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Eines von den brennenden Häusern war das improvisierte Feldlazarett. Entsetzliches Jammergetön durchschnitt von dorther die Luft. Man sah Verwundete aus den Flammen herausschleppen, der großen Mehrzahl nach Württemberger.
Die Preußen hatten sie zuschanden geschossen und retteten sie nun mit eigener Lebensgefahr aus den Flammen. Andere Soldaten, den Fluß durchwatend, schafften Patronen ans jenseitige Ufer. Dort, hinter einer Kapelle und an den Gartenzäunen und Straßenhecken entlang lagen ihre Kameraden. Sie rissen sich um die Mordgeschosse wie Verhungernde um Brot.
Und wieder fielen Schüsse. Und ich sah die württembergischen Truppen in großer Zahl aus einem Seitentälchen hervorrücken.
»Die Dickköpfe haben noch nicht genug«, hörte ich die hohe und schneidende Stimme eines preußischen Obersten rufen.
Dann erschollen von allen Seiten Kommandorufe, und aus den preußischen Zündnadelgewehren brach ein so massenhaftes Schnellfeuer los und mit solchem Geknatter, daß die Luft erzitterte. Ganze Reihen meiner Landsleute stürzten. Sie schlugen platt auf die Straße hin. Es war zum Erbarmen.
Aber todesmutig warfen sie sich auf den Feind. Ein Mordschauspiel tat sich vor mir auf, schauervoll ...
Und dann geschah ein Klirren über mir, ein Krachen und Pfeifen, dann ein Knistern und Prasseln ... Und wie wir in die Höhe sehen, steht das aufgebalkte Korn über unsern Köpfen in lichterlohem Brand. Erstickender Rauch erfüllt die Scheuer, und Funken fallen ins Heu.
Wir sprangen auf die Tenne hinunter und taumelten hinaus ins Freie. Ich hatte den Kopf ganz verloren. Besinnungslos eilte ich durch die Straße. Granatstücke und Ziegelsteine fielen vor mir auf den Boden, wie Äpfel im herbstlichen Sturmwind.
Plötzlich tut sich eine Haustür auf. Ein Arm greift heraus und zieht mich hinein. Man zerrt mich durch einen dunklen Gang und eine steinerne Treppe hinunter. Und da stehe ich vor hellem Lampenlicht, in einem wohlversehenen Keller, unter Menschen jedes Geschlechts und Alters.
*
Ich befand mich in dem Keller des Bäckerhauses, wo Lienhard Reichenbühler in Quartier gelegen hatte.
Das ganze Haus hatte sich in dem unterirdischen Raume zusammengeflüchtet. Außer den zahlreichen Leuten des Bäckers befand sich hier die Familie eines Gymnasialprofessors, der im zweiten Stock zur Miete wohnte. Die Weiber und Kinder heulten und beteten; die Männer wechselten Reden, wie sie die Gelegenheit gab.
Mich empfing man in einer Weise, die mich sehr überraschte. Die dicke Bäckersfrau unterbrach ihre Jammertöne und Stoßgebete, und fuhr mich an, ob wir Schwaben denn toll geworden wären, und ob das etwa ein neuer Schwabenstreich sein solle, die befreundete Stadt niederzuschießen, für nichts und wieder nichts, eine ganze Bürgerschaft unglücklich zu machen und das Kind in der Wiege zu töten. Ich solle ihr aus den Augen gehen, ich solle mich schämen, wir wären tausendmal garstiger als die Preußen. Wenn sie das gewußt hätte! Drei Tage lang hätte man diese Suppenschwaben gefüttert und ihnen die besten Bissen zugesteckt und zum Dank dafür schössen sie einem das Dach überm Kopf zusammen. Tölpel waren's. Sie sollten doch auf die Pickelhauben zielen, aber Dächer, freilich, die wären leichter zu treffen. Man hätte ja auf die Preußen schießen können, ehe sie in die Stadt gekommen wären. Wenn's Kerle wären, diese Knöpfle-Schwaben, hätten sie die Preußen gar nicht ins Land gelassen; sie hätten nur die Augen offenhalten dürfen, die Schlafmützen. Wenn sie aber nichts tun wollen, als badischen Landeskindern ihr Eigentum zu verderben, hätten sie zum badischen Ländle drauß bleiben können.
Noch lange ergoß sich, wie eine losgelassene Schleuse, der Strom ihrer zornigen Rede über mich, der ich nicht wußte, ob sie recht oder unrecht hatte. Stumm, in peinlicher Verlegenheit, stand ich vor ihr. Erst vor wenigen Stunden hatte ich an ihrem Tisch zu Mittag gegessen und sie war so freundlich gegen mich gewesen.
Der Bäcker stimmte seiner Frau nicht bei.
Die Stadt werde noch lange nicht zusammengeschossen. Wenn auch ein paar Ziegel hingingen. So genau könne man's im Kriege nicht nehmen. Ein wenig vorsichtiger könnten sie ja schießen, aber schimpfen solle man über die Württemberger nicht. Wenigstens fürchteten sie sich nicht. Und den Preußen hätten sie heut Respekt eingeflößt. Auf so hartnäckigen Widerstand seien diese im ganzen Kriege nicht gestoßen. Die Badischen, die hätten es freilich gut, die wichen immer auf die Seite. An den Soldaten läge es nicht; aber ihr – nun, man wisse, was darüber zu sagen sei.
Der Professor verwies dem Bäcker diese Rede. Dem Schießen nach sei das Tal hinunter ebenfalls ernst gekämpft worden. Und dort stünde die badische Division.
Mit dem Ernst werde es nicht weit her gewesen sein, erwiderte der Bäcker spöttisch.
»Dann um so besser!« rief der Professor erhitzt. Die Menschenschlächterei heute habe keinen Sinn und keinen Zweck. Der Krieg war ja doch bereits entschieden. Die paar süddeutschen Soldaten konnten daran nichts ändern. Wenn man sie doch ins Feuer führe, so sei das eine verbrecherische Tollheit. Der Prinz von Baden verdiene die höchste Anerkennung dafür, daß er seine Leute schone.
»Schon recht, schon recht!« schrie der Bäcker, »aber dann muß man ehrlich sein und sich nicht stellen, als ob man ein Verbündeter wäre, während man's mit dem Feinde hält.«
*
Endlich kam die Nachricht, der Kampf sei vorüber und die Württembergischen seien endgültig abgezogen. Alles suchte wieder das Tageslicht.
Auch ich kroch hervor und schlich mich scheu durch die Straßen.
Ich kam hinaus gegen die Brücke, wo gekämpft worden war. Noch rauchten die Brandstätten der zerstörten Häuser. Von allen Seiten wurden Tote und Verwundete herbeigetragen.
Ich wollte nicht hinsehen, wo einer stöhnte und winselte, aber ich tat es doch. Wenn mir übel werden wollte, biß ich die Zähne aufeinander.
Fast war mir's, als ob ich etwas suchte, als ob ich noch etwas ganz Besonderes erleben müßte.
Und das erfüllte sich. Ich sah einen Soldaten vorübertragen mit zerschossenem Unterkiefer, mit brandig aufgelaufenem, entstelltem Gesicht. Aber die blutverklebten Haare, und ich weiß nicht, was sonst noch, erinnerten mich an Lienhard Reichenbühler ...
Mir wurde schwindlig vor den Augen. Ich kam noch in der Nähe einer Kapelle vorüber, wo ein Haufe preußischer Soldaten eine weite Grube ausschaufelte. Ich dachte noch: da werden sie ihn hineinscharren. Es war das letzte, was mir deutlich zum Bewußtsein kam.
Wie ein halb Irrsinniger, wie einer, der einem Erdbeben oder einem vermeintlichen Weltuntergang entronnen ist, floh ich hinaus ins Freie.
Ich hatte auf Befriedigung meiner Schaulust gehofft, und ein Tag des Schreckens war mir daraus geworden. In der Geschichte heißt er der Tag von Tauberbischofsheim.
*
Zu Hause wurde mir zunächst nicht der erbaulichste Empfang. Ich mußte die bittersten Vorwürfe hören.
Und das nach so großen Erlebnissen.
Aber ich verzieh meinen Eltern großmütig, weil ich mir sagte, daß sie ja nicht wissen konnten, wessen ich mich alles rühmen durfte.
Und ich wurde reichlich entschädigt.
Alle Leute wollten von mir Auskunft haben, die Angehörigen der Soldaten vor allen. Und man bewunderte mich. Man hatte mir nicht soviel zugetraut. Aus einem Jungen, den man bisher nur mit Spott und Mitleid betrachtet hatte, war ich auf einmal eine angestaunte Persönlichkeit geworden.
Sogar der Hannpeter machte sich zur Trompete meines neugebackenen Heldenruhms.
Mit einer leichten Armverwundung, die er – Gott mag wissen, wie und wo – erhalten hatte, war er entlassen worden und nach Hinterwinkel heimgekehrt. Er genoß sogar längere Zeit eine kleine Pension und brauchte nicht zu arbeiten. Es blieb ihm also Zeit genug, seine Kriegstaten zu erzählen. In eine davon verflocht er auch meine Persönlichkeit, und zwar auf eine Weise, die mir im höchsten Grade schmeicheln mußte. Ihm allerdings noch mehr.
Von zehn bis zwölf Preußen verfolgt und in eine Sackgasse geraten, hatte er sich wohl eine Viertelstunde lang gegen die ungeheure Übermacht mit dem Bajonett verteidigt. Fünf von den Feinden waren bereits seinen Stichen erlegen. Aber dann ermüdete sein Arm. Und er wäre verloren gewesen, wenn sich nicht plötzlich ein kleines Pförtlein an einem großen Scheunentor wie von selbst geöffnet hätte, daß es schien, als ob sein Schutzengel in Person gekommen wäre, ihn auf diese wunderbare Weise zu retten. Ich war's gewesen, der Lexel. Niemand anders als ich hatte ihn vor schmählicher Gefangenschaft oder sicherem Tode gerettet. Ich zeigte ihm an der Hinterwand der Scheune ein Loch; so entschlüpfte er ins Freie und gewann, ehe die Preußen zu folgen vermochten, das andere Flußufer, wo er gerade recht kam, um an einem erneuten Angriff seines Regiments teilzunehmen. Mich wollten die Preußen nun erstechen, aber ich schrie, man sollte mir doch das Leben lassen, ich wäre ja nur ein Schneider; so gottserbärmlich schrie ich's, daß sogar die Preußen lachen mußten und mir das Leben schenkten.
Von dem letzten Vorgange konnte der Hannpeter eigentlich nichts gehört haben; aber er erzählte ihn doch. Gleich dem Dichter wußte er auch solche Einzelheiten seiner Geschichte, die er der Natur der Sache nach nicht wissen durfte.
Der Hannpeter war eben in der Tat ein Dichter. Er wirkte als solcher. Wie er erzählte und dramatisch dazu agierte, glaubte ihm jeder aufs Wort.
Mein Niedergeschriebenes gibt davon keinen Begriff, es ist weit entfernt von der Anschaulichkeit und Lebendigkeit, die der Hannpeter seiner Darstellung zu geben wußte.
Der Hannpeter war ein großer Erzähler. Und er war ein großer Sprachvirtuos. Er beherrschte aufs vollkommenste seine Sprache, seine Mundart. Und er verdarb sie nicht durch fremde, d.h. durch schriftdeutsche Wendungen. Auch verfügte er über ihren ganzen Wortreichtum und wußte davon einen hohen Begriff zu geben. Am meisten aber liebte er, wie ein großer Schriftsteller, diejenigen Wörter, die nicht jeder im Munde führte, die ihm sozusagen allein gehörten. Er bevorzugte sie um so mehr, je unähnlicher sie dem Schriftdeutsch, je ungeschlachter, je nackter in gewissem Sinne, je ungewaschener sie waren. Er brachte solche Wörter auf eine Art hervor, als ob er sie im Augenblick erst selber gemacht habe.
Ein solches Redetalent wurde in Hinterwinkel nicht unterschätzt. So ein Dorferzähler hat überhaupt meist ein dankbareres Publikum als die Herren Schriftsteller – abgesehen davon, daß er allerdings auch meistens mehr Talent hat. Die sogenannte gebildete Dame, die aus der Leihbibliothek ihren Roman liest, kümmert sich kaum um die Kunst der Darstellung. Sie liest ihre Romane des Stoffs halber, sie liest aus gemeiner Neugierde. Die Zuhörer des Hannpeter aber konnten keine Neugierde mehr befriedigen, sie hatten seine Geschichten ja alle schon hundertmal gehört: sie bewunderten seine Kunst. Sie genossen diese Kunst in ihren intimsten Feinheiten.
Und der Hannpeter hatte immer Zuhörer.
Still und einsilbig habe ich ihn nur einmal im Leben gesehen: in der Scheune zu Tauberbischofsheim. Ein Künstler, ein Dichter kann eben nicht zugleich auch ein Held sein. Er erzählt von Helden (auch wenn er von sich erzählt), mehr kann man nicht von ihm verlangen.