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»Ei du gerechter Gott, nun kommt der Bub auch noch nach Paris!«
Die Mutter Regine spricht's. Sie hält einen Brief in der Hand, woraus sie dem Vater Jakob vorliest.
Dieser sitzt am Tisch, seine Arbeit ruht einen Augenblick; bei den Worten der Mutter hebt er leicht den grauen Kopf und ein seltenes Aufblitzen zuckt in seinen großen melancholischen Augen, seine dünnen Lippen bewegen sich, als ob er etwas sagen wollte, doch er schweigt.
»Geh' mir, Katz,« sagt die Mutter, »du kannst mir nicht helfen in meiner Herzensangst, oder willst du mich statt des Alten da trösten, der heut einmal wieder ganz stumm ist, während mir's das Herz abschnürt?«
Das schwarze Katzentier war ihr, wie es gerne tat, vom Tisch her auf die Achsel gesprungen und sie drückte es unsanft herunter.
»Ach Gott, wenn dem Alexander was zustößt,« fährt sie fort, »es wäre mein letztes Stündchen, und in dem Paris soll's ja ärger zugehen als in Sodom und Gomorra. Aber da sitzt er, der am Unglück schuld ist, ihn rührt es nicht.«
Hier nickte der Papa Schmälzle bedächtig einigemal mit dem Kopf.
»Das schöne Unglück auch, daß der Bub kein Steinklopfer geworden ist oder Gänsehirt«, brummelte er.
Und er betrachtet den Ring an seinem Finger, er dreht ihn dreimal um wie zu einem Zauberspruch, und seine alten grauen Augen leuchten wie seit lange nicht; denn er fühlt, auf seinen Sohn Alexander wird er noch stolz sein dürfen, der wird nie ein Hinterwinkler werden.
Endlich hat er sich wieder Glauben und Hoffnung gewonnen ...
So nämlich malte sich Alexander die Szene aus. Es war wie ein Traum, den er wachend träumte. Und also träumend stand er auf dem Pont-Neuf unweit der Reiterstatue des guten Henri quatre. In einer der nischenartigen Vorsprünge der Brücke lehnte er auf der Brüstung. Links und rechts vor ihm hatte ein Italiener Gipsabdrücke von Medaillons und Reliefs aufgestellt, welche die Aufmerksamkeit vieler Vorübergehenden auf sich zogen, daß sie anhielten und die zarten Nachbildungen betrachteten.
Alexander Schmälzle hatte kein Auge dafür; er blickte wie suchend in das schmutzig-schwarz-grüne Wasser des Stromes hinunter. Und wie aus der dunkeln Tiefe heraufwachsend, sah er Hinterwinkel im Frühlingssonnenschein liegen, am sonnigsten den Kahlenbuckel. Darauf saß Alexander als kleiner Knabe, und Ziegen und Gänse weideten um ihn her, während er wie traumverloren in die Welt hineinblickte.
Und der junge Mann auf der Brüstung des Pont-Neuf, zwischen Florentiner Gipsabgüssen lehnend, erschrak fast vor seinem anderen Ich drunten in der Tiefe, so – ähnlich sah es ihm.
Immer noch wie im Traum ging Alexander weiter. In der Nähe des Louvre fuhr ein vornehmer Wagen an ihm vorüber.
War er diesem Wagen nicht schon einmal begegnet mit dem blonden Fräulein und den drei kleinen blonden Mädchen? Und wie ihn die Augen des Fräuleins im Vorüberfahren wieder angeblickt hatten! Blaue Augen waren's und sie schauten unter einem blaubebänderten Strohhut hervor, mit sichtlichem Erstaunen, und das Gesicht, dem sie angehörten, dessen liebliche Schönheit Alexander an eine blasse Aprikosenblüte erinnerte, erglühte in rosigem Schein, wie von Morgenröte übergossen.
Und fast schien es, das reizende Gesichtchen wolle Alexander einen Gruß zunicken, aber auf halbem Wege besann es sich offenbar eines anderen, denn das zierliche Köpfchen neigte sich und die blauen Augen senkten den Blick wie beschämt zu Boden und lächelten dann wie verlegen die kleinen blonden Mädchen an, die dem Fräulein zur Seite und gegenüber saßen.
Es war der nämliche Wagen gewesen wie vor acht Tagen auf dem Kai Voltaire. Damals hatte Alexander nach Hinterwinkel geschrieben, ob denn die Olga Rotermund in Paris wohne und wie das zugegangen sei. Eine Antwort war ihm bis jetzt nicht geworden.
Im Hof des Louvre, zwischen dem Pavillon Richelieu und dem Pavillon Turgot, beobachtete Alexander längere Zeit ein Häuflein Kinder, die, auf dem Boden rutschend, bemüht waren, Sandhäufchen zusammenzuscharren. Und er stellte sich die Frage, welchen Unterschied es für den Menschen bedeute, ob er als Kind in Hinterwinkel auf dem Kahlenbuckel, oder zu Paris auf der Place de la Concorde Sandhügel baut.
Und schwer fiel's ihm auf die Seele, daß er nach zweijähriger Abwesenheit nun so nahe daran stand, nach Hinterwinkel zurückzukehren.
Nicht freudig regte ihn der Gedanke auf. Ganz schmerzlich und weh war's ihm zumut. Er begriff sich selber nicht. Man sprach von Krieg in Paris. Der Marquis, vielleicht weil er von der kriegerischen Partei war, hielt seinen Ausbruch für unvermeidlich, und trotz aller persönlichen Zuneigung zu dem bescheidenen Kind aus Schwaben, bestand er darauf, daß Alexander abreise, dem er es in der letzten Zeit mit erstaunlichem Großmut ermöglicht hatte, den Unterricht einiger Lehrer am Kaiserlichen Konservatorium zu genießen.
Schon für den morgigen Tag war seine Abreise festgesetzt, und Alexander wollte heut vom Louvre Abschied nehmen, wo er gewisse Bilder so oftmals wie gemalte Musik genossen halte.
Er sollte heute eine Dreingabe bekommen, die er sich nicht gedacht hätte.
Zunächst erlebte er eine Täuschung. Seine Aufregung war zu groß, er fühlte sich nicht imstande, äußere Gegenstände auf sich wirken zu lassen. Er sehnte sich nach einem stillen Plätzchen.
Von diesem Bedürfnis, nicht von ästhetischer Vorliebe geleitet, gelangte Alexander in jenen heilig-stillen Raum, den man fast mystisch den Saal der »Sieben Meister« nennt.
Hier sind die alten Italiener versammelt, die Meister des Quatrocentro, die heiligen Propheten der späteren großen Kunsterlöser. Das allgemeine Publikum findet hier nichts – wenigstens damals stand es noch so. Unterdessen sind allerdings sogar die »Sieben Meister« von der Mode verunehrt worden, vor welchem geilen Weibsbild, wie dieser Fall lehrt, sogar das Heiligste nicht sicher ist.
Damals aber war der Ort gewöhnlich leer von Menschen.
Er war es auch jetzt, und Alexander setzte sich auf eine Polsterbank, um zu träumen von Gegenwart und Zukunft. Das Wagenabenteuer unten vor der Säulenfront des Meister Perault beschäftigte wieder seine Gedanken. Ein Engelskopf von Botticelli erinnerte ihn an jenen blonden Mädchenkopf. Da schrak er plötzlich zusammen. Deutsche Worte mit deutlich schwäbischem Dialektanklang hatten sein Ohr getroffen. So ist sie wirklich in Paris, durchblitzte es Alexander.
Ein junger Herr und eine noch jüngere Dame traten in den Saal. Diejenige, an die Alexander mit eigentümlichem Erschrecken gedacht hatte, befand sich nicht dabei. Aber auch die beiden, die wirklich erschienen, waren dem ehemaligen Hopfinger Unterlehrer noch eine ungeheure Überraschung.
»Hier scheint nicht viel Rar's zu sein«, sagte die Dame.
»Ich hab's ja zum voraus gewußt«, antwortete er. »Und ich danke Gott d'rum: denn ich muß dir sagen, das Bilderanschauen geht mir grad' bis da rauf.« Er wies dabei mit der horizontal gehaltenen Hand unter das Kinn. »Komm,« fuhr er fort, »eine Halbe Bier von Sedlmayer ist mir jetzt lieber als tausend Bilder von Raffael und Rubens.«
»Aber Adolf,« entgegnete sie mit scherzhaftem Entsetzen, »wenn man so reisen will wie du möchtest, da könnte man zu Hause bleiben. Du suchst vor allem immer die Dinge, die es daheim in Hopfingen oder Stuttgart gerade so gut oder viel besser gibt.«
»Wenigstens ist Kunstschwärmerei nicht meine Sache, besonders wenn sie über gewisse Grenzen hinausgeht und dem Magen seine unbestreitbarsten Rechte schmälern möchte.«
»Aber rede doch nicht immer vom Magen, Adolf,« schmollte das reizende Geschöpf an seiner Seite, »und noch dazu hier im Tempel der Musen; es ist gut, daß uns hier niemand versteht.«
»Warum?« erwiderte der junge Mann und drillte seinen gelben Schnurrbart, »ich begreife das nicht. Vielleicht weil ich eben ein prosaischer Mensch bin. Für einen solchen ist der Magen und ...« Er fügte noch etwas hinzu, aber leise, nahe am Ohr seiner Begleiterin. Alexander sah die Frau erröten und mit ihrem Arm einen kleinen Ruck ausführen.
»Nun, tu' nur nicht so,« beschwichtigte der andere, sie fester an sich ziehend, »wir sind ja nicht auf Wallfahrten, sondern auf Hochzeitsreisen, und du bist seit gestern kein Kind mehr.«
Als die beiden den Saal verlassen hatten, erhob sich Alexander Schmälzle ebenfalls von seinem Sitz.
»Nein, ein solches Zusammentreffen hätte ich mir wahrlich nicht träumen lassen«, sagte er vor sich hin, während er an den neu angebrachten zauberhaften Fresken des Botticelli vorbei die große Treppe im Pavillon Daru hinunterstieg.
Er wollte aber sagen, daß er nie gedacht hätte, der Papierfabrikant Adolf Buhl von Hopfingen werde jemals das Fräulein Hilda von Danloh-Pützenhausen als Frau heimführen, denn das deutsche Paar im Saal der »Sieben Meister« war wirklich niemand anders gewesen als Adolf Buhl und Alexanders ehemalige Schülerin und Kollegin in der Kunst.
»Sie hat mich nicht mehr gekannt ...« sagte er sich in innerlichem Selbstgespräch. »Meine Finger hat sie seinerzeit eben benützt, wie man sich irgendeiner Sache zu seinem Zwecke bedient, meine Person war ihr nie etwas gewesen.«
Ihm aber, das konnte sich Alexander nicht verhehlen, hatte sie einmal etwas bedeutet. Ihm war sie einmal ein Stückchen von dem goldenen Schimmer seiner Jugend, ein leuchtender Winkel in dem Traum, den die Knospe seines Lebens geträumt. Ja, durch sie war er in die Fremde gekommen. Und ach, sie, das Ritterfräulein, hatte von all dem nie etwas gewußt, und nun war der Papierfabrikant Adolf Buhl ihr Ehemann.
Was ist doch ein Mensch dem andern?
Da wogte es, wie er dies dachte, auf den Champs Elysees, links und rechts von ihm, auf und ab und stieß ihn mit den Ellenbogen, und die Tausenden und aber Tausenden und alle zusammen waren sich nichts anderes gegenseitig als die Tropfen, die im Strome rollen, als die Sandkörner, die der Sturmwind als Staubwolke durch die Wüste treibt, als die Wellen, die mit ihren weißhaarigen Köpfen sich aus dem schwarzen Ozean emporrecken, eine über der anderen in ewigem Verschlingen und Wiedergeborenwerden.
Draußen am Horizont aber ragte als mächtige dunkle Masse der Bogen des Imperators auf wie ein schwarzes Tor der Unterwelt, und in das Tor mündete der lebendige Strom, ewig, unaufhaltsam ...
Am andern Morgen rollte er in seinem Mietswagen den Boulevard Saint-Michel hinunter. Hart vor dem malerischen Garten des köstlichen Hotel de Cluny wurde sein Gefährt zu längerem Anhalten gezwungen. Ein vornehmer Leichenzug, der sich über den Boulevard Saint-Germain hin bewegte, staute den Verkehr.
Die Stadt der Revolutionen, die lebendigste Stadt der Welt, hegt eine große Pietät gegen die Toten. Die Toten dürfen den Lebenden den Weg versperren.
Voll Abschiedswehmut weilte Alexanders Blick auf dem alten Klostergarten, wo zwischen den duftigen Gebüschen die frommen gotischen Steinbilder auf ihren Sockeln stehen, Gestalten, die aus den hohen Portalnischen der alten Kathedralen herabgestiegen zu sein scheinen. Dieser Garten war Alexander, ohne daß er sich recht sagen konnte warum, das liebste Plätzchen in Paris gewesen; er hatte ihn angeheimelt wie nichts anderes in der ungeheuren Stadt, und mit Rührung grüßte er jetzt den weihevollen heiligen Winkel zum Abschied.
Da war's ein eigentümliches Zusammenzucken. Hinter den lanzenförmigen Eisenstäben des Gartens, von einer jungen Zypresse halb verdeckt, gewahrte der Romantiker aus Hinterwinkel eine schlanke weibliche Gestalt. Sie saß auf einer Steinbank und kehrte ihm den Rücken zu. Von ihrem Gesicht, das sich lesend über ein Buch beugte, vermochte er nichts zu unterscheiden; aber der Strohhut darüber, mit den blauen Bändern, erschien ihm dafür um so bekannter. Ein reichgekleidetes Kind, ein Mädchen von etwa acht Jahren, dem langes, lichtblondes Haar frei über die Schulter herniederwallte, näherte sich der andächtigen Lehrerin mit einer Frage.
Die Angeredete erhob das Gesicht und gab Antwort in deutscher Sprache, mit einem Klang der Stimme, der bei aller Weichheit und Zartheit für Alexander etwas Hinterwinklerisches zu haben schien.
»Bitte, Fräulein Olga, die Geschichte, die Sie mir neulich beim Einschlafen erzählt haben, nicht wahr, sie ist noch nicht zu Ende?« fragte die Kleine.
»Was für eine Geschichte?«
»Ach, Sie erinnern sich gar nicht? Wissen Sie, die mit den zwei Kindern aus dem Dorf, die täglich miteinander spielten und sich gern hatten, und als sie größer wurden, auseinander kamen, und dann eines Tages in einer großen, großen Stadt sich begegneten, ohne daß sie sich kannten; oder vielmehr sie kannten sich, aber ...«
Mehr hörte Alexander nicht. Sein Wagen hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt.
Und er hatte genug gehört.
Er war also wirklich seinem kleinen Spielkameraden aus Hinterwinkel in der Weltstadt Paris dreimal begegnet. Fast märchenhaft kam's ihm vor. Und noch seltsamer dünkte es ihn, daß er nicht einmal besonders gerührt war von dem so märchenhaften Erlebnis.
Und was meint ihr, woran Alexander dachte, indem er jetzt in dem gelinden Trab seines Einspänners den Boulevard Sebastopol hinausfuhr? Er dachte an einen armen Unterlehrer, der, die Wandertasche und eine Geige neben sich, auf der Höhe des Kahlenbuckels bei Hinterwinkel, zwischen Haselstauben und Brombeergeschling, auf einem Steinhaufen saß und plötzlich ein zierliches Ding aus Perlmutter zwischen den Fingern zerbrach und die Scherben in heftiger Bewegung weit von sich warf. Und unwillkürlich, wie gedankenlos, murmelte er:
Der Lexel und der Xand'r,
Gehn ganz allein miteinand'r,
Der Xander und der Lexel
Essen 's ganz' Jahr Kraut und Häcksel.
Und dann saß Alexander im Schnellzug und dachte an ganz andere Dinge.
An die schöne Theodosie von Montmerle dachte er, die er zu besuchen im Begriffe stand.
Nachdem Alexander vor zwei Jahren mit der Familie von Auberoche in die Normandie gegangen war, hatte er geglaubt, daß es nun mit seinen Beziehungen zu dem Fräulein von Montmerle für immer aus sei. Das war jedoch anders gekommen.
Auf Schloß Tasselot erhielt er einen Brief von Fräulein Theodosie. Sie erklärte ihr Schweigen durch ihre Abwesenheit von La Renardiere infolge einer Wallfahrt nach Notre-Dame de Salins und schrieb daneben viel Liebes und Schönes.
Dieser Brief bildete den Anfang einer regelmäßigen Korrespondenz, und Alexanders Verhältnis zu dem Fräulein von Montmerle gestaltete sich durch den brieflichen Verkehr sogar leidenschaftlicher als zuvor. Er überzeugte sich von Brief zu Brief mehr, daß er dem Fräulein von Montmerle Unrecht getan habe.
Ihre Episteln, die oft zwölf bis sechzehn Seiten füllten, ließen ihm keinen Zweifel mehr, daß ihre Frömmigkeit echt und innerlich, daß ihre Seele nur mit hohen und schönen Empfindungen erfüllt sei. Immer mehr lernte er gewisse Dinge, woran der Unterlehrer aus Schwaben früher Anstoß genommen hatte, auf Rechnung der französischen Art und der Sitten eines vornehmen Standes setzen.
Das Fräulein von Montmerle hatte unterdessen sogar eine Übersetzung der Schillerschen Jungfrau von Orleans gelesen, wenigstens zitierte sie zwei Stellen daraus.
So schien es natürlich, daß der junge Weltfahrer aus Hinterwinkel nicht in sein Vaterland heimkehren mochte, ohne die Freundin wiedergesehen zu haben.
Dennoch war er jetzt mit seinem Gewissen nicht ganz im reinen. In seine Gedanken an die Dame von Montmerle, in seine Vorstellungen von seiner bevorstehenden Ankunft zu La Renardière und die Aufnahme, die er dort finden werde, drängten sich, ihn eigentümlich beunruhigend, andere Gedanken. Und neben das verführerische Bild der französischen Freundin mit dem breitschattenden schwarzen Hut über dem gleichdunkeln üppigen Lockengebäude stellte sich, ähnlich einem blassen Pastell in Blond und Blau, das kinderhafte Bildchen des endlich mit Sicherheit erkannten Fräuleins in jenem fast geheimnisvollen Garten am Boulevard St. Michel, welcher zu dem zierlichen Museumspalast daselbst gehört, der ehemaligen Stadtwohnung der Äbte von Cluny, in diesem Garten, wo zwischen duftigen Gebüschen und neben grotesken Wasserspeierfratzen die frommen gotischen Standbilder auf ihren Sockeln stehen, Gestalten, die aus den hohen Portalnischen der alten Kathedrale heruntergestiegen zu sein scheinen – ja, die in der Tat von dort herniedergestiegen sind.
Alexander verleugnete sich nicht, daß nach der endgültigen Erkennung sein erster Impuls war, aus dem Wagen zu springen und das Kind aus Hinterwinkel, die Gefährtin seiner Geißhirtenzeit, durch sein plötzliches Vor-sie-Hintreten mitten in Paris in kein kleines Erstaunen zu versetzen. Er leugnete sich auch nicht, daß er es eigentlich hätte tun sollen, trotz dem zertrümmerten Täubchen aus Perlmutter und einer gewissen schmerzlichen Stunde auf einem Steinhaufen des Kahlenbuckels zwischen Haselstauden und Brombeergerank. Und er würde ja auch wirklich, wie er sich deutlich bewußt war, ausgestiegen sein, wenn sein Koffer nicht im Wagen gewesen wäre.
Unterdessen raste der Zug in die Ferne, in die dunkle Zukunft, Alexander konnte daran nichts ändern, und mit eigentümlichem Humor, halb mit ernstlichem Pathos, halb mit ironischer Selbstverspottung rezitierte er: »Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten ...«
Hier hielt Alexander inne.
Es ist schwer, dachte er, Zügel festzuhalten, die man nicht in Händen hat. Die Zügel eines Schnellzuges hält nur einer in Händen, die anderen, die vielen, müssen sich auf ihn verlassen, müssen ihm vertrauen. Das ist alles, was sie tun können. Zu einem eigenen Gefährt so stolzer Art aber bringen es nur die wenigen, die Ausnahmen, die ganz Glücklichen, die ganz Starken ...
Aber aus solcher gar nicht hinterwinklerischen gedanklichen Exaltation stürzte er dann plötzlich herab wie von unerlaubten Verstiegenheiten; er murmelte wieder:
Der Lexel und der Xand'r
Gehn ganz allein miteinand'r ...
So sehr war Alexander mit seinen inneren Bildern beschäftigt und in sein Träumen eingetaucht, daß er auf die Reden von Krieg und Frieden rings im Wagenabteil kaum achtete. Er spürte wohl, daß die Menschen um ihn her ungewöhnlich aufgeregt waren, aber er ließ es sich nicht anfechten.
Er hatte bereits diese Erfahrung gemacht, daß die ganz Nüchternen und ganz Phantasielosen, daß, mit einem Wort, das ganze Geschlecht der Philister phantasievoll wird bis zur Phantasterei, sobald es sich um das schreckhafte Gespenst handelt, das sie mit dem Worte »Gefahr« bezeichnen.
Und so nahm Alexander zu Nancy, trotzdem die Aufregung hier bereits ans Unheimliche grenzte und immer drohendere Formen annahm – so ganz und gar Träumer war er – ruhig den Zug, auf den seine Karte lautete, und der ihn von hier südwärts nach dem Landstädtchen St. Feréol bringen sollte, von wo er zu Fuß das Dorf La Renardière zu erreichen gedachte.