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In alten Zeiten geschahen merkwürdige Dinge. Da gab es einmal einen König, dem war die Zunge festgewachsen. Als er den Thron bestieg, sagten alle weisen Leute: »Wenn das nur gut gehen wird! Was will ein Herrscher anfangen, der kein einziges Wort sagen kann?« Von diesem König erzählt man aber noch heute einige Geschichten.
Als der mächtige Kaiser eines benachbarten Reiches hörte, daß ein stummer König das Volk beherrsche, rief er: »Nun ist es Zeit. Der findet sich nicht zurecht, mit dem läßt sich ein Handel machen.«
Er schickte seinen klügsten Gesandten zu ihm, der mußte sagen: »So spricht mein erhabener Herr durch mich: Mein herzlieber Bruder, du hast das schnelle Roß Eileflink. Das möchte ich gern besitzen; du sollst meinen Esel Künsteviel dafür bekommen; das ist kein gewöhnlicher Esel. Er kann wirklich der Künste viel und vermag sogar auf zwei Beinen zu gehen.«
Als der stumme König so reden hörte, gab er keine Antwort; denn er konnte ja nicht sprechen. Doch aus seinen Augen kam ein eigentümlicher Blick, so daß der kluge Gesandte ganz dumm davon wurde. Zuletzt lächelte der König leise und schüttelte das Haupt, und damit war jener entlassen. Er fragte den Diener, der ihn hinausbegleitete: »Weißt du, was dein Herr mit diesem Lächeln sagen wollte?«
»Gewiß,« antwortete der Diener, »er wollte sagen: Ich danke für den Handel. Ein Esel bleibt auch dann ein Esel, wenn er auf zwei Beinen geht.«
Als der große Kaiser erfuhr, daß man ihm seinen Esel nicht abnehmen wollte, hielt er es für einen Schimpf und sagte: »Das muß gerächt werden.«
Er sammelte also sein Heer, aber er machte das nicht still genug. Der stumme König merkte es; denn wenn er auch nicht reden konnte, Augen und Ohren hielt er offen. Da ließ er auch seine Soldaten kommen, aber ganz insgeheim, und als sie alle versammelt waren, bestieg er sein Roß Eileflink, zog sein Schwert aus der Scheide, daß es in der Sonne blitzte, zeigte damit nach der Grenze und führte sie rasch in das Land des großen Kaisers. Der ahnte nichts davon, denn er war gerade dabei, seinen Truppen eine feurige Rede zu halten, und bevor er damit zu Ende war, ward er von dem stummen König angegriffen und geschlagen.
Der stumme König regierte nicht übel, zwar nicht mit dem Munde, das war ihm nun einmal versagt, wohl aber mit seinem hellen Auge und mit der festen Hand. Damit verstand er auch zu reden, nur kurz, aber sehr deutlich.
Einmal kamen drei Leute zu ihm, die waren aus Byzanz gebürtig; sie neigten sich tief vor ihm und sahen ihn dann verlangend an. Da wandte sich der König zu dem ersten.
»Majestät,« begann er, »ich bin ein Dichter und habe ein Heldenlied gedichtet, worin ich deine unsterblichen Taten besinge. Wahrlich, sie sind größer –«
Der stumme König wandte sich ab und sah den zweiten an.
»Großmächtiger Herr,« sagte dieser, »ich bin ein Maler. Ich habe ein Bild geschaffen, das stellt die glorreiche Schlacht dar, wo dein Schwert tausend Feinde –«
Der König rümpfte die Nase und sah den dritten an.
»Erhabener Monarch,« hob dieser an, »ich bin ein Bildhauer. Erlaube mir, daß ich dir ein kleines Vorbild deines Reiterdenkmals zeige. Du sitzest auf deinem ruhmreichen Roß Eileflink, und zur Linken geleitet dich der Genius des –«
Weiter kam er nicht. Der stumme König hatte seine Hand erhoben und wies nach der Tür. Die Byzantiner verstanden ihn; sie duckten sich, schlichen hinaus und kamen niemals wieder. – – –
In alten Zeiten geschahen wirklich sehr merkwürdige Dinge ...
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