Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Schlange am Kreuz

Der Heiland ruhte nun im Felsengrabe, das Joseph von Arimathia ihm geöffnet hatte. Noch grollte die Tiefe der Erde über das schuldlos vergossene Blut, aber leise, ganz von ferne, und ganz leise von ferne antwortete abziehendes Gewitter mit schwachem Wetterleuchten.

Auf Golgatha war es still. Drei leere Kreuze zeichneten sich deutlich gegen die bläuliche Wolkenwand ab, die den aufgehenden Mond verbarg. Am Fuße des Hügels saß auf einem Felsblock der Engel Gabriel, die heilige Stätte zu bewachen. Es wurde so still, daß das Ohr des Engels den Seufzerhauch vernahm, der noch das Kreuz umschwebte: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!«

Da plötzlich ein leises Rascheln und Knistern. Der Engel hob das Haupt, und er sah, wie eine große Schlange sich aus einer Bodenspalte hervorwand und den Hügel aufwärts tastete, und von ihrem Schuppenkleide ging ein Schein aus wie bläuliches Leuchten. Der Engel hatte sich erhoben, aber ihm war, als hielte ein mächtiger Wille seinen Fuß gebannt. Schon hatte der Unhold die Kuppe erreicht. In weitem Bogen wich er dem Kreuz aus, das in der Mitte stand, schlängelte nach rechts und umwand den Stamm, der sich dort erhob. Höher und höher schob die Schlange den geschmeidigen Leib, und sie schien zu wachsen unter den Augen des Engels und dehnte sich und ruhte nicht, bis sie das Haupt hoch emporhob über den Querbalken und schob sich drohend vor nach jener Stätte, wo der Dulder verschieden war.

Nun bekam der Engel seinen Willen zurück, und im Augenblick stand er schirmend am Kreuze des Herrn. Die Augen des Tieres funkelten wie grüne Edelsteine, und sein Leib sprühte Flammen.

»Dämon, hinweg von diesem Orte!« rief der Engel.

»Ich trotze dir,« ertönte die Antwort, »an diesem Platze hing der Schächer, der euern Gottessohn verhöhnte. Hier habt ihr Himmlischen keine Macht.«

»Hinweg!« rief der Engel von neuem, »ich kenne dich: du bist die Schlange des Paradieses!«

»Du irrst,« sprach die Schlange, » ich bin die Sünde, die keine Vergebung will

Als der Engel dies hörte, floh er von der Stätte, die er hüten sollte.

*


 << zurück weiter >>