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Es gibt fromme Schriften, die uns melden, daß es sieben Himmel gäbe; aber dem ist nicht so, ihrer sind mehr, wenn auch keiner zu sagen vermag, wieviel es sind. Niemand vermag auch die verborgenen Steige und Stufen zu finden, die hinaufführen durch alle Himmel hindurch bis in den obersten. Doch das ist keine Sage, was wir nun verkünden wollen: dort im obersten Himmel, da thront derjenige, den alle suchen, die mit Vernunft und unendlicher Sehnsucht begabt sind, den sie suchen von der Zeit an, wo ihnen die Augen geöffnet werden, bis dahin, wo der Tod sie leise schließt, da thront der rechte Gott. In seinen Augen ist unendliche Güte, aber wir fühlen sie nicht; in seinem Munde ist Wahrheit, aber seine Stimme dringt nicht bis an unser Ohr, und so wissen wir noch nichts von ihm.
Und wie es die höchste Höhe gibt, so auch die tiefste Tiefe; doch hat kein Forscher den Ort gewiesen, wo sie zu finden wäre, da drunten in der Erde oder in einem erdenfremden anderen Gestirn. Es gibt aber nichts in der Welt, das so weit von einander entfernt wäre als die tiefste Tiefe und die höchste Höhe, und in der tiefsten Tiefe, da schläft der wahre Glaube, schläft vom Urbeginn aller Dinge an, und noch niemals ist er wach geworden. Er schläft und in seinem Schlummer träumt er von dem rechten Gott; flüsternd bewegen sich seine Lippen, und wer ihren Hauch deuten könnte, der würde uns sagen, daß es Worte der Sehnsucht sind, zu steigen und zu fliegen, ihm entgegen, der das Herz der Welt in seinem Busen trägt. Aber er kann noch nicht steigen und fliegen: wohl trägt er Schwingen an den Schultern, nur sind sie noch zu schwach und müssen wachsen. Doch einstmals sind sie ausgewachsen, und der Engel der Sehnsucht tritt an sein Lager und weckt ihn auf. Und dann schlägt er die Augen auf, erhebt sich und reckt die geschmeidigen Glieder. Er steigt empor, und wenn er die Tiefe überwunden hat, wird er alle mühseligen Steige verschmähen; er wird seine Schwingen entfalten und fliegen, durch alle Himmel wird er fliegen, bis er ihn findet in der höchsten Höhe, den rechten Gott. Wenn das geschieht, geht ein Jubel durch die Welt, und vom rechten Gott kommt die Wahrheit und darf es wagen, auf der Erde zu wohnen, die seit uralten Zeiten kampfdurchwühlt und friedlos war.
So lange aber, bis das geschehen kann, wird noch wechseln Tag und Nacht, und die Finsternis das Licht verschlingen, wie es ihre Sehnsucht ist. Denn alle Götter, die jetzt zu den Menschen reden, sind falsche Götter, und all ihr Glaube ist falscher Glaube. Aber jeder falsche Glaube brüstet sich und macht sich stark und ruft: »Kniet nieder, ich bin der wahre Glaube!« Wenn dann jemand nicht knien will, der knien müßte, dem wird ein großes Fest bereitet. Ein Kreuz wird aufgerichtet oder ein Scheiterhaufen gebaut, und er wird angenagelt oder verbrannt. Aber dann geht ein wehevolles Zittern durch die ganze Welt, und das kommt so: In der tiefsten Tiefe, da regt sich in seinem Schlummer der wahre Glaube, und es durchzuckt ihn mit unendlicher Qual; er regt seine Schwingen und möchte fliegen. Doch seine Zeit ist noch nicht gekommen und seine Kraft noch nicht so stark, daß er die Bande des Schlafes zerreißen könnte. Aber im höchsten Himmel, da verstärkt der rechte Gott seine Stimme zu gewaltigem Donnerwort, und ein leiser Klang dringt davon bis zu den Menschen, und es gibt ihrer einige, die verwundert aufhorchen, aber niemand weiß so recht zu sagen, woher denn der Klang komme. Und viele Herzen sind verstockt und viele Ohren harthörig, am harthörigsten die Diener all der Götter, die jetzt noch auf Erden regieren.
Wann kommt die Zeit, wo Tiefe und Höhe zusammenkommen, die Stunde, wo der wahre Glaube den rechten Gott findet? Wie lange sollen wir noch warten, daß man keine Scheiterhaufen mehr errichtet um des »alleinseligmachenden« Glaubens willen?
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