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Das war ein schmutzig aussehender, trag hinschleichender Fluß, eine altmodische Brücke mit zahlreichen hohen Steinbildern im Barockstil und jenseits des Stromes eine alte Stadt und Festung.
Den Fluß hinauf und hinunter sah man viele andere Brücken der mannigfachsten Zusammenfügung in Holz und Stein und Eisen. Drüben hinter einem massigen Festungstor, hinter Mauern und Wällen, streckte die Stadt malerische Türme und Zinnen in den Himmel empor. Nach der anderen Richtung, über die Vorstadthäuser und parkartigen Anlagen hinaus, ragten kühngestaltige weiße Felsberge in die sonnige Luft. Auf einem von ihnen schien eine Stadt über der Stadt zu thronen, dort lag die Zitadelle.
Ein unablässiger Menschenstrom wogte über die Brücke: elegante Stutzer und derbe Gestalten in langen grauen Arbeitsblusen, aufgedonnerte Damen und schmutzige Marktweiber, stolze Reiter in bunten Uniformen und lärmende Fuhrknechte, feine Karossen und alte hinfällige Mietskutschen mit noch hinfälligeren Mähren davor, Kindermädchen mit seidengefütterten Wägelchen und karrenziehende Metzgerburschen und Packträger; alles bunt durcheinander, alte und junge, hübsche und häßliche; der eine hastend und rennend, der andere faul und lässig vor sich hinschlendernd; der ernst und gedankenvoll, jener ein Liedlein pfeifend; der dort eine Zeitung lesend, der andere im heftigen Gespräch schreiend und gestikulierend.
Kalt und ruhig sahen, unter ihren Aureolen von vergoldetem Blech, die Brückenheiligen auf das ameisenhafte Treiben hinab.
Andere Augen aber machte ein bartloser, bleichgesichtiger, junger Mensch, der neben einer Reisetasche, Ränzchen und Regenschirm auf der steinernen Brücke saß, zwischen dem heiligen Stanislaus und dem heiligen Franz von Borgia.
Es war Alexander Schmälzle. Mit ängstlich verschüchtertem Blick sah er von seinem Brückengeländer aus in den vorüberwogenden Menschenstrom. Er hatte die Ahnung, daß er in diesem Strom schwimmen lernen müsse, ohne zu begreifen, wie das möglich sei. Und er fühlte sich angefröstelt und angefremdet von dem ungewohnten Elemente.
Er dachte an die alte Reichsstadt Hopfingen in Schwaben, wo es sich im Grunde recht gemütlich lebte, wo man in hundert Jahren nicht so viel wildfremde Gesichter sah, als hier in einer Viertelstunde, wo alle Leute »Guten Tag, Herr Lehrer« sagten, wenn sie an Alexander vorübergingen, und wo man genau wußte, wenn man zwischen den Hauptmahlzeiten Hunger verspürte, was ein Schoppen Bier und eine Portion Limburger Käse kosteten, auch wo beides für wenige deutsche Groschen zu haben sei.
Alles das konnte man von der Stadt, vor deren Toren der Ex-Unterlehrer saß, nicht behaupten.
Das Wasser gurgelte; dem Schmälzle war's als murmelte es: Du wirst noch Fremde genug bekommen, Kind, mehr als dir lieb sein wird.
Ein Trupp Schulbuben blieb vor Alexander stehen, wie vor einem fremden Wundertier. Da hing er sein Ränzchen um, nahm seine Reisetasche und Regenschirm zur Hand und verfolgte seinen Weg in die Stadt.
Nun mußt du doch einmal jemand nach deinem Vetter oder wenigstens nach seinem Kloster fragen, sagte er sich nach längerer Wanderung durch die Hauptstraße, und komponierte innerlich die Anrede und lernte sie auswendig.
Aber die Leute gingen so rasch an ihm vorüber, daß sie alle, bis er seine Ansprache tun wollte, immer schon weit fort waren.
Er dachte, wenn diese Menschen nicht von mir gefragt sein wollen, mögen sie's bleiben lassen, und schlenderte weiter. Die Neuheit der Gegenstände um ihn her, die Pracht der Straße, in die er eben einlenkte, die Millionen ungesehener Wunder in den Schauläden übten für den Augenblick eine überwältigende Wirkung auf ihn, daß er Traurigkeit und Ratlosigkeit darüber vergaß.
Doch konnte es nicht fehlen, daß er einmal an einen Punkt kam, wo die Stadt anfing, aufzuhören und dann zuletzt wirklich aufhörte. Da tat er endlich, nicht ohne mannigfache sprachliche Fährlichkeiten, die lang vorbereitete Frage nach dem Collège des frères de Marie. Mehr aus den Handbewegungen des Auskunftgebers als aus seinen Worten ward Alexander klar, daß er weit zurück müsse.
Durch Schaden klug geworden, fragte er nun an jeder Straßenecke, wobei er oft lange stehen mußte, bis jemand kam mit hinlänglicher Geduld, um seine mühsam herausgebrachte Anrede abzuwarten. Doch fand sich am Ende immer ein altes Weib oder ein gutmütiges Dienstmädchen oder gefälliger Krämer, um dem verlegenen jungen Mann seine Fragen abzunehmen und eingehend zu beantworten.
Wenn Alexander die Auskunft nur verstanden hätte. Er fragte sich aber durch die ganze Stadt, und schließlich fand er sich wieder auf der nämlichen Brücke, von wo er ausgegangen war. Nach den Andeutungen der Leute war es aber von hier immer noch eine kleine Reise bis zu dem Hause der klösterlichen Schule, die er suchte, und da es bereits dunkelte, gab Alexander alle Hoffnung auf, noch heute die frommen Brüder der Mutter Gottes und den eigenen Vetter Pankraz aufzufinden.
In der Vorstadt, nahe bei seiner Brücke, kaum hundert Schritte vom Brückenkopf entfernt, entdeckte Alexander ein bescheidenes, weißes Schild mit der Inschrift: » Hotel aux trois mûles noires.« Der Ex-Unterlehrer verstand Geschriebenes besser als Gesprochenes. Die Inschrift gefiel ihm. Sie klang nicht alltäglich. Und die Lage, hart an dem dunklen Pont Saint-Amour, dem finsteren Tor gegenüber, fand Alexander recht abenteuerlich. Auch sprach nichts vom Äußeren des Hauses von allzu großer Pracht und Vornehmheit, was ihm noch ein besonderes Vertrauen einflößte.
In den »Drei schwarzen Mauleseln« wurde Alexander sehr zuvorkommend empfangen. Man nahm ihm seine Sachen ab und führte ihn eine Treppe hoch in ein geräumiges, sauberes Zimmer.
Dieser Raum hatte, trotz seines beträchtlichen Umfanges, statt aller Fenster nur eine offene Flügeltür, die auf einen Balkon hinausging. Vor dem Balkon stand ein gedeckter Tisch, und daran saßen zwei Herren beim Essen. Sie konnten mit ihrem Abendessen zugleich die herrliche Frühlingsluft und die schöne Aussicht auf den Strom und die Basteien der Festung genießen.
Ein junges, hübsches Weib von kräftiger Gestalt mit seinem Musselinhäubchen auf den tiefschwarzen Haaren, eine Erscheinung, von der man nicht leicht sagen konnte, ob sie Frau oder Fräulein, Herrin oder Dienerin sei, lud Alexander ein, an einem Seitentische Platz zu nehmen und begann zu decken. In diesem Geschäft wurde sie von dem älteren der beiden Herren am Balkontisch freundlich unterbrochen. Alexander erriet aus dessen Gebärden, daß die Herren ihn liebenswürdig einladen ließen, an ihrem Tische und in ihrer Gesellschaft zu Abend zu essen.
Und ohne weiteres trug die Aufwärterin sein Gedeck zum Tische der anderen. Mit den Worten: » S'il vous plait, Monsieur« und der entsprechenden Handbewegung rückte sie auch den Stuhl zurecht, Alexander brauchte sich bloß darauf zu setzen.
»Nun paß auf, nun fängt das Schwimmen an«, sagte sich Alexander.
Die beiden Franzosen waren sorgfältig in Schwarz gekleidet. Der ältere, dessen Jahre Alexander ungefähr auf die Mitte der Sechziger schätzte, nickte Alexander mit herzgewinnender Freundlichkeit zu. Sein glattrasiertes Gesicht, mit der dünnrückigen, leise gebogenen Nase, dem feinen, schwach gedoppelten Kinn, den lebhaft geröteten Wangen, den blitzenden Augen, flößte Alexander Vertrauen ein. Sein jüngerer Mitesser, ungefähr Ende der Dreißig, hatte wenig Ähnlichkeit mit ihm; er benahm sich steif und zurückhaltend.
Bei der Konversation, die sich nun entspann, konnten die freundlichen Franzosen die Erfahrung machen, daß es Fälle und Gesprächsgelegenheiten gibt, in denen Geduld nützlicher und notwendiger ist als Geist und Witz. Aber die Liebe überwindet alles und die Höflichkeit viel.
Auch Alexander konnte Geduld brauchen. Auf seine Mitteilung, daß er aus Württemberg sei, wurde er gefragt, ob dies eine große Stadt wäre.
»Württemberg oder Schwaben,« erklärte Alexander fast entrüstet, »ist keine Stadt, sondern ein Land, ein Königreich.«
»Sie sind also kein Deutscher«, verwunderte sich der Franzose.
Auch dies konnte Alexander keineswegs zugeben.
» Comment?« versetzte sein Gegenüber. »Sie sind aus Württemberg und sind auch Deutscher, das verstehe ich nicht.«
Und Alexander verstand wieder nicht, was der Franzose nicht verstand, bis er endlich merkte, daß dieser nicht wußte, Württemberg sei ein Teil von Deutschland. Da kam sich der Ex-Unterlehrer Schmälzle wie aus den Wolken gefallen vor. War es möglich, gab es Leute auf der Welt, die aussahen wie ein alter Exminister, denn für so etwas glaubte Alexander den Franzosen nehmen zu müssen, und die nicht wußten, was das dümmste Schulkind von Eselshofen weiß, von Hinterwinkel und Hopfingen gar nicht zu reden. Herr Gott, dachte Alexander, wenn ich hier Unterlehrer wäre, denen wollte ich die Geographie beibringen.
Einstweilen versuchte er dies ohne staatliches Mandat und Einkommen.
»Richtig, richtig,« rief der Exminister, »ich dachte nicht daran, mais que voulez-vous, nous aimons la clareté, nous autres Français ... Wir lieben die Klarheit, wir Franzosen. Aber ist der König von Preußen nicht dennoch Ihr König und Herr?«
Bei diesem hochverräterischen Angriff auf seinen König Karl erschrak Alexander im höchsten Grad.
»Nun, sehen Sie,« sagte lächelnd der Franzose, »wer kann es verstehen? Am Ende wissen die guten Deutschen selber nicht, wer Herr in ihrem Hause ist, wenn es ihnen der König von Preußen nicht allergnädigst beibringen will ...«
Er erkundigte sich dann nach Alexanders Vaterstadt. Diese Frage setzte den patriotischen Württemberger einigermaßen in Verlegenheit. Sollte er Hinterwinkel oder Hopfingen sagen? Er dachte sich, daß er dem Franzosen mit seiner Klarheit in geographisch-politischen Fragen nicht wohl mit Hinterwinkel kommen dürfe. Er nannte Hopfingen.
Der Franzose schüttelte den Kopf. Er kannte die alte Reichsstadt Hopfingen nicht einmal dem Namen nach.
»So kennen Sie gewiß Eßlingen,« rief Alexander fast unmutig aus, »eine der bedeutendsten Fabrikstädte Schwabens.«
Der Exminister kannte auch Eßlingen nicht, er konnte es gar nicht aussprechen. Alexander fühlte sich auf tiefste entrüstet, aber viel zu früh, denn bald kam er dahinter, daß selbst Stuttgart diesem Herrn nichts anderes war als ein spanisches Dorf.
Alexander war noch starr vor Entsetzen, da öffnete sich die Tür und eine sehr vornehm gekleidete junge Dame trat rasch ein und auf den Tisch zu. Bei ihrem Anblick erhoben sich die beiden Eßgenossen mit sichtbarem Erstaunen von ihren Stühlen.
»Sie hier, Fräulein?« rief der ältere, »welche Überraschung!«
Die Eingetretene antwortete mit einer Zungenfertigkeit, wovon Alexander bis dahin keine Ahnung hatte. Sie erklärte offenbar ihr verwunderliches Erscheinen.
Alexander verstand kein Wort. Er betrachtete dafür die äußere Erscheinung der Dame. Es war eine hohe Gestalt, die durch den langen schwarzen Mantel, der sie einhüllte, noch höher schien. Vom Gesicht, in das ein breitkrempiger Samthut mit drei Straußenfedern von der gleichen Farbe tiefe Schatten warf, sah man wenig. Nur ein seltsames Funkeln und weißliches Blitzen zuckte von Zeit zu Zeit fast unheimlich durch die dunkle Nacht unter dem schwarzen Samtfirmament.
»Und Sie hatten,« fiel der Exminister und verwunderliche Geograph mit seinem entzückendsten Lächeln ein, »Sie hatten die Liebenswürdigkeit sich herauf zu bemühen, um uns mitzunehmen. Das ist bezaubernd. Wir stehen zu Ihrer Verfügung.«
»Gut, gehen wir,« erwiderte sie drängend, »der Abend ist so schön.«
Bei diesen Worten warf sie einen verwundert fragenden Blick auf den Fremden, der stumm beiseite stand.
»Ah, ich vergaß,« sagte der Franzose, »der Herr ist ein Deutscher, der uns die Ehre erwiesen hat, mit uns zu speisen.«
Die Dame würdigte den Ex-Unterlehrer eines zweiten kurzen Blickes, begleitet von einem kaum merklichen Ausdruck um den Mund, einem leisen Gemisch von Mitleid, Herablassung und Spott. Die beiden Herren suchten ihre Überröcke und Hüte. Der ältere reichte Alexander die Hand:
»Auf Wiedersehen, Sie sind doch morgen noch da? Dann werden wir ja unseren Kursus der Geographie fortsetzen, wobei ich mir schmeichle, meine etwas mangelhaften Vorstellungen über Ihr schönes Vaterland zu berichtigen und zu erweitern. Auch über deutsche Philosophie lassen Sie uns reden. Ihr Volk hat darin einiges geleistet, und wenn ich mich in Ihrer Physiognomie nicht sehr täusche, sind Sie selber ein wenig Philosoph; also auf morgen.«
Und noch einmal drückte er Alexander herzlich die Hand; das Fräulein nickte ein klein wenig mit dem Kopfe, der junge Herr ebenso – dann stand Alexander allein.
»Wenn ich mich in Ihrer Physiognomie nicht sehr täusche, sind Sie selber ein wenig Philosoph.«
Alexander hatte diese Worte ganz gut verstanden und wiederholte sie still vor sich hin. Die Franzosen können wirklich liebenswürdig sein, dachte er, wenigstens die männlichen.
Vor dem Einschlafen ging Alexander ein wirres Gedankendurcheinander im Kopf herum. Hartnäckig drängte sich ihm die Frage auf, ob wohl alle großen Damen der großen Welt die Gewohnheit hätten, so hochmütig verächtlich die Mundwinkel zu verziehen und so kühl gleichgültig mit dem Kopf zu winken.
In der Nacht träumte Alexander vom Hinterwinkler Kirchturm und war gar nicht erstaunt darüber, daß der Turm auf seiner Spitze statt des gewohnten Gockelhahnes einen breiten schwarzen Samthut trug, dessen Federn ganz Hinterwinkel überschatteten und verfinsterten. Auch sonst wunderte sich niemand. Nur Olga Rotermund, der Alexander beim Eintreiben seiner Geißen und Gänse begegnete, schien sehr traurig. Sie sagte, es sei Sonnenfinsternis und machte ein Gesicht, als ob sie sich auf ihr gelehrtes Wissen nicht wenig einbilde. Der Finzer kam auch dazu; er erklärte: dem Gänselex kannst das nicht weismachen, der ist ein Philosoph.