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Drittes Kapitel

Wie ich den lieben Gott persönlich kennenlernte

Als kleines Kind saß ich oft auf der alten Mauerbrüstung der Haselbachbrücke und sah dem grünen Eisvogel zu und der weißbrüstigen Wasseramsel oder zählte zum soundsovielten Male die alten Pappeln, die das Wiesental hinauf den Lauf des Baches bezeichneten. Eines Tages aber gab ich mich einer anderen Beschäftigung hin.

In der Sandsteinplatte, die die Mauerbrüstung deckte und worauf ich saß, befand sich, wahrscheinlich auch von der Hand eines spielenden Knaben herrührend, eine kreisrunde Aushöhlung. Diese hatte ich mit Wasser ausgefüllt, das ich in einer alten Hafenscherbe vom Bache heraufgeholt hatte, und kauerte nun daneben, emsig bemüht, mit Hilfe eines Steines ein Häuflein zusammengetragener Ziegelbrocken zu feinem Mehl zu zerklopfen. Aus dem Ziegelmehl wollte ich mir rote Farbe bereiten, um, ich weiß nicht mehr was, damit zu bemalen. In dem wassergefüllten Steinbecken gedachte ich den Brei anzurühren.

Aber noch hatte ich vollauf mit Klopfen zu tun, das nur langsam vonstatten ging, weil der Klopfstein viel zu groß und schwer war für meine kleinen Kinderhändchen. Da kamen drei oder vier große Buben über die Brücke geschlurcht, und als sie mich gewahrten, sprang der größte unter ihnen auf mich zu und rief: »Seht den Bettelbuben, der die Brücke verdirbt, sein Vater bezahlt nichts daran, wenn sie neu gebaut werden muß; mach, daß du runter kommst oder wir schmeißen dich ins Wasser, daß du ersäufst wie eine räudige Katz.«

Erschrocken blickte ich die großen Kerle an, ohne etwas zu sagen oder mich von der Stelle zu rühren. Sofort ergriff mich der Längste an der Schulter. Er stieß mich zwar nicht ins Wasser, aber er riß mich von der Brücke, und ein anderer, ein großknochiger, stämmiger Kerl, den sie im Dorf den Finzer nannten (ich machte jetzt zum erstenmal seine nähere Bekanntschaft), schlug mich mit der Faust auf den Rücken, daß mir der Atem ausging und ich nur noch stöhnen und ächzen konnte.

Doch im nämlichen Augenblick erhielt der Finzer, der sich's nicht versah, eine Ohrfeige, daß er zu Boden taumelte, während die übrigen in hellem Schrecken die Flucht ergriffen.

Die Schurken! hörte ich jemand ingrimmig sagen, und vor mir stand ein Mann von hoher, mächtiger Gestalt mit einem dickbuschigen schneeweißen Schnurrbart im hochroten Gesicht, mit einem breitkrämpigen schwarzen Filzhut auf dem üppig behaarten weißen Kopf.

Im ersten Augenblick flößte mir das rote Gesicht mit dem weißen Bartgebüsch eine heimliche Furcht ein. Aber diese verschwand schnell, der Mann blickte mich aus kleinen grauen Äuglein freundlich an.

»Komm ein wenig mit«, hörte ich ihn sagen, und er nahm meine Hand.

Jenseits der Brücke, wo wir wohnten, aber nicht unten an Bach und Straße, sondern am Abhang der Kyrlihalde und in beträchtlicher Erhebung, sah zwischen einem Wald von Obstbäumen, weißleuchtend, ein vornehmes kleines Haus auf den Dörrhof und Hinterwinkel herunter.

Das Haus war einfach gebaut, und niemand hätte es eine Villa genannt, aber mit seinen weißen Wänden und grünen Fensterläden hatte es etwas Sonntägliches in seinem Aussehen.

In diesem Hause wohnte der Mann mit dem breiten roten Gesicht und dem weißen Schnauzbart – der Herr Steuerperäquator Otto Heinzelmann, ein alter Junggeselle, dem seine Schwester Sabine die Haushaltung führte. Er stammte, als Lehrerssohn, aus Hinterwinkel und hatte sich nach seiner Zurruhesetzung wieder dahin zurückgezogen.

»Komm ein wenig mit mir«, hörte ich ihn sagen, und er nahm meine Hand. Dann sah ich mich in der sauberbehaglichen sonnigen Stube des alten Herrn, und er saß auf einem Schaukelstuhl und ich auf seinen Knien und sah zu ihm auf mit einem Gefühl, wie wenn er der liebe Gott wäre, Gott Vater selber, so würdig und freundlich erschien er mir. Was er zu mir sagte und mich fragte, weiß ich nicht mehr; aber die Empfindungen, die seine Güte in mir weckte, sind mir unvergessen geblieben, wie der Ausdruck seiner lächelnden grauen Augen unter den dichten weißen Brauen.

Nur einer Rede, die ich selber hielt, erinnere ich mich noch.

Von der Haselbachbrücke aus oder an der sonnigen Kyrlihalde vor der Gartenhecke des Herrn Steuerperäquators, wo ich allein oder mit der kleinen Olga Rotermund buntgeringelte Schneckenhäuschen suchte, hatte ich oft eine schwach ausklingende ferne Musik vernommen und mit andächtigem Entzücken darauf gelauscht. Als zum allererstenmal die überraschenden Klänge an das unerfahrene Ohr des kleinen Menschenkindes anschlugen, drehten sich, wirklich seine Augen in die Höhe; das Kind glaubte die Engel im Himmel singen zu hören. Von seiner Mutter aber wurde der kleine Frager belehrt, daß der Herr Steuerperäquator die Musik mache.

Nun fiel mir mitten in der Stube meines neuen Freundes ein großer dreieckiger und an der einen Seite ausgeschweifter Kasten von gelbrotem Kirschbaumholz in die Augen, der nicht aufrecht stand, sondern liegend auf drei säulenartigen Beinen ruhte, und ich konnte mir nicht denken, wozu das seltsam gestaltete Möbel gut sei. Dann erinnerte ich mich plötzlich an die gehörten Töne und ich sagte: »Macht das Ding da die Musik?«

»So sag' ihm doch,« bat ich, »es solle mir auch ein bißchen Musik machen.«

Noch höre ich, wie Heinzelmann lachte und mir dann ein lustiges Stücklein vorspielte, daß ich meine Augen weit auf. sperrte und vor Erstaunen kein Wort mehr hervorbrachte, obwohl ich noch manche Frage in der Seele trug.

Mit einem bunten Münchener Bilderbogen wurde ich entlassen, und im Hausgange rief mich Schwester Sabine an und füllte mir meine Taschen mit Frühbirnen.

Schon hatte ich viel von dem lieben Gott reden hören, der in der Höhe wohnt, und hatte auch gelernt, kleine Gebetchen an ihn zu richten. Jetzt glaubte ich, ihn persönlich kennengelernt zu haben und konnte mir eine deutliche Vorstellung von ihm machen. Bevor ich von nun an betete, setzte ich zuerst den Steuerperäquator Otto Heinzelmann auf den himmlischen Thron, den Mann mit dem schneeweißen dicken Schnurrbart und buschigen Brauen im hochroten Gesicht, und zu diesem lieben Gott betete ich dann und wendete ich mich vertrauensvoll in allen meinen Anliegen.

Zu dem Menschen Otto Heinzelmann aber trat ich erst viel später in nähere Beziehung.


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