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I. Die Sophistik
Protagoras Kap. 1-5. Stephanus I, pag. 309 A-314 C.
Personen des Gesprächs: Sokrates; ein ungenannter Freund desselben; Hippokrates, ein athenischer Jüngling aus einem vornehmen und reichen Hause.
Ort der Handlung: Anfangs ein öffentlicher Platz in Athen, dann das Haus des Sokrates.
Zeit der Handlung: Das Jahr 432 v. Chr.
Kap. 1. Der Freund. Woher kommst du denn, Sokrates? Doch wohl von der Jagd auf den jugendschönen Alkibiades? Allerdings schien er mir, als ich ihn neulich sah, noch ein recht schöner Jüngling zu sein, doch ein Jüngling, mein Sokrates, bei dem, unter uns gesagt, der Bart schon etwas hervorsproßt.
Sokrates. Was macht denn das aus? Du bist doch wohl ein Verehrer Homers, der sagt, am reizvollsten sei die Jugendzeit, wo einem der erste Bart sproßt, und in diesem Alter steht jetzt Alkibiades.
Freund. Wie steht es nun jetzt? Kommst du von ihm? Und wie ist der Jüngling gegen dich gesinnt?
Sokr. Nach dem Eindruck, den ich hatte, ist er mir freundlich gesinnt; ganz besonders war er es an dem heutigen Tage, denn er hat auch vielfach für mich gesprochen, um mir zu Hilfe zu kommen. In der Tat komme ich auch soeben von ihm. Ich muß dir aber etwas recht Seltsames sagen. Obwohl er zugegen war, habe ich auf ihn wenig geachtet und habe oft gar nicht an ihn gedacht.
Freund. Was kann denn so Wichtiges zwischen dir und ihm vorgegangen sein? Denn einen Schönern hast du doch wohl in unserer Stadt nicht angetroffen.
Sokr. Doch, und noch dazu einen viel Schöneren.
Freund. Was sagst du? Einen Einheimischen oder einen Fremden?
Sokr. Einen Fremden.
Freund. Woher stammt er?
Sokr. Von Abdera.
Freund. Und so gar schön dünkte dich der Fremde, daß er dir schöner erschien als der Sohn des Kleinias?
Sokr. Wie sollte denn nicht, mein Bester, die größere Weisheit als die größere Schönheit erscheinen?
Freund. Von der Zusammenkunft mit einem Weisen kommst du zu uns?
Sokr. Vielmehr mit dem weisesten Manne unserer Zeit, wenn du Protagoras dafür hältst.
Freund. Was sagst du? Protagoras ist hier?
Sokr. Bereits seit zwei Tagen.
Freund. Und du kommst eben von einer Zusammenkunft mit ihm?
Sokr. Jawohl. Und ich habe recht viel zu ihm gesprochen und von ihm gehört.
Freund. Erzähl uns doch gleich von euerer Unterredung, wenn du sonst nichts vorhast. Laß den Burschen da aufstehn und setz dich zu uns!
Sokr. Recht gern, und ich werde euch dankbar sein, wenn ihr mir zuhört.
Freund. Gewiß auch wir dir, wenn du uns erzählst.
Sokr. Auf beiden Seiten wird also der Dank sein. So hört denn!
Kap. 2. In der letztvergangenen Nacht, noch lange vor Sonnenaufgang, schlug Hippokrates, der Sohn des Apollodor und Phasons Bruder, mit seinem Stocke wiederholt ganz heftig an meine Tür, und als man ihm öffnete, stürmte er sogleich herein und rief mit lauter Stimme: »Sokrates, wachst oder schläfst du?« Ich erkannte ihn an der Stimme und erwiderte: »Das ist ja Hippokrates. Es hat sich doch nichts Schlimmes zugetragen?« – »Nur Gutes«, erwiderte er. – »Das wäre schön«, sagte ich. »Aber was gibt es, und weswegen bist du in so früher Stunde gekommen?« – »Protagoras ist hier«, erwiderte er und trat zu mir. – »Schon seit vorgestern,« sagte ich, »und du hast es eben erst erfahren?« – »Bei den Göttern,« sagte er, »erst gestern abend.« Dabei tastete er nach meiner Lagerstätte, setzte sich zu meinen Füßen und fuhr fort: »Gewiß, gestern abend, als ich ganz spät von Önoe gekommen war. Mein Sklave Satyros war nämlich entlaufen. Natürlich wollte ich dir mitteilen, daß ich ihm Nachsehen würde, vergaß es aber über etwas anderem. Als wir nun nach meiner Rückkehr unser Abendbrot gegessen hatten und im Begriffe waren, uns zur Ruhe zu begeben, da sagt mir mein Bruder: ›Protagoras ist da.‹ Und zunächst dachte ich daran, gleich noch zu dir zu gehen, dann aber schien es mir doch gar zu spät in der Nacht zu sein; sobald mich aber der Schlaf – ich war furchtbar müde – aus seinen Banden losließ, erhob ich mich sofort und kam hierher.« Da ich seinen Eifer und seine Erregung sah, sprach ich zu ihm: »Was ficht denn dich das an? Protagoras hat dir doch nichts zuleide getan?« – Da sagte er lachend: »Ganz gewiß, mein Sokrates; es schmerzt mich, daß er allein weise ist und mich nicht auch dazu macht.« – »Für Geld und gute Worte«, erwiderte ich, »wird er dich sicherlich auch weise machen.« – »Du lieber Himmel,« sagte er, »möchte es doch darauf ankommen! Ich würde ja alles hingeben, was ich und meine Freunde besitzen. Eben deswegen komme ich auch jetzt zu dir, daß du ein gutes Wort für mich bei ihm einlegst. Denn einmal bin ich noch zu jung, andererseits habe ich Protagoras noch nie gesehen und habe auch noch kein Wort von ihm gehört; ich war ja noch ein Kind, als er das vorige Mal zu uns kam. Aber es preisen alle den Mann, mein lieber Sokrates, und schreiben ihm die Kunst der Rede im höchsten Maße zu. Doch warum gehen wir nicht zu ihm, damit wir ihn zu Hause antreffen? Er wohnt, wie ich gehört habe, bei Kallias, dem Sohne des Hipponikos. Drum laß uns gleich gehen!« Ich erwiderte ihm: »Noch nicht, mein Lieber, es ist noch zu früh; sondern laß uns aufstehen und komm mit mir in den Hof hinaus, da wollen wir auf und ab gehen und die Zeit hinbringen, bis es Tag geworden ist; dann wollen wir zu ihm gehen. Protagoras hält sich meistens zu Hause auf; sei also nur ruhig, wir werden ihn schon antreffen.«
Kap. 3. Danach standen wir auf, traten in den Hof und gingen dort auf und ab. Ich wollte nun Hippokrates hinsichtlich der Festigkeit seines Entschlusses auf die Probe stellen, nahm ihn daher vor und fragte ihn: »Sag mir, lieber Hippokrates, du hast jetzt vor, zu Protagoras zu gehen und willst ihm Lehrgeld bezahlen. Was ist denn der Mann, zu dem du jetzt kommen wirst, und was willst du durch ihn werden? Denk dir, du hättest die Absicht, zu deinem Namensvetter Hippokrates von Kos aus dem Geschlechte der Asklepiaden zu gehen und ihm Lehrgeld für dich zu bezahlen, und es fragte dich jemand: ›Was ist denn Hippokrates, dem du Lehrgeld bezahlen willst?‹ was würdest du antworten?« – »Arzt, würde ich sagen« erwiderte er. – »Und was willst du werden?« – »Arzt«, sagte er wieder. – »Wenn du aber beabsichtigtest, zu Polyklet von Argos oder Phidias von Athen zu gehen und ihnen einen Geldbetrag für dich zu entrichten, und es fragte dich jemand: ›Was sind denn Polyklet und Phidias, denen du das Geld geben willst?‹ was würdest du antworten?« – »Bildhauer, würde ich sagen.« – »Und was willst du selbst werden?« – »Natürlich Bildhauer.« – »Gut«, sagte ich; »jetzt sind wir nun auf dem Wege zu Protagoras, ich und du, und werden bereitwillig ihm Lehrgeld für dich bezahlen, indem wir unser Vermögen dazu verwenden, wenn das ausreicht und wir ihn damit gewinnen können, im andern Falle auch noch das Vermögen unserer Freunde. Wenn nun jemand uns, die wir so sehr danach verlangen, fragte: ›Sokrates und Hippokrates, sagt mir doch, was ist denn Protagoras, dem ihr Geld zu geben gedenkt?‹ was würden wir ihm antworten? Welche andere Bezeichnung hören wir noch von Protagoras in der Weise, wie wir Phidias als Bildhauer und Homer als Dichter bezeichnen hören?« – »Einen Sophisten nennen sie ja wohl den Mann, lieber Sokrates.« – »Also sind wir auf dem Wege, ihm als einem Sophisten das Geld zu bezahlen?« – »Ganz recht.« – »Wenn nun jemand auch diese Frage noch an dich richtete: ›Und was willst du selbst werden, daß du zu Protagoras gehst?‹« – Da sagte er errötend (es begann nämlich schon etwas zu tagen, so daß ich ihn deutlich sehen konnte): »Wenn es sich damit ebenso wie mit dem Vorigen verhält, Sophist.« – »Wirst du dich denn nicht schämen,« sprach ich, »vor die Hellenen als Sophist hinzutreten?« – »Beim Zeus, lieber Sokrates, ehrlich gestanden, ja.« – »Wahrscheinlich nimmst du also an, mein Hippokrates, dein Unterricht bei Protagoras werde nicht von dieser Art sein, sondern so, wie der Unterricht bei deinem Elementar-, Musik- und Turnlehrer war. Denn den Unterricht dieser hast du nicht um eines Berufes willen genossen, nicht, um ein Gewerbe daraus zu machen, sondern um der Bildung willen, wie es sich für einen unabhängigen und freien Mann geziemt.« – »Ganz gewiß««, sagte er, »dünkt mich der Unterricht bei Protagoras eher von dieser Art zu sein.«
Kap. 4. »Weißt du nun, was du jetzt zu tun im Begriffe bist, oder ist es dir verborgen?« sagte ich. – »Womit?« – »Damit, daß du deine Seele einem Manne zur Ausbildung übergeben willst, der, wie du sagst, ein Sophist ist. Es sollte mich aber wundern, wenn du weißt, was denn ein Sophist ist. Und doch, wenn du das nicht weißt, so weißt du auch nicht, wem du deine Seele übergibst, ob einer guten oder einer schlechten Sache.« – »Ich glaube es zu wissen«, sagte er. – »Sage also, was ist nach deiner Ansicht ein Sophist?« – »Nach meiner Ansicht,« erwiderte er, »wie schon der Name besagt, einer, der sich auf ein Wissen versteht.« – »Nun,« sagte ich, »das kann man auch von Malern und Bauleuten sagen, die sich auf ein Wissen verstehen. Wenn uns aber einer weiter fragte: ›Was ist denn der Gegenstand des Wissens, auf das sich die Maler verstehen?‹ so werden wir ihm wohl sagen: ›Die Herstellung von Bildern‹, und eine Antwort dieser Art würden wir auch sonst geben. Wenn aber einer die Frage stellte: ›Was ist der Gegenstand des Wissens, auf das sich ein Sophist versteht?‹ was würden wir ihm da antworten? Was versteht er denn herzustellen?« – »Wie wäre es, wenn wir sagten, er verstehe es, tüchtig im Reden zu machen?« – »Vielleicht«, erwiderte ich, »ist das richtig, aber es reicht noch nicht hin; denn diese Antwort veranlaßt noch eine weitere Frage, nämlich die, worüber zu reden ein Sophist tüchtig macht, so wie ein Meister des Saitenspiels seinen Schüler sicherlich befähigt, über denselben Gegenstand zu sprechen, zu dessen Ausübung er ihn geschickt macht, nämlich über das Saitenspiel. Nicht wahr?« – »Jawohl.« – »Nun gut! Worüber zu reden macht ein Sophist geschickt? Offenbar doch über dasselbe, worauf er sich auch versteht?« – »Natürlich.« – »Was ist nun das, worin ein Sophist selbst sachverständig ist und seine Schüler dazu macht?« – »Beim Zeus,« sagte er, »das vermag ich dir nicht mehr zu sagen.«
Kap. 5. Darauf sagte ich: »Weißt du denn, in welche Gefahr du deine Seele jetzt stürzen willst? Ist es nicht so: Wenn du deinen Leib einem anvertrauen solltest auf die Gefahr hin, daß er gut oder schlecht werde, so würdest du die Sache viel hin und her überlegen, ob du es tun sollst oder nicht, und würdest Freunde und Verwandte zu Rate ziehen und eine ganze Reihe von Tagen es bedenken; was du aber weit höher schätzest als den Leib, deine Seele, und worauf dein ganzes Wohl und Wehe beruht, je nachdem es gut oder schlecht wird, darüber hast du dich weder mit deinem Vater noch mit deinem Bruder beraten noch mit einem von uns, deinen Freunden, ob du es diesem eben angekommenen Fremdlinge anvertrauen sollst oder nicht, während es sich doch um deine Seele handelt, sondern gestern abend hörst du von Protagoras, wie du sagst, und heut kommst du mit dem frühesten Morgen, willst dich gar nicht darüber besprechen und beraten, ob du dich ihm anvertrauen sollst oder nicht, bist aber bereit, dein und deiner Freunde Vermögen hinzugeben, als ob du schon ganz genau wüßtest, daß du um jeden Preis bei Protagoras Unterricht nehmen mußt, den du nicht kennst, wie du selbst sagst, und mit dem du noch nie ein Wort gesprochen hast. Einen Sophisten nennst du ihn, weißt aber offenbar gar nicht, was denn der Sophist ist, dem du deine Seele anvertrauen willst.« Darauf sagte er: »Nach deinen Erklärungen, lieber Sokrates, sieht es allerdings so aus.«
»Es ist also wohl, mein guter Hippokrates, der Sophist eine Art Großhändler oder Krämer, der mit Waren handelt, von denen sich die Seele nährt?« – »Mir allerdings erscheint er als ein solcher. Aber wovon nährt sich denn die Seele, teuerer Sokrates?« – »Doch wohl von Kenntnissen«, erwiderte ich. »Daß uns nur nicht, mein Lieber, der Sophist durch Anpreisung seiner Waren täuscht, gleich denen, die es mit der Nahrung für den Leib zu tun haben, wie der Großhändler und der Krämer. Denn auch diese wissen wohl weder selbst, was von ihren Waren dem Leibe nützt oder schadet, loben aber alles, um es los zu werden, noch wissen es die, die von ihnen kaufen, wenn es nicht gerade ein Lehrer der Gymnastik oder ein Arzt ist. So machen es denn auch die, die mit den Kenntnissen in den Städten umherziehen und sie im ganzen und im einzelnen verkaufen: alles, womit sie handeln, preisen sie einem jeden an, der darnach fragt, aber, mein Teuerer, vielleicht wissen auch von ihnen manche nicht, was von ihren feilgebotenen Waren der Seele frommt oder schadet, und geradesowenig wissen es die, die von ihnen kaufen, es müßte denn einer von ihnen hinsichtlich der Seele ein heilkundiger sein. Wenn du dich nun darauf verstehst, was hiervon nützlich und schädlich ist, so kannst du auch von Protagoras und von jedem beliebigen anderen ohne Gefahr Kenntnisse einkaufen, im anderen Falle siehe zu, mein Bester, daß du nicht um dein Liebstes würfelst und dich in Gefahr begibst. Denn wahrlich, die Gefahr beim Einkauf von Kenntnissen ist noch viel größer als beim Einkauf von Nahrungsmitteln. Denn Speisen und Getränke, die man gekauft hat, kann man in Gefäßen mit fortnehmen, und bevor man sie essend oder trinkend in den Körper aufnimmt, zu Hause hinstellen und mit einem Sachverständigen, den man zuzieht, zu Rate gehen, was man essen oder trinken darf und was nicht, und wieviel und wann, so daß bei ihrem Einkäufe die Gefahr nicht groß ist, Kenntnisse aber kann man nicht in einem anderen Gefäße forttragen, sondern, hast du dein Geld auf den Tisch gelegt, so mußt du die Kenntnis in der Seele selbst mit fortnehmen, geschädigt oder gefördert. Das laß uns also wohl überlegen und auch mit älteren Leuten, als wir sind; denn wir sind noch zu jung, um eine so wichtige Angelegenheit zu entscheiden. Nunmehr jedoch laß uns, wie wir es uns einmal vorgenommen haben, hingehen und den Mann hören, und dann wollen wir uns auch mit anderen darüber besprechen; denn nicht allein Protagoras ist hier, sondern auch Hippias von Elis, meines Wissens aber auch Prodikos von Keos und noch viele andere weise Männer.