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Zweites Kapitel

Wie einer schlafend in den Krieg zieht

Vier oder fünf Wochen waren vergangen. Die Hinterwinkler hatten beim schönsten Wetter das schönste Heu gemacht, und der Blessenvogt hatte viel geflucht, weil er keinen Ersatz für den Hannpeter bekam, aber die Arbeit war zuletzt doch getan worden.

Alles ging seinen ruhigen Gang. Man merkte in Hinterwinkel wenig davon, daß mitten im Vaterlande der blutige Krieg wütete. Die Bauern berechneten, um wieviel teurer sich der Hafer unter solchen Umständen verkaufen werde, und schärften Sensen und Sichel für die Ernte.

Einige Bauern wollten in der letzten Zeit wiederholt Kanonenschüsse gehört haben. Sie wurden ausgelacht. Sie hatten wohl donnern hören. Nichts schien glaublicher in diesen Tagen des Juli.

Dann verbreiteten sich aber auf einmal beängstigende Nachrichten. Die Hannoveraner hätten eine Schlacht verloren. Die freie Stadt Frankfurt habe sich den Preußen ergeben müssen. Unsere Soldaten seien bereits über den Odenwald zurückgewichen. Es schien wahrhaftig, als ob der Krieg näherkommen wolle.

Kanonenschüsse wurden deutlicher. Manche Leute machten sich daran, ihre alten Silbermünzen zu vergraben.

Und keiner war aufgeregter als ich.

*

Und keiner war aufgeregter als ich.

Ich lebte und webte in den großen Vorgängen der Zeit. Zwar wußte ich wenig von ihnen und hatte von den Einzelheiten des Krieges nicht die geringste Vorstellung. Um so geschäftiger erwies sich meine Phantasie. Sie wurde nicht müde, mir nach ihrer Art die Dinge zu zeigen. Ich lebte den ganzen Krieg im Geiste mit, ich dichtete ihn mir. Ich dichtete ihn groß und gewaltig, eine Epopöe mit ungeheuerlichen Umrissen, nach Reminiszenzen aus dem Kaiser Octavian und den vier Haimonskindern. Ich wurde ein Schlachtendenker in des Wortes verwegenster Bedeutung. Mein höchster Wunsch aber war: das in der Phantasie Vorgestellte einmal auch mit leibhaftigen Augen schauen zu dürfen.

Durch diesen Wunsch stand ich freilich wieder im Widerspruch mit Hinterwinkel. Und hätte man meine Gedanken gewußt, ich wäre sicherlich dafür geprügelt worden.

Aber ich konnte mir nicht helfen. Mochte der Krieg auch Hinterwinkel verheeren und Jammer und Elend mit sich bringen, wenn ich ihn nur sehen durfte. Ich war als Kind der reine Nero. Wenn irgendwo ein Feuer ausbrach, gleich wünschte ich, das ganze Dorf möchte davon ergriffen werden, um mich an dem prächtigen Schauspiel weiden zu können. Wenn bei Tauwetter, im Februar oder März, der sonst so nüchterne Haselbach sich übernahm und seine lehmgelben Fluten durch die Gassen von Hinterwinkel wälzte, daß die Bauern mit dem Vieh im Stall und mit den Sauerkrautkufen im Keller ihre Not halten, da schmerzte mich nichts mehr, als daß zuletzt das Wasser wieder zu sinken begann.

Mit dem Krieg sollte mein Wunsch in Erfüllung gehen – nicht auf Kosten der lieben Hinterwinkler, aber auf meine eigenen.

*

Eines Morgens früh saß ich droben auf der Schillingsberger Höhe, am Stamm des Sindelwaldes. Denn ich hatte gerade gar nichts zu tun. Weder mit den Gänsen noch mit den Geißen fuhr man um diese Zeit auf die Weide, und der Vater wußte mich auch nicht zu beschäftigen, er blieb selber, wenn nicht des Krieges so doch der Ernte wegen, in diesen Wochen fast ohne Arbeit. Ich saß also am Waldsaum und träumte Schlachten.

Da kam plötzlich die Hanne Strohmelker vom »Kleinen Dörfle« auf mich zu.

Die Hanne verdiente ihr Brot mit Steinklopfen. Sie betrieb dies Geschäft Sommer und Winter, bei Frost und Hitze, bei Wind und Regen. Sie klopfte die Feldsteine, die die Bauern von ihren Ackern weg auf die »Wüstungen« karrten, auf dieselben unangebauten Stellen, die auch als Geißweiden dienten. So führte uns unser Beruf oft zusammen.

Ich saß auch jetzt zufällig auf dem Steinhaufen, der augenblicklich ihr Arbeitsfeld war. Sie grüßte mich und setzte sich dann an ihr Geschäft. Auf einem großen Unterlegestein, den sie zwischen die Beine nahm, zerklopfte sie mit kurzstieligem Hammer die großen Wacken.

Lieblich anzusehen war die Hanne nicht. Aus ihrem eingefallenen Gesicht ragte eine unerhört dünne Nase hervor, an deren Spitze immer ein brauner Tropfen hing. Sie schnupfte fleißig Tabak. Ihre ganze Kleidung bestand im Sommer in einem groben Hemd und einem einzigen vielgeflickten Unterrock. Das Hemd ließ die entfleischten Schultern bloß und verdeckte auch die sonnverbrannte welke Brust nur wenig. Aber auch der einzige Rock wurde ihr hinderlich, wenn sie mit ausgestreckten Beinen dasaß und die geklopften Steine sich vor ihr häuften; sie schob ihn dann zurück, unbekümmert um die entblößten Beine und Knie.

Seit längerer Zeit gesellte ich mich manchmal zu ihr und hörte ihre Klagen an, ihre sozialen Auseinandersetzungen, ihre Ideen über arm und reich ... Ganz besonders spitzte ich die Ohren, wenn die Hanne Strohmelker das Gespräch auf ihren Cyprian brachte. Dann wurden oft ihre Augen naß und sie griff beim Schnupfen noch tiefer in ihre Dose von Birkenrinde. Ihre stoßgebetartigen Ausrufungen wurden häufiger. Es war dann nicht zu zählen, wie oft sie ihr »Oh, du kreuzsterbender Heiland!« in ihre Rede mischte.

Die Hanne hatte als junges Mädchen in Nürnberg gedient und war mit diesem Cyprian nach Hinterwinkel zurückgekehrt. Sie sprach gern von ihm. Sie rühmte seine Schönheit und seinen Witz. Sie rühmte auch seinen Vater, einen blauen Reiteroffizier.

Wenn ihr Cyprian bei ihr wäre, o du kreuzsterbender Heiland, da ginge es ihr besser, da wäre sie nicht wie eine Vogelscheuche jedem Wetter ausgesetzt. Da brauchte sie keinen Eichelkaffee zu trinken, sondern könnte sich beim Krämer vom besten kaufen.

Das bildete ihr ewiges Lied.

Aber der Cyprian hatte seit zwanzig Jahren nichts von sich hören lassen. Beim Dorfschmied hatte er drei Jahre lang in der Lehre gestanden, dann war er fortgezogen, sechzehn Jahre alt, und seine Mutter hatte nichts mehr von ihm vernommen.

Auch heute fing sie von ihrem Cyprian an. Wo er nur sein mochte. Gewiß lebte er noch. Ihr Mutterherz sagte ihr's täglich. Das konnte nicht lügen.

Am Ende war er gar unter die Preußen gegangen und Soldat geworden. Das würde ihm ähnlich sehen. Aber dann konnten sich die Knöpflisschwaben vor ihm in acht nehmen.

Während diesen Reden der Hanne kam ein Fuhrwerk des Weges, ein Leiterwagen mit zwei Braunen. Als Fuhrmann erkannte ich den Jakob Schmitz von Langacker. Er redete mich an, und ich hörte zu meiner größten Verwunderung, daß der Schmitzenjockel in den Krieg ziehe, wirklich in den Krieg. Er sei zu Proviantfuhren gedungen.

Der alte Hauderer, ein ehemaliger Soldat, las die Wirkung seiner Mitteilung in meinem Gesicht.

»Wenn d' kein Schneider wärst,« sagte er blinzelnd, »würde ich sagen, du solltest mitkommen, könntest was sehen und hören.«

Die Anspielung auf den Schneider rührte mich nicht, ich hatte mich immer über meinem Stand gefühlt.

»Die Hanne kann ja deine Eltern benachrichtigen,« meinte Jockel. »Wenn sie deinem Vater sagt, du seist bei Jakob Schmitz von Langacker, so weiß er dich wohl aufgehoben und hat keine Angst um dich.«

Die Hanne erklärte sich bereit, die Botschaft zu übernehmen.

Sie machte sich daraus kein Gewissen, sagte sie; denn wenn ich erst einen Flintenschuß hörte, würde ich schon umkehren und nach Hause laufen. Ich sei eben kein Cyprian. Wo das auch herkommen sollte bei einem Schneider!

Dieser Hanne Strohmelker mußte ich zeigen, daß sie sich irrte. Ich unterdrückte alle Bedenken und stieg unverweilt zu Jakob Schmitz auf den Wagen – mit klopfendem Herzen.

In Schillingsberg stießen noch drei Fuhrwerke zu uns. Und wir kamen bald in fremde Gegenden, durch unbekannte Dörfer und Städte.

Ich hatte bis jetzt nur Dörfer gesehen. Wie riß ich die Augen auf, wenn wir auf dem holprigen Pflaster durch die engen städtischen Straßen schotterten, wo bald der altertümliche Bau eines Rathauses, bald eine großmächtige Kirche mir einen ganz neuen Begriff von der Welt gaben; wo bald ein heraushängender Löwe oder Bär, ein Engel von vergoldetem Blech, eine Sonne oder Rose, ein weißer Schwan oder langstelziger Storch, ein wilder Mann oder drei Mohren mein Erstaunen erregten.

In den Fuhrleuten erweckten diese Dinge die Erinnerung an ihren Durst. Der Schmitzenjockel war der Durstigste. Er gab jedesmal die Losung aus.

Er war auch ein Schalk. »Ihr seid Narren,« wiederholte er bei jeder Einkehr, »wir verlieren durch einen kurzen Aufenthalt nichts, und durch einen langen ebensowenig. Kommen wir unterdessen nicht zum Kriegsschauplatz, so wird der Kriegsschauplatz schon zu uns kommen, umgekehrt als wie bei Mohammed dem falschen Propheten.«

Ich allein fühlte mehr Durst nach Kriegsschauplätzen als nach Bier und Wein. Aber ich wurde nicht um meine Meinung gefragt. Ich mußte wacker mittrinken. Der Jockel besonders bot mir alle Augenblicke sein Glas.

»Daß du Courage kriegst«, sagte er lachend.

Ich mochte aussehen, als ob ich ihrer nötig hätte.

Und mir war in der Tat nicht wohl zumute.

Wenn ich an meine Mutter dachte und ihre Angst um mich, und was der Vater zu meinem Davongehen sagen werde, wäre ich am liebsten umgekehrt und in einem Atem nach Hinterwinkel zurückgelaufen. Nur die Scham vor den Fuhrleuten hielt mich davon ab.

In solcher Verfassung befand ich mich, als plötzlich die erste Kriegserscheinung vor uns auftauchte. Auf einer Querstraße sprengte sie an uns vorüber, in voller Karriere, ein gelber Dragoner, mit Schweiß und Staub bedeckt, auf einem Gaul, der weiße Schaumflocken hinter sich warf.

Ich griff mir unwillkürlich an die Brust, das Herz drohte mir stillzustehen, mein Atem stockte. Ich erwartete, daß es jeden Augenblick hinter den Hügeln hervorbrechen werde, in farbigen Schwärmen, zu Roß und zu Fuß, in kämpfender oder fliehender Wildheit.

Aber es geschah nichts. Außer friedlich arbeitenden Landleuten zeigte sich nichts Bewegliches in der fruchtbaren Hügellandschaft. Die Bauern in den Dörfern nannten mehrere Ortsnamen, wo wir unsere Württemberger finden würden; doch sprachen sie damit nur Vermutungen aus. Etwas Sicheres wußten sie nicht.

Ich mußte aber immer über den jagenden Dragoner nachdenken. Was der nur für eine Aufgabe haben mochte, so allein durch die Welt zu rasen.

Wir fuhren auch die Nacht hindurch. Und der Wein, der mich, im Bunde mit der Kriegserwartung und den alten Fuhrmannsgeschichten des Schmitzenjockel, lange genug aufgeregt hatte, übte endlich die entgegengesetzte Wirkung: die Augenlider wurden mir schwer, ich vermochte sie mit der größten Mühe nicht mehr offen zu halten. Dann drohte ich von meinem Sitze herabzusinken und wurde vom Jockel nur gerade noch aufgefangen.

Ich fühlte mich von ihm in den Wagenkorb zurückgelegt, zwischen Decken und Tücher, und dann fühlte ich nichts mehr.

Beim Aufwachen verwunderte ich mich, daß ich nicht auf unserer Bodenkammer in meinem Bette lag, sondern in einem Wagenkorb, auf offener Straße, zwischen städtisch aneinandergereihten Häusern, gerade unter einer riesigen Laterne, die mit einer ungeheuren rostigen Kette am Himmel aufgehängt schien.

Doch leuchtete nicht die Laterne, sondern die flammende Julisonne, die noch höher am Himmel hing. Auf der Straße wimmelte es von Soldaten ...

Im Schlafe war ich, ohne zu wissen wie, mitten in den Krieg geraten.


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