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Die gläserne Wand

Es ist irgendwo auf Erden – oder ist es auf einem erdenfernen anderen Gestirn? Dort erhebt sich ein gläserner Berg, aber wenn wir genauer hinsehen, so ist es eine meilenweit gedehnte, himmelhohe Gebirgswand, die steil abfällt, nicht so steil wie eine Mauer, aber doch auch nicht so schräg, daß man bequem hinaufkriechen könnte, wenn man Hände und Füße gebraucht.

Und diese Wand ist wirklich aus Glas oder doch aus einem Stoff, den wir mit irdischen Augen für Glas halten müssen. Vom hellblauen Himmel strahlt die Sonne dagegen, und so geht von dem gläsernen Berge ein Blitzen und Leuchten aus, daß wir geblendet unsern Blick zur Seite wenden.

Und nun das, was so aufreizend ist, so geheimnisvoll. Der gläserne Berg ist durchsichtig, ist wiederum aber so dick, daß nur ein leiser Schimmer von jenseits hindurchdringt, so seltsam und verworren, daß er sich unmöglich zu einem deutlichen Bilde gestalten kann, und doch ist in diesem unbestimmten Schimmer eine geheimnisvolle Kraft, die sich sichtbar-unsichtbar in der Lust verbreitet, alle Körper durchdringt und in allen Seelen unnennbare Sehnsucht weckt. Und horch! zauberhafte Klänge durchzittern die Luft. Ist es ein verborgener Chor weißbärtiger Priester, oder kommen jene Töne aus allerweitester Ferne, kommen sie gar von der andern Seite des Berges?

Und so lautet das seltsame Lied:

Schreiten und wallen
Und aufwärts steigen,
Gleiten und fallen
Und doch nicht sich beugen!
Augen erhoben!
Seid ihr erst droben,
Wird es sich zeigen,
Was keinen betrügt,
Was jenseits der Dinge
Verborgen liegt.

So sind die Worte des Liedes, aber noch seltsamer ist seine Weise, eine Melodie von sirenenhaftem Klange, und alle, die sie hören, eilen herbei. Ungezählte Scharen kommen aus der fruchtbaren Ebene, wo das Korn wogt und die Blumen blühen, wo es sich so gut leben, so gut arbeiten und spielen läßt. Alle streben hinan zum Berge, und nun beginnt ein mühsames Steigen und Klimmen.

Sie wollen zur Höhe.

Aber die Höhe ist fern, und der Berg ist steil. Dennoch arbeiten sie sich empor, jeden Vorsprung erspähend, jede Spalte benutzend. Da strömt der Schweiß, da fließt das Blut. Immer höher steigen sie, aber wehe! da verläßt diesen der Atem – sein Herz krampft sich zusammen, er stürzt. Jener wendet den Blick von der Höhe zurück nach unten – ihm schwindelt, und er stürzt. Einem andern blendet der Glanz des gläsernen Berges die Augen – er schließt sie, nur für einen Augenblick, und ein kurzer, süßer Traum huscht über seine Seele: da werden seine Hände lahm – er stürzt. Und alle, die da stürzen, reißen in ihrem Sturz Hunderte, ja, Tausende mit sich hinunter in die Tiefe, und am Fuße des gläsernen Berges häuft sich ein Hügel von Leichen an, und siehe! der Engel der Verwesung schreitet darüber hinweg, und es wandelt sich alles zu blendend weißen Gerippen.

Schweigen heischt die Stätte des Todes, aber immer wieder ertönt das seltsame Lied:

Schreiten und wallen
Und aufwärts steigen,
Gleiten und fallen
Und doch sich nicht beugen!
Augen erhoben!
Seid ihr erst droben,
Wird es sich zeigen,
Was keinen betrügt,
Was jenseits der Dinge
Verborgen liegt.

Und immer neue Scharen kommen herbei mit neuer Kraft, neuer Tatenlust. Unter ihnen gibt es verwegene Helden, die sagen: »Auf jenen Hügel von Gebeinen laßt uns treten! Unsere Väter haben ihn erbaut, auf daß wir dem Ziele näher seien. Den Vätern sei Dank! Auf zur Höhe!«

Wieder beginnt ein Steigen und Klettern und Klimmen, und jetzt kommen sie höher als jene, deren Knochen dort unten liegen; denn ihr Weg ist kürzer. Doch dann dasselbe Spiel: der hat zu kurzen Atem, jener keinen festen Blick, und wieder stürzen die ersten und reißen die letzten mit sich in Verderben und Untergang. Höher und höher wird der Hügel von Gerippen und Leichen, und immer wieder erklingt das lockende Lied.

Sie könnten wohnen in der Ebene, und doch treibt es sie hinauf, um hinabzuschauen in das verborgene Tal, wo die Götter wohnen und der Urgrund aller Dinge sich verbirgt. Werden sie das Ziel erreichen? Seht die Auserlesenen, die Helden, wie sie steigen bis zu schwindelnden Höhen, wo unser Auge nichts mehr von ihnen sieht als einen schwachen Punkt. Horch, sie jauchzen! Dringt ihr Blick durch den reinen Kristall, durch die dünnere Wand? Enthüllt sich ihnen schon jetzt das Unnennbare, das Gewaltige? Aber ihr Jubel macht sie blind, und sie stürzen, und unten erhöht ihr Gebein die Halde, die Schicht auf Schicht gewinnt, die bald zum Berge wird und sich dem funkelnden Gipfel entgegenbaut. Heil dem Werk der Väter! Das Steigen wird leichter, und der Weg wird kürzer und kurz. Aber wenn er nun auch noch steiler würde?

Noch immer erhebt sich der unbezwungene Berg, unwiderstehlich lockend, leuchtend und rein. Kein Mensch hat bis jetzt seine Höhe erreicht, keiner warf den Blick in das Jenseits der Dinge, wo die Götter schlafen und die Wahrheit wacht. Geschlecht folgt auf Geschlecht, sie hoffen und steigen, sie werden müde und fallen.

Und immer noch ertönt das Lied, das seltsame Lied:

Schreiten und wallen
Und aufwärts steigen,
Gleiten und fallen

Und doch sich nicht beugen!
Augen erhoben!
Seid ihr erst droben,
Wird es sich zeigen,
Was keinen betrügt,
Was jenseits der Dinge
Verborgen liegt.

*


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