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Es war ein tiefer Hohlweg drüben an der Kyrlihalde. Nackte Erde bildete die Abhänge zu beiden Seiten, oben an den Rändern aber erhob sich dichtes Gebüsch, Haselstauden und Blutstrauch, Weißdorn und wilde Rosen. Wie ein mächtiger Wald stand es hoch über unsern Köpfen. Vielleicht war es auch ein Wald und ging bis ans Ende der Welt. Wir wußten es nicht, wir waren nie über den Rand hinaufgeklettert. Wir waren zu klein dazu.
Darum hatte der Hohlweg für uns etwas Geheimnisvolles.
Oben unter dem buschigen Rand und zwischen dem Wurzelwerk der baumartigen Sträucher und Stauden war oft die Erde heruntergebröckelt und Höhlen waren entstanden. Durch diese Höhlen zogen sich von oben herunter dicke Wurzeln, daß es aussah wie unterirdische Säulenhallen.
Darunter war es immer trocken, auch wenn es regnete. Da hatten wir unser Spielplätzchen, Olga Rotermund und ich.
Die Erde war hier fein wie Mehl, und wir gruben Rinnen in den Rain und ließen das Erdmehl durchfließen, daß sich das feine von dem groben sonderte. Und wir nannten das unsere Mühlen.
Bei unserem Spiel sah uns oft ein schöner großer Vogel zu. Er saß immer auf demselben hochgewachsenen Weißdorn und war grau oder vielmehr bläulich hell mit schwarzen Verzierungen. Er saß oft stundenlang, wie in Trauer, reglos und stumm auf einem Fleck. Doch manchmal pfiff er wie ein Mensch, daß wir erschraken. Olgas Vater hatte uns gesagt, es sei ein Neuntöter.
Eines Tages im Mai, als wir wieder unsere Mühlen in Betrieb setzten, sah ich plötzlich, etwa zehn Schritte von uns unter einem Haselstrauch einen goldgelben Vogel aus dem Boden hervorblitzen. »Olga,« rief ich, »ein Goldammer!« Und mich durchrieselte es. Wenn dort ein Nest von Goldammern wäre!
Wir ließen unsere Mühlen im Stich und näherten uns vorsichtig dem Haselstrauch. Aus dem Gebüsch erklang das ängstliche Rufen des verscheuchten Ammers. Um so häufiger und angstvoller klang es, je näher wir der Stelle kamen.
Uns selber wurde fast bang zumute. Als ob wir eine Sünde begehen wollten. Laut und vernehmlich klopfte es in unserer Brust. Aber wir drückten uns unter die Staude und durchsuchten das Wurzelwerk mit gierigen Blicken. Da fuhr mir ein Schauer durch die Seele, aus einem goldigen Vogelköpfchen sahen mich zwei kleine schwarze Vogelaugen angstvoll an. Unbeweglich, wie vor Schreck gelähmt, ruhten auf mir die Angstblicke der Vogelmutter.
Da machte die kleine Olga eine Bewegung, und ein Husch, und weggeschossen war der Vogel.
Wir blickten in sein Nest.
Ein wundervolles rundes Nest war es, und sieben kleine Eier lagen darin, grünlich blau mit rotem Getüpfel.
Das war ein Erlebnis. Ein solches Entzücken hatten wir in unserem Leben nicht gekannt. Und eine süße Bangnis lag im Untergrund unseres Jubels – als hätte unsere Unschuld etwas von dem Geheimnis der Liebe, das in dem Nest lag, entdeckt und begriffen in dunkler Ahnung.
Auch wagten wir nicht, an unseren Fund zu rühren.
Und plötzlich hörten wir im Gebüsch auch wieder die schmerzlichen Rufe. Eine zweite Stimme hatte sich zur ersten gesellt und stieß klagende Töne aus. Das drang uns in die Seele. Unsere Bangnis wuchs. Und wir entfernten uns. Wir kehrten auch nicht zu unserem Spielplatz zurück. Wir fürchteten, die Vögel zu stören. Wir bauten uns in größerer Entfernung neue Mühlen.
Aber wir konnten die Vogeleltern sehen, wenn sie aus- und einflogen. Und damit wollten wir uns begnügen.
Wir sprachen auch zu niemand von dem Neste, sondern bewahrten unser Wissen als heiliges Geheimnis; denn wir kannten die Sage, die unter den Leuten umging, ein Vogelnest müsse unbeschrien bleiben, sonst werde es unrein und ein Raub des Geziefers. Und unsere gläubigen Kinderherzen schauderten, ein solches Unglück nur zu denken.
Aber unsere Mühlen standen nun oft still. Wir saßen und schauten nur nach dem Haselstrauch. Und nach drei oder vier Tagen hielten wir es nicht mehr aus. Wir mußten das Nest wieder einmal sehen, nur einen Augenblick lang. Es tat uns leid, den Vogeleltern damit einen Schmerz zu bereiten, aber wir hofften, sie sollten es uns nicht übelnehmen, da wir nichts Böses gegen sie im Sinne führten, sondern sie über alles liebten in ihrer goldenen Pracht.
Wir schlichen uns zur Haselstaude. Eng aneinandergedrückt duckten wir uns mit unseren Köpfchen unter das knorrige Wurzelwerk. Aber erschrocken fuhren wir zurück. Es war auch erschrecklich, was wir sahen. Und fast häßlich war es. Wie nackte Schlänglein fuhren sieben dünne Hälse in die Höhe, und am Ende eines jeden sperrte sich ein großer Rachen auf. Aber kein Laut ging davon aus. Und die Augen waren blind.
Ein Pfeifen ertönte, und wir fuhren zurück. Wir glaubten, es habe uns jemand entdeckt. Ganz verwirrt eilten wir zurück zu unseren Mühlen. Aber wir wurden keines Menschen ansichtig.
Da pfiff es von neuem.
Der Neuntöter war's.
Er saß wie immer auf dem Gipfel des schlankgewachsenen Weißdorns. Noch ein paarmal pfiff er, dann saß er, wie in Trauer, reglos und stumm auf seinem Fleck.
Nun trat Regen ein und wir kamen ein paar Tage nicht hinaus. Aber zu Haus kauerten wir in einer Ecke und sprachen heimlich von unseren Vögeln, ob sie nun wohl offene Augen haben mochten und ob sie bald goldene Flügel bekamen.
Am nächsten schönen Tag, als ich nachmittags von der Abc-Schule kam, suchte ich überall die kleine Olga, die damals noch nicht in die Schule ging. Ich fand sie aber nicht und machte mich allein aus den Weg. Ich konnte es gar nicht erwarten, bis ich zur Stelle kam, so freute ich mich. Denn heute würden sie gewiß offene Augen haben.
Nur mit Mühe gelang es mir, die Wand des Hohlwegs hinaufzuklimmen. Der Regen hatte von unten her das Erdmehl in Brei verwandelt und ein paarmal rutschte ich und beschmutzte mir die Kleider. Und über mir klang es einmal wie Lachen. Ich sah empor, es war wieder der Neuntöter.
Einen solchen Ton hatte ich vorher nie von ihm gehört.
Ich war endlich an der Stelle, ich kauerte mich nieder, ich duckte meine Stirn gegen die vorstehenden Wurzelknorren. Da gab mir's einen Stich durchs Herz.
Das Nest war leer.
Mit unsäglicher Trauer in der Seele blickte ich lange auf die verödete Brutstätte. Was war nun aus dem siebenfältigen Leben geworden? Dann begriff ich, daß das zierliche Nest zwecklos war von nun an. So durfte ich es ja nehmen.
Und sorgfältig löste ich es los aus dem Geflecht von Wurzeln und Würzelchen und wollte mich damit auf den Weg machen. Doch da hatte ich einen neuen Schreck. Vor mir in den scharfen Dornen eines wilden Rosenstrauchs sah ich drei junge Vögel aufgespießt, drei arme nackte Dinger. Der Anblick war zum Steinerbarmen. Die nackte Haut war bläulich geworden, ich mußte wegsehen, denn ein Grauen und eine Übelkeit fielen mich an.
Dennoch konnte ich die armen Kinder der Goldvögel nicht so jämmerlich in den Dornen stecken lassen. Ich wollte sie wieder in ihr Bett legen. Mehr dachte ich nicht.
Das Mitleid überwand meinen Ekel, und ich machte mich daran, den ersten loszulösen. Sorgfältig legte ich ihn im Nest zurecht. Dann griff ich nach dem zweiten.
Ein Zuruf schreckte mich zurück.
Ich blickte mich um, im Hohlweg standen zwei Bauernjungen, die ich wohl kannte, und einer war des Blessenvogts Finzer.
»So, du bist es,« rief dieser; »wart', wir sagen es dem Dekan.«
Damit gingen sie ihren Weg weiter.
Das Wort Dekan hatte mich erschreckt. Das Vogelnest fiel mir aus den Händen. Ich kam mir schon wie ein Verbrecher vor.
Mit Zittern und Zagen ging ich am andern Morgen in die Religionsstunde. Diese Stunde gab uns der alte Dekan, der Pfarrer Barthelmeyer selber. Er gab sie aus Liebhaberei. Und so rauh und unwirsch der Mann sonst war, auf die Art der ganz Kleinen ging er gern ein. Er hatte von ihnen nicht soviel Ärger als von den Größeren, die er deshalb gern dem Lehrer überließ. Furchtbar streng konnte er freilich auch mit uns Kleinen sein, sobald er eine Unbotmäßigkeit vermutete.
Als ich in die Schulstube trat, wurde ich von allen Seiten scheu angeblickt, denn viele wußten, daß ich angezeigt war.
Auf den Glockenschlag erschien der geistliche Herr mit dem glattrasierten Gesicht und dem noch glatteren Schädel darüber, der wie eine polierte Kugel glänzte. Nur ganz am Hinterkopf saß noch ein wenig silberlich graues Haar. Mit ihm trat der Lehrer Langbein ins Zimmer, der manchmal der Religionsstunde beiwohnte. Der Dekan ließ seine Augen streng über die Klasse hingehen. Und auf mir blieben sie mit einem noch strengeren Ausdruck haften. Ich konnte seinen Blick nicht ertragen. In scheuer Verlegenheit sah ich zu Boden.
»Lexel, komm heraus«, sprach er, und ich zuckte zusammen. Auf den Gesichtern vieler Mitschüler zeigte sich ein verstohlenes Grinsen. Sie ahnten, was kommen werde.
Der Pfarrer war von meinem Verbrechen zum voraus überzeugt. Zwei glaubwürdige Schüler hatten mich auf der Tat betroffen. Sie hatten ins einzelne mein Tun geschildert, wie ich das Vogelnest in den Händen hielt und wie ich daraus die nackten Vögel nahm und in die Dornen spießte. Sie glaubten, was sie sagten, das sah der Dekan, also konnte er nicht an der Wahrheit ihrer Aussage zweifeln.
Mein Benehmen muß ihn in seiner Überzeugung nur bestärkt haben, darüber weiß ich nichts Einzelnes mehr. Ich sehe nur noch den strengen Herrn vor mir, wie der Zorn ihn packte, daß er nach der Haselgerte griff.
»Kind, ich kann mir nur eins denken, du weißt nicht, wie es tut, wenn es weh tut, du mußt es erfahren. Kind, du mußt den Schmerz erfahren.«
Ich brach in lautes Weinen aus, denn noch nie war ich gezüchtigt worden. Der Herr Pfarrer aber riß meine Hand vor und versetzte mir darauf einen heftigen Streich, und so auf meine andere Hand.
Ich schrie laut auf vor Schmerz. »Merkst du es«, sprach der Priester. »Du sollst es gründlich fühlen.« Und er wiederholte seine Streiche.
Wie besinnungslos taumelte ich an meinen Platz. Ich schrie nicht mehr. Ich steckte meine Händchen in den Mund, als wenn ich den Schmerz hinunterwürgen wollte.
Der Pfarrer Barthelmeyer ging, noch immer im Zorn, mit großen Schritten vor den Bänken auf und ab.
»Was willst du denn, Jörgle?« rief er plötzlich ungeduldig einen Schüler an, der seinen Finger ausgestreckt hatte zum Zeichen, daß er etwas sagen wolle. Das Jörgle war der Jüngste in der Klasse. Wie er sich jetzt, um Antwort zu geben, vom Sitz aufrappelte und sich auf seine Beine stellte, reichte er kaum über die Bank herauf.
Und immer noch streckte er sein Fingerchen in die Höhe.
»Der Xander hat's nit tan,« sagte er, »der Neuntöter hat's tan, der Dorndreher.«
Der Dekan mußte erst seine Gedanken sammeln.
»Was sagst du da, Jörgle?« fragte er barsch.
Das Kind wiederholte: »Der Xander hat's nit tan, der Neuntöter hat's tan, der Dorndreher, Franz hat's 'sehn, mein Bruder.«
»Herr Langbein,« wandte sich der Dekan an den Lehrer, »was will das Büble mit seinem Neuntöter und Dorndreher?«
»Er wird den grauen Würger meinen«, antwortete Langbein. »Den nennen hier die Leute so. Er soll merkwürdige Sitten haben. Gewiß hat er seine Namen nicht umsonst.«
Ich hörte alles in meinem Schmerz. Das verletzte Rechtsgefühl in mir schärfte meine Sinne. Ich sah auch, wie der Pfarrer Barthelmeyer einen roten Kopf bekam.
»Konntest du's nicht früher sagen, Jörgle?« sprach er schellend. »Was schafft dein Bruder?«
»Holz sägen hinterm Haus.«
»So lauf' und hol' ihn her.«
Franz kam und erzählte, was er von dem Würger und den jungen Vögeln mit angesehen hatte, wie bereits zwei aufgespießt waren in den Dornen und wie der mörderische Vogel gerade den dritten hinzuspießte ...
Ich saß und horchte, horchte mit geschärften Sinnen, mit gewecktem Verstand.
»Die Beobachtung des Franz ist interessant«, bemerkte der Lehrer. »Und doch ist auch dieser Würger wie der Goldammer geschmückt mit Schönheit. Und sind Kinder und Geschöpfe Gottes beide. Wenn man darüber nachdenkt..«
Ein Blick des Priesters traf den Lehrer, er schwieg.