererinnerung.
Kap. 18. Kebes ergriff das Wort und sprach: Auch nach jenem Satze, den du so oft vorträgst, daß nämlich unser Lernen nichts anderes sei als Wiedererinnerung, auch nach diesem müssen wir, falls er wahr ist, irgendwo in einer früheren Zeit das gelernt haben, woran wir uns jetzt erinnern. Das ist aber unmöglich, wenn nicht unsere Seele irgendwo war, bevor sie in diese menschliche Gestalt eintrat. Daher scheint auch aus diesem Grunde die Seele ein unsterbliches Wesen zu sein.
Simias. Welches sind denn die Beweise hierfür, mein Kebes? Komm meinem Gedächtnisse zu Hilfe, denn im Augenblicke kann ich mich nicht recht darauf besinnen.
Kebes. Erinnere dich nur an den einen sehr schönen Satz, daß die Menschen, in der rechten Weise gefragt, von selbst über alles richtige Antworten geben. Das wäre gewiß nicht möglich, wären nicht in ihnen Wissen und wahre Begriffe vorhanden. Daß dem so ist, zeigt sich am deutlichsten, wenn man sie zu geometrischen Figuren oder etwas ähnlichem hinführt.
Sokr. Wenn du dich nicht auf diese Weise hiervon überzeugen kannst, lieber Simias, so erwäge, ob du nicht etwa auf folgendem Wege zu unserer Ansicht kommst. Du zweifelst, wie das, was man Lernen nennt, Wiedererinnerung sein kann?
Sim. Ich zweifele gar nicht daran; es muß mir aber eben das widerfahren, wovon die Rede ist, ich muß wieder erinnert werden. Und schon nach dem, was Kebes vorzutragen begonnen hat, besinne ich mich so ziemlich darauf und überzeuge mich davon. Trotzdem möchte ich jetzt gern hören, auf welche Weise du es nachzuweisen versuchtest.
Sokr. So höre! Wir stimmen doch wohl darin überein, wenn jemand an etwas wieder erinnert werden soll, so muß er das früher einmal gewußt haben.
Sim. Ganz gewiß.
Sokr. Herrscht nun unter uns auch darüber Übereinstimmung, daß es Wiedererinnerung ist, wenn uns auf folgende Weise ein Wissen zuteil wird? Ich meine so: Wenn jemand etwas gesehen oder gehört oder mit irgend einer anderen Sinneswahrnehmung erfaßt hat und nicht bloß dieses erkannt, sondern auch noch die Vorstellung von etwas anderem gewonnen hat, was nicht Objekt desselben Wissens, sondern eines anderen Wissens ist, da sagen wir mit Recht, er habe sich dessen, wovon er zugleich die Vorstellung gewann, wieder erinnert. Es ist ein anderes Wissen, wenn jemand einen bestimmten Menschen kennt, und ein anderes, wenn er eine bestimmte Lyra kennt, und doch begegnet den Liebenden, wenn sie die Lyra ihres Lieblings sehen, während dieser selbst fern ist, folgendes: Sie erkennen die Lyra, und zugleich tritt ihnen das Bild des Knaben vor die Seele, dem die Lyra gehört. Das aber ist Wiedererinnerung. Und wenn einer von einem ihm bekannten Freundespaare den einen sieht, so erinnert er sich zugleich des andern, wie schon oft einer, wenn er Simias sah, sich des Kebes erinnerte. Ein solcher Vorgang ist eine Art von Wiedererinnerung, doch vor allem dann, wenn uns das in bezug aus Dinge widerfährt, die wir lange Zeit nicht gesehen und so vergessen haben. Man kann sich aber auch, wenn man ein gemaltes Pferd oder eine gemalte Laute sieht, desjenigen erinnern, der auf dem wirklichen Pferde zu reiten oder auf der wirklichen Laute zu spielen pflegt, von denen das gemalte Pferd und die gemalte Laute Abbilder sind. Und wenn man von einem Freundespaare, das man kennt, den einen Freund gemalt sieht, so erinnert man sich auch der wirklichen Person des anderen Freundes. Und so kann man sich auch, wenn man einen Freund gemalt sieht, sich des Freundes selbst erinnern.
Diese einfachste Art der Ideenassoziation steht zuletzt, weil das Ziel der ganzen Erörterung ist, zu zeigen, wie wir durch das Abbild an das Urbild, durch die Sinnendinge an die Ideen erinnert werden.
Kap. 19. Aus allen diesen Fällen ergibt sich, daß die Wiedererinnerung sowohl von Ähnlichem als auch von Unähnlichem ausgehen kann. Wenn ich mich beim Anblicke eines Porträts der dargestellten Person erinnere, so geht die Wiedererinnerung von ähnlichem aus, dagegen geht sie von Unähnlichem aus, wenn ich mich beim Anblicke eines Rosses des Reiters erinnere, der es zu reiten pflegt. Wenn nun die Wiedererinnerung von Ähnlichem ausgeht, so muß das sich erinnernde Subjekt noch ein zweites erleiden: es muß bedenken, ob der vorliegende Gegenstand in bezug auf Ähnlichkeit hinter dem Gegenstände, an den er erinnert, irgendwie zurückbleibt oder nicht. Erwäge, ob sich das so verhält. Wir sagen doch wohl, daß es ein Gleiches gibt, ich meine nicht ein einem anderen Holze gleiches Holz, auch nicht einen einem anderen Steine gleichen Stein und überhaupt nichts dieser Art, sondern ich meine das Gleiche an sich. Sollen wir sagen, daß das Gleiche an sich etwas Wirkliches ist, oder sollen wir sagen, daß es nichts ist?
Sim. Beim Zeus! Wahrhaftig, wir wollen sagen: In ganz wundervoller Weise ist es etwas Wirkliches.
Sokr. Wissen wir denn auch, was es ist?
Sim. Jawohl.
Sokr. Und woher haben wir das Wissen von ihm gewonnen? Doch nicht aus den Gegenständen, die wir anführten? Es ist doch nicht etwa so, daß wir gleiche Hölzer oder gleiche Steine oder sonst irgendwelche gleiche Dinge gesehen und durch sie den Begriff Gleich gewonnen haben, der doch von jenen allen verschieden ist? Oder scheint er dir etwa nicht davon verschieden zu sein? Betrachte die Sache auch so! Erscheinen nicht manchmal dieselben Steine und dieselben Hölzer dem einen als gleich, dem andern aber nicht?
Sim. Ganz gewiß.
Sokr. Wie nun? Ist dir denn jemals das Gleiche an sich als ungleich erschienen oder die Gleichheit als Ungleichheit?
Sim. Niemals, mein Sokrates.
Sokr. Also sind die gleichen Dinge, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, und das Gleiche selbst nicht identisch. Und doch hast du von gleichen Sinnendingen aus, die doch etwas anderes sind als der Begriff Gleich, dennoch die Kenntnis dieses Begriffes gewonnen. Ist er ihnen nun ähnlich oder unähnlich?
Sim. Ähnlich.
Sokr. Ganz recht, doch kommt nichts darauf an. Wenn du nur dadurch, daß du etwas siehst, von dieser Gesichtswahrnehmung aus die Vorstellung von etwas anderem gewinnst, mag es nun etwas Ähnliches oder etwas Unähnliches sein, so ist dieser Vorgang unbedingt Wiedererinnerung. Wie aber? Begegnet uns so etwas bei den gleichen Formen an den Hölzern und den gleichen Dingen, von denen wir jetzt eben sprachen? Scheinen diese so gleich zu sein wie das Gleiche an sich, oder mangelt ihnen etwas daran, so zu sein wie dieses Gleiche?
Sim. Recht viel mangelt ihnen daran.
Sokr. Wir stimmen doch nun darin überein: wenn einer etwas sieht und dabei die Vorstellung gewinnt, das, was ich jetzt sehe, will so sein wie etwas anderes, es mangelt ihm aber etwas daran, und es vermag nicht so zu sein wie jenes, sondern es ist schlechter, wenn einer so denkt, so muß er doch wohl das vorher gekannt haben, dem, wie er sagt, der vorliegende Gegenstand zwar ähnlich ist, aber doch nicht gleichkommt?
Sim. Unbedingt.
Sokr. Wie nun? Ergeht es auch uns so gegenüber den gleichen Dingen und dem eigentlichen Gleichen?
Sim. Durchaus.
Sokr. Folglich müssen wir das Gleiche vor der Zeit gekannt haben, wo wir zum ersten Male die gleichen Dinge sahen und wahrnahmen: alle diese Dinge streben danach, so zu sein wie das Gleiche selbst, stehen aber hinter ihm zurück.
Sim. So ist es.
Sokr. Gewiß stimmen wir auch darin überein, daß wir diese Erkenntnis von keiner anderen Seite her gewonnen haben noch auch gewinnen können, als infolge der Wahrnehmungen des Gesichtes oder des Gefühls oder sonst eines der Sinne; denn in dem vorliegenden Falle kommt das auf eins hinaus. Also müssen wir infolge der Sinneswahrnehmungen zu der Erkenntnis kommen, daß alle Sinnendinge nach dem wahrhaft Gleichen streben, aber hinter ihm zurückbleiben. Bevor wir also zu sehen und zu hören und mit den übrigen Sinnen wahrzunehmen begannen, mußten wir irgendwo ein Wissen von dem Gleichen an sich erhalten haben, wenn wir die mit den Sinnen wahrgenommenen gleichen Dinge darauf zurückführen sollten.
Sim. Nach dem vorhin Gesagten, lieber Sokrates, kann es gar nicht anders sein.
Sokr. Nun sahen wir doch gleich von Geburt an und hörten und hatten auch die übrigen Sinneswahrnehmungen?
Sim. Jawohl.
Sokr. Da mußten wir doch schon vorher das Wissen von dem Gleichen erhalten haben?
Sim. Gewiß.
Sokr. Offenbar also müssen wir es vor unserer Geburt erhalten haben.
Kap. 20. Wenn wir nun dieses Wissen vor unserer Geburt erhielten und im Besitze davon geboren wurden, da wußten wir doch schon vor unserer Geburt und gleich von Geburt an nicht nur das Gleiche und das Größere und das Kleinere, sondern die Begriffe insgesamt? Denn keineswegs ist jetzt in höherem Grade die Rede von dem Gleichen als von dem Schönen an sich und dem Guten an sich und von dem Gerechten und Frommen und, wie gesagt, von allem, was wir als das wahrhaft Seiende kennzeichnen, bei unseren Fragen, wenn wir fragen, und bei unseren Antworten, wenn wir antworten. Also müssen wir unbedingt das Wissen von allen diesen Begriffen vor unserer Geburt erhalten haben. Und wenn wir es erhalten und nicht vergessen haben, so müssen wir im dauernden Besitze des Wissens geboren werden und Zeit unseres Lebens wissend sein. Denn Wissen heißt die gewonnene Kenntnis einer Sache haben und nicht verloren haben. Oder nennen wir den Verlust einer Kenntnis nicht Vergessen?
Sim. Es ist doch ganz gewiß so, lieber Sokrates.
Sokr. Wenn wir nun das Wissen der Begriffe vor unserer Entstehung empfangen und bei unserer Entstehung verloren haben, später aber mit Hilfe der Sinneswahrnehmungen an den konkreten Dingen uns wieder auf jenes Wissen besinnen, das wir schon einmal hatten, ist da nicht das, was wir Lernen nennen, die Wiedergewinnung eines uns von Haus aus eigentümlichen Wissens?
Sokr. Das zeigte sich ja als möglich, daß einer dadurch, daß er etwas wahrnahm, sei es durch das Gesicht oder durch das Gehör oder sonst einen Sinn, von da aus noch eine Vorstellung von etwas anderem gewann, was er vergessen hatte, und zu dem der sinnlich wahrgenommene Gegenstand in einer Beziehung stand, mochte er ihm nun unähnlich oder ähnlich sein. So findet, wie gesagt, eines von zweien statt: entweder werden wir im Besitze des Wissens, d. h. mit dem klaren Bewußtsein von den Begriffen geboren und haben dieses Wissen allesamt das ganze Leben hindurch, oder diejenigen, die, wie wir sagen, lernen, erinnern sich lediglich später der Begriffe wieder, und Lernen ist Wiedererinnerung.
Sim. Ganz gewiß ist es so, lieber Sokrates.
Kap. 21. Sokr. Wofür entscheidest du dich nun, mein Simias, dafür, daß wir wissend geboren wurden, oder daß wir uns später dessen erinnern, wovon wir früher ein Wissen empfangen hatten?
Sim. Im Augenblicke kann ich mich nicht entscheiden.
Sokr. Wie steht es aber mit dem Folgenden? Kannst du dich für dieses entscheiden, und wie denkst du darüber? Ein Mann, der etwas weiß, kann doch von dem, was er weiß, Rechenschaft geben, oder nicht?
Sim. Ganz unbedingt, lieber Sokrates.
Sokr. Scheinen dir wirklich alle Rechenschaft geben zu können von dem, was wir jetzt besprachen?
Sim. Ich wünschte es sehr, aber ich fürchte weit mehr, daß morgen um diese Stunde kein Mensch mehr imstande ist, dies in der rechten Weise zu tun.
Sokr. Also scheinen dir nicht alle diese Dinge recht zu wissen?
Sim. Keineswegs.
Sokr. Sie erinnern sich also an das, was sie einst gelernt haben?
Sim. Unbedingt.
Sokr. Und wann haben unsere Seelen das Wissen von den Begriffen erlangt? Doch gewiß nicht erst, seitdem wir Menschen geworden sind?
Sokr. Also früher?
Sim. Ja.
Sokr. Mein guter Simias, es waren also die Seelen schon früher da, bevor sie in menschlicher Gestalt waren, und hatten Erkenntnis.
Sim. Wir müßten denn dieses Wissen zur Zeit unserer Entstehung erhalten; denn diese Zeit ist noch übrig.
Sokr. Nun gut, mein Freund! Aber zu welcher anderen Zeit verlieren wir es? Denn wir werden ja nicht im Besitze dieses Wissens geboren, wie wir soeben übereinstimmend erklärt haben. Oder verlieren wir es in derselben Zeit, in der wir es auch erhalten? Oder weißt du eine andere Zeit anzugeben?
Sim. Keineswegs, mein Sokrates! Ohne es zu merken, habe ich nichtige Worte gesprochen.
Kap. 22. Sokr. Verhält es sich nun damit so, mein lieber Simias? Wenn die Dinge wirklich sind, die wir immer im Munde führen, das Schöne und Gute und die ganze Welt der Begriffe, und wenn wir die Gegenstände der Sinneswahrnehmung insgesamt auf diese als aus etwas früher in uns Vorhandenes beziehen und wir die Sinnendinge als Abbilder der Ideen betrachten: so ist es notwendig, daß in derselben Weise, wie die Begriffe wirklich sind, so auch unsere Seele schon existierte, bevor wir entstanden; wenn aber die Begriffe keine Realität haben, so ist wohl unsere Rede vergeblich gewesen? Verhält es sich so und besteht die gleiche Notwendigkeit dafür, daß die Begriffe wirklich sind und unsere Seelen existierten, noch ehe wir entstanden, und daß, wenn das erste fällt, auch das zweite hinsinkt?
Sim. Über alle Maßen scheint mir die gleiche Notwendigkeit zu bestehen, und zu guter Stunde nimmt unsere Rede ihre Zuflucht zu dem Satze, daß in gleicher Weise unsere Seele war, bevor wir wurden, wie die Wesenheit, von der du jetzt sprichst. Denn ich wüßte nichts, was mir so einleuchtend wäre, wie dieses, daß alle derartigen Dinge im vollsten Sinne des Wortes Wirklichkeit haben, das Schöne und das Gute und alle anderen Begriffe, von denen du eben sprachst, und der Beweis scheint mir genügend geführt.
Sokr. Wie steht es aber mit Kebes? Denn wir müssen doch auch Kebes überzeugen.
Sim. Meines Erachtens genügt auch ihm der Beweis, obwohl er bei wissenschaftlichen Erörterungen der hartnäckigste Zweifler ist, den es auf Erden gibt. Trotzdem glaube ich, er ist vollkommen davon überzeugt, daß unsere Seele war, bevor wir wurden.
Die voraufgehenden Gedankenreihen lassen sich auch folgendermassen wiedergeben: Die wissenschaftlichen Begriffe und Sätze können unmöglich aus der Sinneswahrnehmung stammen. Sie sind ein Produkt des Geistes, das er aus sich selbst schöpft. Da er nun aus sich nichts nehmen kann, was nicht in ihm liegt, so müssen sie a priori in ihm enthalten sein, sie müssen sein ursprüngliches Besitztum bilden, das er aus einer anderen Welt mitgebracht hat. So ist Plato die Tatsache der Wissenschaft ein unumstösslicher Beweis dafür, dass der Geist von vornherein im Besitze eines Wissens ist, das einer anderen Welt entstammt. Damit ist zugleich der Beweis gegeben, dass der Geist etwas Selbständiges ist, das unabhängig vom Körper existieren kann. Hiernach ist die Tatsache der Wissenschaft ein Beweis für das Dasein des Geistes als einer eigenen Substanz. Anderseits aber gibt es ohne den Geist keine Wissenschaft, also auch keine Begriffe oder Ideen. So gehören Ideen und Geist auf das innigste zusammen, und der Glaube an die Realität der Ideen fordert den Glauben an die Substantialität und Präexistenz des Geistes und umgekehrt.
Die Symposion betitelte Schrift Platos schildert ein Gastmahl, das Agathon zu Ehren seines ersten tragischen Sieges gegeben hat. Nach Beendigung der Mahlzeit und Vollziehung der beim Übergange zum Trinkgelage üblichen Bräuche wird beschlossen, da die meisten von dem grossen Festmahle des vorigen Abends etwas ermüdet seien, solle kein Zwang zum Trinken herrschen. Sodann beantragt Phädros, ein jeder der Tischgenossen solle der Reihe nach eine Lobrede auf den mächtigen Gott Eros halten.
Zuerst preist Phädros Eros als den ältesten unter den Göttern und als den grössten Wohltäter des Menschengeschlechtes, der im Privatleben sowohl als in der Gemeinschaft des Staates und des Heeres sittliches Gefühl erzeuge. Eros allein ist es, der den Entschluss hervorbringt, für andere das Leben zu lassen. Pausanias unterscheidet zwei Arten des Eros, den himmlischen (οὐϱάνιος) Eros und den gewöhnlichen (πάνδημος). Der erstere liebt mehr die Seele als den Leib und wendet sich mehr dem männlichen Geschlechte zu, das das verständigere ist. Darauf folgt eine Prüfung der Anschauungen, die bei den verschiedenen Stämmen der Griechen über den Wert des Eros herrschen. Der darauf folgende Redner, Eryximachos, erkennt die Doppelnatur des Eros an, aber dieser doppelte Eros herrscht nicht bloss über die Seelen der Menschen, sondern über die ganze Natur, die belebte sowohl als die unbelebte. Eryximachos beruft sich hierfür auf die Arzneikunst, auf die Musik, auf die Astronomie und auf die Religion. Der vierte Redner ist der grosse Lustspieldichter Aristophanes. Nach ihm schafft Eros Glückseligkeit durch Heilung der Gebrechen, von denen das Menschengeschlecht betroffen worden ist. Ursprünglich gab es drei Geschlechter: Doppelmann, Doppelweib und Mannweib. Sie waren rund an Gestalt, stark an Kraft und übermütig. Um ihren Übermut zu bändigen, teilte Zeus einen jeden in zwei Teile, drehte das Gesicht nach der Schnittfläche zu und liess durch Apollo die Haut über diese zusammenziehen und so die Wunde heilen. Die getrennten Hälften suchten sich, umarmten sich, ohne ihre Sehnsucht stillen zu können, und kamen auf diese Weise um. Aus Erbarmen mit ihnen ermöglichte Zeus die Befriedigung der Sehnsucht. Das Wesen der Liebe bleibt immer die Sehnsucht nach dem Verwandten. Trifft einer gerade auf die Hälfte, von der er selbst geschnitten ist, so ergreift ihn jene wunderbare Kraft der Liebe, die sich nur auf diese Weise erklären lässt. Für uns aber ergibt sich die Aufforderung, fromm zu sein gegen die Götter; denn durch nochmaligen Übermut würden wir uns der Gefahr aussetzen, noch einmal gespalten zu werden, durch Frömmigkeit dagegen eröffnen wir uns die Aussicht auf selige Wiedervereinigung mit unserer eigenen Hälfte durch den Eros, oder was diesem Glücke am nächsten kommt, die Aussicht, einen Geliebten zu gewinnen nach unserm Herzen. Der fünfte Redner, Agathon, preist die Eigenschaften des Gottes und seine Wohltaten. Eros ist der glücklichste unter den Göttern, denn er ist von allen der schönste und beste, und er ist ein Wohltäter der Menschen, denn er verleiht ihnen die Gaben, die er selbst besitzt.
Sokrates, der nun an die Reihe kommt, will statt einer Rede auf Eros mitteilen, was ihn die weise Diotima bei mehrfacher Gelegenheit über diesen gelehrt hat. Dies ist die klassische Stelle für das, was man »Platonische Liebe« zu nennen pflegt.
Symposion Kap. 22-29. Stephanus III, pag. 201 D-212 C.
Personen des Gesprächs: Sokrates; Diotima, eine philosophisch gebildete Frau und Priesterin des Zeus aus Mantinea.
Ort der Handlung: Das Haus des Tragikers Agathon.
Zeit des Gastmahls: 416 v. Chr.
Kap. 22. Sokrates. Ich will versuchen, die Rede über Eros mitzuteilen, die ich einst von Diotima, einer Frau aus Mantinea, vernommen habe, die in solchen und anderen Dingen weise war und den Athenern vordem durch ihr Opfer vor der Pest einen zehnjährigen Aufschub der Krankheit erwirkt hat. Diese hat mich denn auch über die Liebe belehrt. Dabei habe ich zuerst Wesen und Beschaffenheit des Eros, sodann seine Werke darzulegen. Meines Erachtens ist es nun das Leichteste, den Gegenstand in der Weise zu besprechen, wie es einst die Fremde tat, indem sie dabei Fragen an mich richtete. Ich sagte nämlich zu ihr ziemlich dasselbe, wie Agathon eben zu mir, Eros sei ein großer Gott und gehöre zu den Schönen; und sie bewies mir dagegen mit denselben Gründen wie ich ihm, daß er nach meiner eigenen Aussage weder schön noch gut sei. Da sprach ich zu ihr: »Wie meinst du das, Diotima? Eros ist also häßlich und schlecht?« Und sie sagte: »Schweig still! Meinst du denn, alles, was nicht schön ist, müsse unbedingt häßlich sein?« – »Jawohl.« – »Auch was nicht weise ist, unwissend? Hast du denn nicht bemerkt, daß zwischen Weisheit und Unwissenheit etwas in der Mitte liegt?« – »Was denn?« – »Weißt du nicht, daß eine richtige Vorstellung, für die man keine Gründe angeben kann, weder ein Wissen ist – denn wie könnte etwas, was der Gründe entbehrt, Wissen sein? – noch Unwissenheit, – denn wie könnte etwas, was das Richtige trifft, Unwissenheit sein? Mithin ist die richtige Vorstellung ein solch Mittleres zwischen Erkenntnis und Unwissenheit.« – »Da hast du recht«, erwiderte ich. – »Behaupte demnach nicht, alles, was nicht schön ist, sei häßlich, und was nicht gut ist, sei schlecht. Und so halte es auch mit dem Eros! Wenn du zugibst, daß er nicht gut und auch nicht schön ist, so glaube deswegen noch lange nicht, er müsse häßlich und schlecht sein, sondern ein Mittleres zwischen diesen beiden Gegensätzen.« – »Aber es räumen doch alle ein,« versetzte ich, »daß er ein großer Gott sei.« – »Meinst du damit alle, die ihn nicht kennen,« erwiderte sie, »oder auch die, die ihn kennen?« – »Gewißlich alle zusammen.« Da sagte sie lachend: »Und wie sollten die zugestehen, daß er ein großer Gott sei, die ihn überhaupt nicht für einen Gott halten?« – Wer sind denn die?« fragte ich. – »Einer bist du,« war ihre Antwort, »und eine bin ich.« – »Wie meinst du das?« fragte ich. – »Es liegt ja auf der Hand«, entgegnete sie. »Denn sag mir: Hältst du nicht alle Götter für selig? oder würdest du zu behaupten wagen, einer der Götter sei nicht selig?« – »Ganz gewiß nicht«, erwiderte ich. – »Selig nennest du aber doch wohl die, die sich im Besitze des Guten und Schönen befinden?« – »Jawohl.« – »Von Eros indes hast du selbst zugestanden, daß er des Guten und Schönen ermangelt.« – »Ja, das hab' ich getan.« – »Wie nun kann der ein Gott sein, der an dem Schönen und Guten keinen Teil hat?« – »Auf keinen Fall, scheint es.« – »Siehst du?« fuhr sie fort, »auch du hältst Eros für keinen Gott.«
Kap. 23. »Was soll denn nun Eros sein?« fragte ich. »Ein Sterblicher?« – »Auf keinen Fall.« – »Aber was denn?« – »Entsprechend den vorhin angeführten Beispielen ein Mittleres zwischen Sterblichem und Unsterblichem.« – »Was also, o Diotima?« – »Ein großer Dämon, mein Sokrates, denn alle dämonischen Wesen stehen in der Mitte zwischen Gottheit und sterblicher Kreatur.« – »Und welches ist ihr Geschäft?« fragte ich von neuem. – »Sie verdolmetschen und überbringen den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt, von den einen die Gebete und Opfer, von den andern die Gebote und Vergeltungen der Opfer, und indem sie in der Mitte von den beiden stehen, füllen sie die Lücke aus und bewirken so den Zusammenschluß des Alls. Durch sie geht alle Weissagung vor sich und alle Kunst der Priester, mögen sie es mit den Opfern oder mit den Weihen zu tun haben. Ein Gott kommt mit Menschen in keine Berührung, sondern aller Verkehr und alle Zwiesprache der Götter mit den Menschen und der Menschen mit den Göttern, im Wachen und im Schlafe, wird durch die Dämonen vermittelt. Wer sich nun hierauf versteht, der ist ein göttlicher Mann, wer aber sonst etwas versteht, sei es eine Kunst oder irgendwelche Handfertigkeit, ein Handwerker. Solcher Dämonen gibt es nun viele und von mancherlei Art, und einer von ihnen ist auch Eros.« – »Wer aber«, fragte ich, »ist sein Vater, und wer seine Mutter?« – »Das ist eine ziemlich lange Geschichte, gleichwohl will ich es dir sagen.
»Als Aphrodite auf die Welt gekommen war, da hielten die Götter einen Schmaus, und unter ihnen war auch Poros (der Erwerb), der Sohn der Metis (der Klugheit). Als nun das Mahl vorüber war, kam auch Penia (die Armut), um sich etwas zu erbetteln, denn es ging da gar hoch her, und stand an der Tür. Poros war, trunken vom Nektar – Wein gab es noch nicht –, in den Garten des Zeus gegangen und schlief da, vom Rausche gebannt. Penia nun, die wegen ihrer Bedürftigkeit darauf ausging, ein Kind von Poros zu gewinnen, gesellte sich zu ihm und empfing den Eros. Darum ist denn auch Eros ein Begleiter und Diener Aphrodites, da er an ihrem Geburtsfeste gezeugt ist, und zugleich auch darum, weil die Liebe zum Schönen ihm angeboren und Aphrodite schön ist. Als Sohn nun von Poros und Penia befindet sich Eros in folgender Lage: fürs erste ist er immer arm und gar nicht weich und schön, wie die meisten glauben, vielmehr hart und dürr, barfuß und ohne Behausung; er liegt immer auf dem Boden ohne Bett, schläft vor den Türen und auf den Gassen unter freiem Himmel, hat die Natur einer Mutter, und immer ist Dürftigkeit bei ihm zu Hause. Als der Sohn seines Vaters dagegen stellt er stets dem Schönen und dem Guten nach, ist er tapfer, keck und tatkräftig, ein gewaltiger Jägersmann, der immer irgendwelche Listen ersinnt, begierig nach Erkenntnis und sie zu erwerben geschickt, sein Lebenlang ein Freund der Weisheit, ein arger Zauberer, Medizinmann und Sophist, und weder wie ein Unsterblicher ist er geartet noch wie ein Sterblicher, sondern an einem und demselben Tage blüht und lebt er bald, bald stirbt er und lebt dann wieder auf infolge seiner vom Vater ererbten Art. Was er sich aber erwirbt, das zerrinnt ihm immer wieder unter den Händen. So ist Eros weder jemals mittellos noch reich. Zwischen Weisheit und Unwissenheit steht er in der Mitte. Damit verhält es sich nämlich so: Von den Göttern strebt keiner nach Weisheit, noch verlangt er, weise zu werden, denn er ist es; und auch sonst strebt niemand nach Weisheit, der schon weise ist. Andererseits verlangen auch die Unwissenden nicht nach der Weisheit und verlangen nicht darnach, weise zu werden; denn das ist eben das Schlimme an der Unwissenheit, daß man, ohne edel und gut und auch ohne verständig zu sein, doch mit sich ganz zufrieden ist. Wer aber meint, es gebreche ihm an nichts, der verlangt auch nicht nach dem, dessen er nicht zu ermangeln vermeint.« – »Wer sind denn nun die,« sagte ich, »o Diotima, die nach Weisheit streben, wenn es weder die Weisen noch die Unwissenden sind?« – »Es ist nunmehr«, erwiderte sie, »doch auch einem Kinde klar, daß es die sind, die zwischen beiden in der Mitte stehen, und einer von diesen ist denn auch unser Eros. Es gehört ja doch die Weisheit zu dem Bereiche des Schönsten, Eros aber ist Liebe zu dem Schönen, und so muß Eros die Weisheit lieben, als Liebhaber der Weisheit aber zwischen dem Weisen und dem Unwissenden in der Mitte stehen. Auch hierfür liegt der Grund in seiner Abkunft. Sein Vater ist weise und reich an Mitteln, seine Mutter aber nicht weise und mittellos. Das also ist die wahre Natur des Dämons, mein lieber Sokrates. Was aber deine Meinung von Eros anbelangt, so ist dir damit etwas leicht Begreifliches begegnet. Du meintest, wie ich aus deinen Worten schließe, Eros sei das Geliebte, nicht das Liebende. Deshalb, denk' ich, hieltest du Eros für durchaus schön. Denn in der Tat ist das Liebenswerte das wahrhaft Schöne, Zarte, Vollkommene und Seligzupreisende, das Liebende dagegen besitzt eine andere Beschaffenheit, wie ich sie dargestellt habe.«
Kap. 24. Und ich sprach: »Nun gut, du liebe Fremde; du hast ja ganz recht. Welchen Nutzen gewährt aber Eros den Menschen, wenn er so beschaffen ist?« – »Darüber will ich dich, mein Sokrates, sogleich zu belehren versuchen«, erwiderte sie. »Eros ist allerdings so beschaffen und von solcher Abkunft; er geht aber auf das Schöne, wie du sagst. Wenn uns nun jemand weiter fragte: In welcher Beziehung geht denn Eros auf das Schöne, o Sokrates und Diotima? oder, um es deutlicher zu sagen: Wonach verlangt denn einer, der nach dem Schönen verlangt?« – »Daß es ihm zu eigen werde«, sagte ich. – »Da muß noch weiter gefragt werden«, erwiderte sie: »Was wird dem zu eigen, dem das Schöne zu eigen wird?« Ich erklärte, gar nicht in der Lage zu sein, ohne weiteres auf diese Frage zu antworten. »Was würdest du denn sagen,« hub sie wieder an, »wenn einer statt Schön Gut einsetzte und dich fragte: Wer das Gute liebt, wonach verlangt der?« – »Daß es ihm zu eigen werde«, erwiderte ich. – »Und was geschieht mit dem, dem das Gute zu eigen wird?« – »Das kann ich schon leichter beantworten,« sagte ich, »er wird glückselig.« – »Ganz recht,« fuhr sie fort, »denn durch den Besitz des Guten sind die Glückseligen glückselig, und man braucht nun nicht weiter zu fragen, zu welchem Zwecke einer glückselig sein will, sondern mit dieser Antwort ist die Sache abgeschlossen.« – »So ist es«, versetzte ich. – »Ist nun nach deiner Ansicht dieser Wille und diese Liebe allen Menschen gemeinsam, und wollen alle das Gute immer besitzen, oder wie denkst du hierüber?« Ich entgegnete: »Wie ich denke, ist diese Liebe allen gemeinsam.« – »Warum, mein Sokrates,« fuhr sie fort, »sagen wir denn nicht von allen, daß sie lieben, wenn doch alle dasselbe erstreben, und zwar immer, sondern von einigen sagen wir, sie lieben, von anderen aber nicht?« – »Auch mich nimmt das wunder«, antwortete ich. – »Du brauchst dich nicht zu wundern«, sagte sie; »eine Art der Liebe, die wir von ihrer Gattung gesondert haben, nennen wir mit dem Namen der ganzen Gattung Liebe, während wir für die anderen Arten andere Namen brauchen. Im allgemeinen ist jegliches Streben nach dem Guten und nach dem Glücke Liebe; aber von denen, die sich sonst auf mancherlei Wegen diesem Ziele zuwenden, entweder durch Gelderwerb oder durch Liebe zur Gymnastik oder Weisheit, sagt man nicht, daß sie lieben und Liebhaber seien, sondern die, welche aus einem einzelnen besonderen Gebiete sich bewegen und auf ihm sich ernstlich mühen, erhalten den Namen, der dem Ganzen zukommt, und bei ihnen spricht man von Liebe und Lieben und von Liebhabern.« – »Du scheinst damit die Wahrheit zu sagen.« – »Es wird nun auch die Behauptung aufgestellt,« fuhr sie fort, »daß die lieben, die ihre Hälfte suchen. Meine Behauptung aber geht dahin, daß die Liebe weder auf ein Halbes noch auf ein Ganzes geht, wenn es nicht, mein Freund, gut ist; denn die Menschen entschließen sich, ihre eigenen Füße und Hände sich abschneiden zu lassen, wenn ihnen dieses ihr Eigentum schlecht zu sein scheint. Denn nicht das Eigene, meine ich, ist es, woran ein jeder hängt, es müßte denn einer das Gute ein Eigenes und ihm Zugehöriges nennen, das Schlechte hingegen ein Fremdes; denn nichts anderes lieben die Menschen als das Gute. Bist du etwa anderer Ansicht?« – »Ganz gewiß nicht«, erwiderte ich. – »Also kann man unbedingt sagen: Die Menschen lieben das Gute?« – »Jawohl«, erwiderte ich. – »Wie nun? Muß man nicht hinzufügen, daß ihre Liebe darauf gehe, das Gute zu besitzen?« – »Gewiß.« – »Und nicht bloß es zu besitzen, sondern es auch immer zu besitzen?« – »Auch das muß man hinzufügen.« – »Die Liebe ist also«, sprach sie, »das Verlangen, das Gute immer zu besitzen.« – »Sehr richtig«, sagte ich.
Kap. 25. »Wenn nun das Ziel der Liebe dieses ist,« fuhr sie fort, »in welcher Weise muß man es verfolgen, und auf welchem Gebiete der Tätigkeit muß sich diese Bestrebung und Anstrengung bewähren, wenn sie Liebe heißen soll? Was für ein Werk ist das? Kannst du mir es sagen?« Ich erwiderte: »Verehrte Diotima, wenn ich das könnte, würde ich fürwahr dich nicht wegen deiner Weisheit bewundern, und würde ich nicht immer wieder zu dir kommen, um mich hierüber von dir belehren zu lassen.« – »So will ich es dir sagen«, entgegnete sie. »Das Werk der Liebe ist Zeugung im Schönen sowohl in leiblicher als in seelischer Beziehung.« – »Da muß man ja Orakeldeuter sein,« sagte ich, »um zu wissen, was du meinst. Ich verstehe dich nicht.« – »So will ich es denn deutlicher sagen«, erwiderte sie. »In allen Menschen reift Same, mein Sokrates, in Leib und Seele, und wenn sie in ein gewisses Alter kommen, so verlangt unsere Natur danach, zu zeugen. Das aber kann sie nicht in Häßlichem, sondern nur in Schönem. Es ist aber das etwas Göttliches, und das ist das Unsterbliche in der sterblichen Kreatur, die Empfängnis und die Zeugung. Die aber können nicht vor sich gehen in dem, was mit ihnen nicht harmoniert. Das Häßliche aber steht in Disharmonie zu allem Göttlichen, das Schöne dagegen in Harmonie. So ist die Schönheit der Zeugung Schicksalsgöttin und Helferin. Wenn daher das Zeugungslustige Schönem sich naht, da wird es fröhlich und zerfließt in Freude und zeugt und schafft; wenn aber Häßlichem, da zieht es sich in finsterem Anmute zusammen, wendet sich ab und zeugt nicht, sondern hält empört den Samen zurück. Daher kommt bei denen, die von Zeugungslust erfüllt und erregt sind, das leidenschaftliche Verlangen nach dem Schönen, weil, wer sich seiner bemächtigt, von heftigen Wehen befreit wird. Denn die Liebe, mein Sokrates, geht nicht auf das Schöne.« – »Ja, worauf denn?« – »Auf das Schaffen und Zeugen in dem Schönen.« – »Dem mag so sein«, sagte ich. – »Ganz gewiß ist dem so«, entgegnete sie. – »Warum denn auf die Zeugung?« – »Weil auf der Zeugung für das Sterbliche Ewigkeit und Unsterblichkeit beruht. Wir müssen aber im Zusammenhange mit dem Streben nach dem Guten nach Unsterblichkeit trachten, wie sich dies aus unfern gemeinsamen Feststellungen ergibt, da ja die Liebe auf den dauernden Besitz des Guten geht. Auf Grund dieses Satzes also muß die Liebe die Unsterblichkeit zum Ziele haben.«
Kap. 26. Über alles das belehrte sie mich, sooft sie von der Liebe sprach. Einmal fragte sie mich auch: »Was meinst du wohl, Sokrates, ist die Ursache dieser Liebe und dieses Verlangens? Oder bemerkst du nicht, wie aufgeregt alle Tiere sind, wenn die Zeugungslust in ihnen erwacht ist, die Tiere der Erde sowohl als die der Luft, wie sie alle krank sind und vom Verlangen beherrscht, zuerst sich zu begatten, sodann ihre Jungen aufzuziehen, und wie sie bereit sind, für sie auf Leben und Tod zu kämpfen, die schwächsten mit den stärksten, und für sie zu sterben, und wie sie selbst die Qualen des Hungers ertragen, um jene zu ernähren, und alles mögliche für sie tun? Bei den Menschen könnte man glauben, sie tun das aus Berechnung; aber woher kommt dieses leidenschaftliche Verhalten bei den Tieren? Kannst du es sagen?« Auf meine Erwiderung, ich wüßte es nicht, fuhr sie fort: »Denkst du denn jemals in der Liebe tüchtig zu werden, wenn du das nicht verstehst?« – »Aus diesem Grunde, liebe Diotima, bin ich ja zu dir gekommen, wie ich schon vorhin sagte, weil ich weiß, daß ich eines Lehrers bedarf. Darum sage mir auch hiervon die Ursache und von allen anderen Erscheinungen auf dem Gebiete der Liebe.« – »Wenn du nun überzeugt bist,« fuhr sie fort, »daß die Liebe von Natur auf das Ziel geht, das wir zu wiederholten Malen gemeinsam als solches festgestellt haben, so brauchst du dich nicht zu verwundern. Denn bei den Tieren trachtet in derselben Weise wie bei den Menschen die sterbliche Natur darnach, immer und unsterblich zu sein, soweit sie es vermag. Sie vermag es aber nur auf die Weise, daß sie immer statt des Alten ein Neues zurückläßt, denn auch in der Zeit, wo wir von einem einzelnen Lebewesen sagen, daß es lebe und ein und dasselbe sei, hat es niemals dieselben Bestandteile in und an sich. So ist nach unserer Bezeichnung ein Mensch von Kindesbeinen an bis in sein hohes Alter ein und derselbe, und doch sind seine Bestandteile niemals dieselben, sondern er verjüngt sich fortgesetzt und verliert anderes, und das gilt von Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und von dem ganzen Körper. Und nicht bloß mit dem Leibe steht es so, sondern auch mit der Seele. Von den Sitten, Charaktereigenschaften, Meinungen, Gefühlen der Lust, Unlust, Furcht sind jegliche bei einem jeden niemals dieselben, sondern die einen entstehen, die andern vergehen. Noch weit seltsamer aber ist diese Erscheinung hinsichtlich der Kenntnisse, daß nämlich nicht bloß die einen von ihnen uns entstehen, die anderen vergehen, sondern auch mit jeder einzelnen Kenntnis geht es ebenso. Denn was man Nachdenken nennt, das geht aus der Überzeugung hervor, daß die Kenntnis schwindet; denn Vergessen ist das Schwinden der Kenntnis, das Nachdenken aber schafft in der Seele eine neue Kenntnis statt der schwindenden und erhält so die Kenntnis, so daß es scheinbar dieselbe ist. Denn auf diese Weise erhält sich alles Sterbliche, nicht dadurch, daß es unbedingt immer sich gleich ist, wie das Göttliche, sondern dadurch, daß das Schwindende und Alternde ein Neues zurückläßt von derselben Art, wie es selbst war. Durch diese weise Einrichtung, mein Sokrates, hat das Sterbliche teil an der Unsterblichkeit, der Leib sowohl als alles andere; auf andere Weise ist es unmöglich. Wundere dich also nicht, wenn ein jedes das von ihm Entsprossene wert hält; denn um der Unsterblichkeit willen ist einem jeden dieses Streben und diese Liebe eigen.«
Kap. 27. Als ich diese Rede vernommen hatte, sagte ich voller Verwunderung: »Nun gut, du weiseste Diotima, verhält sich das wirklich so?« Und sie antwortete mir ganz im Tone der echten Gelehrten: »Das kannst du mir schon glauben, Sokrates; denn wenn du dein Augenmerk auf das Streben der Menschen nach Ruhm richten willst und dabei nicht festhältst, was ich gesagt habe, so mußt du dich über ihren Unverstand wundern, sobald du erwägst, von wie leidenschaftlichem Verlangen sie erfüllt sind, berühmt zu werden und einen unsterblichen Namen für ewige Zeit zu erwerben, und wie sie bereit sind, für diesen noch weit mehr als für ihre Kinder alle möglichen Gefahren zu bestehen, ihr Vermögen hinzugeben, Mühen jeder Art auf sich zu nehmen und selbst in den Tod zu gehen. Meinst du denn, Alkestis wäre für Admetos gestorben oder Achilleus dem Patroklos in den Tod gefolgt, oder euer Kodrus hätte den Tod gesucht, um seinen Nachkommen die Königsherrschaft zu sichern, wenn sie nicht gemeint hätten, unsterblich werde die Erinnerung an ihren Heldenmut sein, wie wir sie ihnen auch jetzt noch bewahren? Ganz gewiß nicht, sondern ich denke, für unsterblichen Tatenruhm und für einen solchen gefeierten Namen tun alle alles, und das um so mehr, je edler sie sind; denn alle streben nach Unsterblichkeit. Diejenigen nun,« fuhr sie fort, »die in leiblicher Hinsicht von dem Zeugungstriebe beherrscht sind, wenden sich mehr den Frauen zu, und ihre Liebe geht nach dieser Seite hin, indem sie sich durch Erzeugung von Kindern Unsterblichkeit und Gedenken und Glückseligkeit, wie sie meinen, für alle folgende Zeit zu gewinnen suchen. Die aber von geistigem Zeugungstriebe noch mehr erfüllt sind als von leiblichem, tragen in höherem Maße das in sich, was der Seele in sich zu tragen und hervorzubringen geziemt. Was nun soll sie hervorbringen? Erkenntnis und Tugend. Erzeuger dieser sind denn auch die Dichter insgesamt und von den Werkmeistern alle, die erfinderisch genannt werden. Die bei weitem höchste und schönste Erkenntnis ist aber die, die es mit der Ordnung der Staaten und des Hauswesens zu tun hat und die bekanntlich Besonnenheit und Gerechtigkeit genannt wird. Wenn nun andererseits ein gottbegnadeter Mensch den Samen dieser von Jugend auf in seiner Seele trägt, und wenn er in den Jahren ist, zu zeugen und zu schaffen verlangt, da sucht auch er, denk' ich, umher nach dem Schönen, in dem er zeugen kann, denn in dem Häßlichen wird er niemals zeugen. Infolge seiner Zeugungslust nun findet er an den schönen Körpern mehr Wohlgefallen als an den häßlichen, und wenn er eine schöne, edle und wohlbegabte Seele trifft, dann hat er volle Freude an dieser Vereinigung leiblicher und geistiger Schönheit, und einem solchen Menschen gegenüber strömt ihm sofort eine Fülle von Worten über die Tugend zu und über Wesen und Bestrebungen eines guten Mannes, und er beginnt sogleich mit seiner Erziehung. Denn in Berührung und im Verkehr mit dem Schönen zeugt und schafft er das, dessen Samen er längst in sich trug, in der Ferne wie in der Nähe seiner gedenkend, und gemeinsam mit ihm zieht er das Erzeugte auf. So gewinnen solche eine weit innigere Gemeinschaft untereinander und festere Freundschaft als die Eltern gewöhnlicher Kinder, da schönere und unsterblichere Kinder ihr gemeinsames Besitztum sind. Und es wird wohl ein jeder sich solche Kinder noch mehr wünschen als menschlich erzeugte, wenn er auf einen Homer, Hesiod und andere große Dichter blickt voll Bewunderung, daß sie eine Nachkommenschaft hinterlassen haben, die ihnen unsterblichen Ruhm und ewiges Andenken erwirbt, weil sie selbst unsterblich ist. Was für Kinder hat ferner Lykurg in Lakedämon hinterlassen zum Heile für Lakedämon, ja fast für ganz Griechenland! In Ehren steht bei euch Solon als Vater seiner Gesetze, und andere Männer an vielen Orten anderwärts unter Griechen sowohl als unter Barbaren, die viele herrliche Werke ans Tageslicht gebracht und Tugend aller Art erzeugt haben. Ihnen sind auch schon viele Heiligtümer um solcher Kinder willen errichtet worden, wegen menschlicher Kinder aber noch keinem.
Kap. 28. »In diese Geheimnisse der Liebe, Sokrates, vermagst vielleicht auch du dich einweihen zu lassen, zu den vollkommenen und höchsten Weihen jedoch, zu denen die eben besprochenen, wenn man ihnen in der rechten Weise nachgeht, Vorstufen sind, kannst du wohl nicht mehr gelangen. Trotzdem will ich sie angeben und werde es an gutem Willen nicht fehlen lassen. Versuche zu folgen, wenn du es vermagst. Wer nämlich diese Sache in der rechten Weise anfassen will, der muß damit anfangen, in jungen Jahren an die schönen Körper heranzugehen, und muß zunächst, wenn ihn sein Führer richtig leitet, einen von ihnen lieben und hier schöne Reden erzeugen, sodann aber muß er einsehen, daß die Schönheit an jedem beliebigen Körper der Schönheit an einem anderen Körper verschwistert ist, und daß es große Torheit ist, wenn man dem Schönen als solchem nachgehen soll, die Schönheit an allen Körpern nicht für eine und dieselbe zu halten, und auf Grund dieser Erkenntnis muß er ein Freund aller schönen Körper werden, von der heftigen Liebe zu einem Körper aber ablassen, indem er sie verachtet und in ihr etwas Kleinliches erblickt. Darnach muß er aber die Schönheit in den Seelen für wertvoller erachten als die körperliche, und muß, wenn jemand bei einer guten Beschaffenheit der Seele auch nur geringe Reize des Leibes besitzt, mit ihm zufrieden sein, und muß ihn lieben und für ihn sorgen, und muß Reden hervorzubringen suchen, die Jünglinge zu bessern vermögen, damit er genötigt werde, auf das Schöne in den bürgerlichen Einrichtungen und in Sitte und Gesetz zu schauen und seine durchgängige Verwandtschaft zu erkennen, auf daß er die körperliche Schönheit für etwas Unbedeutendes erachte. Nach den Einrichtungen aber muß man ihn zu den Wissenschaften hinführen, damit er hinwiederum ihre Schönheit wahrnehmen und nun im Hinblick auf die Fülle des Schönen nicht mehr, zufrieden mit der Schönheit eines Knäbleins oder irgend eines Menschen oder einer einzigen Einrichtung, dem einzelnen Schönen sklavisch fröne und so niedrigen und kleinlichen Sinnes werde, sondern, dem weiten Meere des Schönen zugewandt und das Auge darauf gerichtet, viele schöne und erhabene Reden und Gedanken erzeuge in ungemessenem Streben nach Weisheit, bis er hier erstarkt und erhoben ein einziges Wissen dieser Art erschaut, das ein solches Schönes zum Gegenstand hat. Bemühe dich aber, so gut aufzumerken als nur möglich.
Kap. 29. »Wer nämlich durch stufenweises und richtiges Schauen des Schönen bis hierher zur Liebe erzogen worden ist und nunmehr auf die Höhe dieser Kunst gelangt, der wird plötzlich ein Schönes, von wunderbarer Natur erblicken, eben jenes Schöne, o Sokrates, um dessentwillen er auch die vorigen Mühen insgesamt auf sich nahm ein Schönes, das erstens immer ist und weder entsteht noch vergeht, weder zunimmt noch abnimmt, das sodann nicht in einer Beziehung schön, in einer anderen häßlich ist, oder zu einer Zeit schön, zu einer anderen nicht, oder in der einen Beziehung schön, in der anderen häßlich, oder an dem einen Orte schön, an dem anderen häßlich; auch wird ihm das Schöne nicht wie ein Gesicht erscheinen oder wie Hände oder sonst etwas, was am Körper ist, oder als eine Rede oder ein Wissen, auch nicht als irgendwo haftend an irgend einem anderen, einem lebenden Wesen oder der Erde oder dem Himmel oder an sonst etwas, sondern als an und für sich und bei sich seiend, immer sich selbst gleich, alles andere aber wird ihm nur deshalb als schön erscheinen, weil es an jenem Schönen teilhat in einer solchen Weise, daß von dem Entstehen und Vergehen des anderen Schönen jenes Schöne weder vermehrt noch vermindert noch überhaupt irgendwie berührt wird. Wenn nun einer mit Hilfe der wahren Liebe emporsteigend das Schöne dort zu schauen beginnt, so erreicht er wohl das Ziel. Denn das ist der rechte Weg oder die rechte Anleitung zur Liebe, daß man, mit den schönen Dingen hier beginnend, um des Schönen willen, das dorten ist, immer emporsteigt gleichwie auf den Stufen einer Leiter, von einem schönen Körper zu zweien, und von zweien zu allen, und von den schönen Körpern zu den schönen Einrichtungen, und von den Einrichtungen zu den schönen Wissenschaften, und daß man von den Wissenschaften schließlich zu jener Wissenschaft gelangt, die lediglich ein Wissen ist von dem Schönen an sich, das droben ist. Auf dieser Stufe des Lebens, lieber Sokrates,« so fuhr die Fremde aus Mantinea fort, »lohnt es sich, zu leben im Anschauen des Schönen an sich. Wenn du das einmal erblickst, wird es dir in ganz anderer Weise schön erscheinen als Gold und Gewänder und schöne Knaben und Jünglinge, von deren Anblicke du jetzt hingerissen bist und bereit, du sowohl als viele andere, in der Betrachtung eueres Geliebten und im steten Zusammensein mit ihm womöglich weder zu essen noch zu trinken, sondern ihn nur anzuschauen und bei ihm zu sein. Was für ein Glück in aller Welt ist es wohl, wenn es einem gelingt, das Schöne an sich zu schauen, lauter, rein und unvermischt und nicht entstellt durch menschliches Fleisch und Farbe und vielen anderen sterblichen Tand, sondern wenn man imstande ist, das göttliche Schöne in seinem sich ewig selbst gleichen Wesen zu betrachten? Meinst du denn, daß es ein schlechtes Leben ist, wenn der Mensch dorthin blickt und das, was dort ist, schaut mit dem Organe, mit dem er soll, und mit ihm in Gemeinschaft ist? Erkennst du nicht vielmehr, daß es ihm da allein gelingen wird, das Schöne schauend mit dem Auge, mit dem es geschaut sein will, nicht Schattenbilder der Tugend zu erzeugen, da es ja nicht ein Schattenbild ist, was er erfaßt, sondern wahre Tugend, da er die Wahrheit ergreift? Wenn er aber wahre Tugend erzeugt und auferzogen hat, dann wird ihm die Liebe Gottes zuteil und, wenn überhaupt einem Menschen, Unsterblichkeit.«
So also, o Phädros und ihr anderen, sprach Diotima, und ich habe ihr geglaubt, und in diesem Glauben versuche ich auch andere davon zu überzeugen, daß man zur Erwerbung solches Besitzes der menschlichen Natur nicht leicht einen besseren Helfer finden kann als den Eros. Deshalb eben meine ich, müsse ein jeder Mann den Eros ehren, wie ich ihn selbst ehre, und ich übe die Kunst der Liebe vor allem und fordere andere dazu auf, und jetzt wie immer preise ich die Macht des Eros, soviel ich nur kann.