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Siebentes Kapitel

Von den Früchten dieses Krieges

Niemand wurde durch die Erscheinung des Cyprian so im Innersten getroffen wie ich. Also das kann einer werden, dachte ich, wenn er nicht in Hinterwinkel sitzenbleibt.

Und meine ganze Sehnsucht nach der Fremde, nach der weiten Welt, nach, ich wußte selbst nicht was, vor allem nach etwas anderm als der elenden Flickerei und der Gesellschaft von Geißen und Gänsen, erwachte von neuem in mir und mit erhöhter Gewalt.

Warum sollte ich auch immerfort nur alte Hosen flicken, ich, der Walter Scott gelesen hatte, der die Vossische Odyssee auswendig wußte, auch sie stammte von Otto Heinzelmann, der »mensa« deklinieren und Schillers Glocke deklamieren konnte, der vier Instrumente zu spielen verstand und Talent zu einem Schlachtenbummler und Kriegsberichterstatter an den Tag gelegt hatte? Das alles bestritt mir niemand. Und doch sollte ich immer der Geißbub und Schneiderjung von Hinterwinkel bleiben ...

Meinen Vater, den stillen Mann, sah ich in diesen Tagen neu aufleben. Er wußte den Soldaten von Hamburg zu erzählen, und sie bewunderten laut, wie weit er gereist war. Sie schwatzten miteinander vom Alsterdamm und vom Jungfernstieg, vom Hafen und von der Sankt-Pauli-Vorstadt. Sie behandelten sich gegenseitig fast wie halbe Landsleute. Und die Hinterwinkler, die das mit ansahen und meinen Vater sich mit den Soldaten in ihrer heimischen Sprache unterhalten hörten, wovon sie keine Silbe verstanden, bekamen auf einmal einen ungeheuren Respekt vor dem Schneiderjakob.

Da tat sich unvermutet auch für mich eine Hoffnung auf.

Der Regimentskapellmeister war unser Nachbar geworden. Und mehr als das: er war bei Nepomuk Rotermund einquartiert. Diese Gelegenheit machte ich mir zunutze; wie ehemals, als ich noch mit der Olga musizierte, lag ich wieder tagelang drüben bei meinem alten Meister, und wie auf ein Evangelium lauschte ich auf jedes Wort, das zwischen ihm, dem ehemaligen Ludwigsburger Hoboisten, und dem fremden vornehmen Mann mit den goldenen Tressen und Achselborten gesprochen wurde. Keine Silbe davon wollte ich mir entgehen lassen.

Ich fiel dem Kapellmeister auf. Nepomuk erzählte ihm einen Teil meiner Geschichte.

Herr Franke betrachtete mich mit großer Teilnahme, indem er den langen gelben Schnurrbart durch die Finger zog. Er stellte allerlei Fragen an mich, deren Beantwortung ihn überzeugen mußte, daß ich nichts lieber auf der Welt treiben möchte als Musik. Über manches Wort von mir lächelte er, ohne daß ich begriff warum. Er wollte dann wissen, was ich konnte, und er prüfte mich. Er legte mir Noten vor, ich sollte sie auf der Klarinette spielen. Auch auf der Flöte mußte ich ihm eine Probe geben. Für mein Violin- und Klavierspiel interessierte er sich nicht.

Als ich zuerst die Klarinette in die Hand nahm, zitterte ich so stark, daß ich alle Kraft aufwenden mußte, sie fest am Munde zu halten. Ich wußte vor Aufregung nicht, ob ich gut oder schlecht spielte. Der Kapellmeister richtete nur stumme prüfende Blicke auf mich. Er redete mich mit Sie an, was mir im Leben nie geschehen war.

Ungeheuer erschrak ich, als Herr Franke plötzlich erklärte, es hinge nur von mir ab, ob ich eines Tages Kapellmeister werden wollte wie er. In meinem Alter habe er noch kein Instrument spielen können. Und mit siebzehn Jahren sei er auch noch Schneider gewesen.

Er wolle mir gern behilflich sein. Ja, er wolle mich gleich mit nach Hamburg nehmen ...

Mir wurde schwindlig, als ich solche Dinge hörte. Bangigkeit vor dem Unbekannten und ein unbeschreiblicher innerer Jubel mischten sich in meine Empfindung. Wie in einem Rausch eilte ich nach Hause.

Dort wurde ich schnell ernüchtert. Die Eltern machten bedenkliche Gesichter.

Der Vater schwieg eine Zeitlang, dann erklärte er, für ein solches Kasernenleben sei ich noch zu jung, ich liefe dabei zu große Gefahr. Bei meiner schwächlichen Konstitution würde ich leicht den Anstrengungen erliegen und mir eine Auszehrung an den Hals blasen. Auch sollte ich nur ein klein wenig bedenken, ob ich mich denn wirklich getraue, in einer so großen fremden Stadt zu leben, und noch dazu in einer Kaserne, ohne Möglichkeit, zurückzukehren.

Wenn aber mein Vater schon so sprach, so mag man sich erst die Mutter vorstellen. Ihr fiel zu guter Letzt noch ein, daß ich in Hamburg ja unter lauter Evangelische käme, wo ich sicher meine Religion verlieren würde.

Ich war schnell eingeschüchtert. Die Tränen der Mutter genügten.

So zogen die Hamburger ab ohne mich.

Ich sah ihnen betrübt nach. Und von neuem begann eine gemeine nüchterne Werkeltagszeit. Ich fühlte ihre Ödigkeit bitterer als je und machte mir selber die härtesten Vorwürfe, daß ich die gebotene Hilfe nicht keck ergriffen hatte, daß ich mir durch Feigheit und Unentschlossenheit die einzige Gelegenheit hatte entgehen lassen, mein Glück zu machen und zur Verwirklichung meiner Träume einen ersten entscheidenden Schritt zu tun. Ich wurde zornig gegen mich selber.

Auch meinem Vater grollte ich im geheimen. Er selber war mit fünfzehn Jahren in die Fremde gezogen, frei, ohne Bevormundung, und hatte seinen Weg selber bestimmt, und mich behandelte er wie ein Kind.

Wenn ich gar an den Cyprian dachte, wurde ich wütend. Und ich mußte immer an ihn denken, an ihn, der nichts gelernt hatte, der die Odyssee nicht auswendig wußte, der keine Ahnung hatte, was »mensa« sei, der weder die Glocke von Schiller deklamieren noch vier Instrumente spielen konnte, und der nun in goldenen Lichtern funkelte wie der Erzengel Gabriel. Es war zum Tollwerden.

Ich hielt es nicht mehr aus. Ich faßte einen kühnen Plan. Noch immer konnte ich ja die rettende Hand aus Hamburg ergreifen. Ich setzte mich also hin, droben in einer Bodenkammer, im geheimsten Winkel des Hauses, und schrieb einen Brief an den Kapellmeister Franke nach Hamburg.

Ich hätte mir sein Anerbieten überlegt und sei bereit, ihm zu folgen; er möge mir nur raten, wie ich mein Vorhaben ins Werk setzen könne. Acht Tage arbeitete ich an diesem schriftlichen Aufsatz.

Als ich aber im Begriff stand, meine Epistel auf die Post zu geben, zögerte ich von neuem.

Aber würde ich auch wirklich den Mut finden, Vater und Mutter zu verlassen, um Frau Musika anzuhangen? Ich wollte noch einmal warten bis zum andern Tag.

Dieser andere Tag war aber ein Sonntag, und er brachte für Hinterwinkel ein Ereignis, das das ganze Dorf in Aufruhr versetzte. In der Kirche, unmittelbar vor dem Gottesdienst, geschah das Seltsame. Ich sah oben vor der Orgel herab den Vorgängen zu.

Lange begriff ich nicht, um was es sich handelte. Nur soviel wurde mir klar, daß die schöne Cölestine aus dem »Kleinen Dörfle« den Mittelpunkt des Auftritts bildete, dieselbe Cölestine Bächle, der ich vor ungefähr einem Vierteljahr auf dem Acker des Füllentoni die Strohbänder gelegt und dabei das Weib entdeckt hatte.

Ich war ihr erst vor einigen Tagen im Sindelwald begegnet, wo sie für ihre lahme Mutter Lesholz zusammentrug.

Sie fragte mich, ob es denn wahr sei, daß ich mit den Hamburgern hätte ziehen wollen, um Musiker zu werden. Ich sähe so traurig aus seit jener Einquartierung. Allerdings sei ich schon vorher nicht sehr lustig gewesen. Ob ich mich denn noch an das Garbenbinden bei Füllentonis erinnerte.

»Du warst freilich damals lebhafter als ich«, sagte ich errötend. Denn die Püffe des Füllentoni fielen mir ein.

Und noch an etwas anderes dachte ich. Ich dachte an meine Entdeckungen von damals. Und ich errötete von neuem.

Cölestine schwieg. Aber ein schwerer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Nach einer längeren Pause sagte sie wehmütig: »Ich ärgerte mich an jenem Tage recht über den Bauern, dich so vor dem Vesperbrot wegzujagen. Du hättest beim Milchessen neben mir sitzen müssen, da wär' ich mit den Brocken nicht zu kurz gekommen.« Und sie lachte. »Aber du auch nicht; die schönsten hätt' ich dir hingeschoben. Oh, mir war's so froh zumute damals.«

»Du hattest an jenem Tage rötere Backen als heute,« antwortete ich scherzend, »du bist blasser geworden seit dem Abzug der Preußen. Und viel stiller. Hast du etwa auch mit nach Hamburg ziehen wollen, um Musikantin zu werden? Oder Marketenderin?«

Die Cölestine lachte darüber nicht, wie ich es erwartet hatte. Sie tat etwas ganz anderes, sehr Verwunderliches. Sie sank auf ihr Reisigbündel nieder und begann laut zu weinen und zu schluchzen.

Umsonst fragte ich, was ihr fehle. Ich erhielt keine Antwort. Und während ich in meiner Bestürzung und Ratlosigkeit neben ihr stand, erscholl durch den kahlen Buchenwald das Krächzen eines Hähers, der am Kreuzweg auf einer Esche saß. Anders als damals im Erntefeld klang jetzt sein Rufen ...

So rätselhaft mir damals im Walde das Betragen der bleichgewordenen Cölestine erschien, so unfaßbar blieb mir andern Tags in der Kirche der Sinn von dem, was im Schiff drunten vor sich ging.

Die Cölestine kniete an ihrem gewöhnlichen Platz; die übrigen Mädchen dagegen, die sonst den Stuhl mit ihr teilten, hielten sich im Gange und weigerten sich, einzutreten. Ein Geraune und Geplausche ging durch die Kirche und wurde immer lauter und beunruhigender.

Dann sah ich, wie sich die Cölestine plötzlich erhob und mit wankenden Schritten ihre Bank verließ. Sie sah heut noch blasser aus als das letztemal im Wald. Ich glaubte, es sei ihr übel geworden und sie wolle die Kirche verlassen. Aber auf dem letzten Bänklein des Schiffs, das Magdalenenbänklein genannt, sah ich sie niederknien neben der Hanne Strohmelker und einer andern Bettelfrau. Ihr bisheriger Stuhl wurde von den übrigen Mädchen unter triumphierendem Gebaren in Besitz genommen.

Zu Hause fragte ich die Mutter, was denn das mit der Cölestine sei, ich kann mich aber nicht erinnern, was sie darauf geantwortet hat.

Den Tag über hörte ich dann genug Bemerkungen über die Angelegenheit.

Ein Satz besonders klang als ewiger Refrain an mein Ohr: Und auch noch von einem Preußen! Es war für mich ein geheimnisvolleres Wort, ein dunkleres Rätsel als vier Monate vorher das:

Schleswig-Holstein meerumschlungen,
Schleswig-Holstein stammverwandt!

Aber etwas Schlimmes mußte der Cölestine von einem Preußen, vielmehr einem Hamburger geschehen sein. Das sah ich an, der Wirkung auf die andern, das sah ich an ihrem eignen traurigen Aussehen. Ich konnte mich deshalb nicht entschließen, meinen Hamburger Brief abzuschicken.

Also blieb ich vorderhand Geißbub und Schneiderjung in Hinterwinkel.


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