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Elftes Kapitel

Die Vögel vom Parke Saint-Amour

Immer mehr dünkten Alexander die Stunden, die er nicht zusammen mit dem Fräulein von Montmerle verbrachte, wie Pausen eines Musikstückes, die, wenn sie auch zur Komposition gehören, doch keine Musik sind. Wenn er sie gar zu einer verabredeten Stunde nicht zu Hause fand, wurde er todunglücklich.

Nach langer Zeit, mehr als ein halbes Jahr war bereits darüber verstrichen, war das heute wieder einmal der Fall.

Durch die Magd erfuhr er, das Fräulein sei gleich nach Mittag weggegangen. Einsam und trübselig verbrachte Alexander die Zeit bis zum Abendessen. Da er auf Theodosies baldige Rückkunft hoffte, blieb er auf seinem Zimmer; doch umsonst wartete er von Stunde zu Stunde.

Tissot war vor drei Tagen nach Paris gereist, wo seine zwei jüngeren Söhne wohnten, und Herr Urban befand sich auf einer Amtsreise mit seinem Vorgesetzten. Also sah Alexander auch einer einsamen Mahlzeit entgegen. Vor seinem Weggehen schrieb er an Fräulein Theodosie ein Billett, das er der Magd übergab und worin er das Fräulein bat, daß sie ihm bis zum Pont Saint-Amour entgegenkommen möchte, wo er sie nach seinem Essen, sie selber ließ sich von der Magd kochen und auf ihrem Zimmer servieren, zu einem Spaziergang in den Park erwarten wolle.

Als Alexander in den »drei schwarzen Mauleseln« das obere Zimmer betrat, fand er es nicht leer. An dem Tisch vor dem Balkon saßen zwei Damen.

Sie mußten aber wohl dem Neueintretenden ansehen, daß er gewöhnt war, an jenem Platz zu sitzen, denn sie machten sofort Anstalten, ihm den Tisch zu räumen. Der bescheidene Deutsche wollte dies nicht zulassen. Aber sie bestanden darauf. Und nach längerem Hinundherstreiten erklärte die eine: es hätten ja am Ende alle drei Platz an dem bevorzugten Tische, vorausgesetzt, daß der Herr ihre Gesellschaft nicht verschmähe.

Dazu hatte der Herr keinen Grund; er folgte gern dieser Einladung, ganz entzückt von der Liebenswürdigkeit der hübschen Französinnen. Der Aufwärterin erklärten die zungenfertigen Damen, daß sie mit Monsieur dinierten.

Die beiden hübschen Tischgenossinnen wurden bald über alle Maßen lustig; sie schwatzten und lachten in einem fort. Sie schenkten ihrem etwas linkischen Kavalier immer aufs neue das Glas voll und verschmähten selber den Wein nicht; es ging fast mutwillig zu. Der schüchterne deutsche Jüngling fühlte sich nicht gleich behaglich. Doch nach und nach elektrisierte auch ihn das ungewohnte Wesen, und er bedauerte nur, von dem übermütigen Durcheinander-Gezwitscher kaum die Hälfte zu verstehen.

Auf einmal sprach man von Herz und Liebe. Ob der junge Herr eine Geliebte in der Stadt besitze, oder ob er sein Herz, um es in der Fremde nicht zu verlieren, in Schwaben zurückgelassen habe, im Schwarzen Wald daheim, in der wilden Forêt-Noire.

Und dann schien den ausgelassenen Damen der Wein in den Kopf oder vielmehr in die zierlichen Füßchen gestiegen zu sein. Diese verloren immer mehr ihre Orientierungsfähigkeit und stellten sich, eins ums andere, statt auf den Boden, auf die Zehen des männlichen Tischmitglieds.

Als man endlich aufbrach, forderte die schönste der lustigen Schönen Alexander auf, ihr seinen Arm zu geben.

Die Damen mußten in den »drei schwarzen Mauleseln« bekannt sein; Alexander sah nicht, daß sie ihr Nachtessen bezahlten. Und so taumelten sie den Kai entlang, durch den Garten der »Heiligen Liebe« gegen die gleichnamige Brücke.

Ob er allein wohne, fragte ihn seine Nachbarin zur Linken. Das müsse langweilig und traurig sein, da bekäme er sicher Heimweh, der Herr solle doch mit ihnen kommen, sie wollten ihm den Abend angenehm machen.

Die plötzliche Einladung verblüffte den Sohn des Jakob Schmälzle aus Hinterwinkel ein wenig. Er fand nicht gleich etwas zu erwidern. Dann: Was denn ihre Eltern dazu sagen würden? Darüber lachten die hübschen Begleiterinnen.

Eltern hätten sie nicht, erklärte die eine, aber Brüder und Schwestern, er solle ihnen doch das Vergnügen machen, die Familie würde ihm sicher gefallen.

Leider sei es ihm unmöglich, er habe bereits eine Zusammenkunft mit jemand verabredet.

Das müsse eine Ausrede sein, denn vorhin habe er nichts davon gesagt.

Alexander hätte sich gern verabschiedet, aber er konnte seinen Arm nicht frei machen. Seine Begleiterin hielt ihn fest und drückte ihn gegen ihre Brust. Die andere flüsterte ihm lachend etwas ins Ohr, was er nicht verstand.

Doch durchzuckte ihn plötzlich ein garstiger Gedanke. Er hatte ja wohl von solchen Sachen einmal gehört. Wenn es möglich wäre?

In diesem Augenblick fühlte er seinen Arm losgelassen und sah sich allein. Ein uniformierter Mann der öffentlichen Ordnung, der über den Pont Saint-Amour kam, schien die beiden Lachtauben erschreckt und verscheucht zu haben.

Da begriff Alexander, daß die beiden lustigen Vögel in den »drei schwarzen Mauleseln« auf seine Kosten nicht nur gelacht, sondern auch gegessen und getrunken hatten. Und mit Schrecken fiel ihm ein, daß es sehr spät sei, weit über die Stunde seiner Verabredung mit dem Fräulein von Montmerle.

Und wie, wenn sie ihm entgegengekommen war! Er konnte daran kaum zweifeln. Dann mußte sie ihn mit den beiden Damen zusammen gesehen haben.

Ein unsagbarer Schrecken befiel ihn bei dem Gedanken. Und siehe, als er einmal zurückblickte, sah er die Freundin von den drei Mauleseln her auf sich zukommen. Zögernd ging er ihr entgegen und wollte sich ihr nähern. Sie aber vermied seinen Blick, und seines Grußes nicht achtend, schritt sie mit hochgerötetem Antlitz an ihm vorüber.

*

»Was haben Sie denn unserem schönen Fräulein zuleide getan?« fragte Tissot am andern Tage beim Essen in den »drei schwarzen Mauleseln«. Er war in der Nacht von Paris zurückgekehrt.

Der junge Deutsche erschrak nicht wenig bei dieser Frage; er vermochte nichts zu antworten.

»Ich meinte nur so,« versetzte der Franzose leichthin, indem er Alexander einen lauernden Blick zuwarf; »das Fräulein ist nämlich heute morgen abgereist ...«

Hier machte er einen Gedankenstrich in seiner Rede.

»Theodosie hat uns damit sehr überrascht,« fuhr er fort, »sie hatte bis jetzt nicht die Absicht geäußert, nach Le Renardière zu gehen. Sie schien heute früh sehr verstimmt.«

»Sie werden Fräulein von Montmerle wohl bald einen Besuch auf La Renardière abstatten«, wandte sich Herr Urban mit übertriebener Liebenswürdigkeit an Alexander. »Das Fräulein lebt auf dem Dorfe sehr einsam, da wird ihr der Besuch eines werten Freundes sehr angenehm sein.«

Alexander fühlte, daß man ihn ausforschen wollte. Er erklärte, da das Fräulein ohne ein Wort des Abschieds für ihn weggegangen sei, werde er sie nicht besuchen können.

Sein gestriges Abenteuer erwähnte er nicht.

Alexander eilte nach Hause, um unverzüglich an Theodosie zu schreiben; er zweifelte nicht, daß ihm auf diesem Wege seine Rechtfertigung gelingen werde.

Und dann wartete er von Tag zu Tag vergeblich auf eine Antwort.

In unerklärlicher Angst schrieb er einen zweiten Brief. Es erfolgte so wenig eine Antwort wie auf den ersten.

Zum Glück fand Alexander in seinem Verkehr mit den Söhnen des Marquis von Auberoche eine glücklich ablenkende Zerstreuung. Er wurde verschiedene Male zu größeren Ausflügen eingeladen, die seine Kenntnisse des Landes und seiner Bewohner in jeder Weise bereicherten.

*

Eine dieser Exkursionen, die Alexander mit seinen beiden Schülern und deren geistlichen Hofmeister unternahm, hatte zum Zweck und Ziel das Trappistenkloster Grâce-Dieu in einem verlorenen Felsental des Jura, da sollte Alexander, so sagte man ihm und so glaubte er es, das Mönchsleben in seiner idealsten Gestalt erblicken.

Zwei Stunden dauerte die Bahnfahrt, darauf waren zu Fuß drei Stunden zurückzulegen. Ehe sie noch das Kloster selber in Sicht bekamen, gewahrten sie bereits in den wohlgepflegten Feldern der Talsohle zahlreiche Mönche bei ihrer Arbeit, und die langbärtigen weißbekutteten Gestalten verliehen dem ganzen felsenumrahmten Tal in der Tat eine Stimmung, die man einzig nennen konnte. Wahrlich wie ein Friedhof war's mit unregelmäßig verteilten weißen Grabsteinen, die einen hoch und steil aufgerichtet, die andern wie von der Zeit niedergebeugt zur braunen Erde, und auch die Stille des Friedhofs lag über dem Bild, vor dem die Wanderer kaum laut zu sprechen wagten, wie in der Kirche.

Der Anblick des Klosters dann enttäuschte Alexander, es war ein moderner Bau, sah aus wie ein Fabrikgebäude.

Es war eine Fabrik, man kann es nicht anders sagen. Sie besichtigten zunächst eine gewaltige Kunstmühle mit allen Fortschritten und Verbesserungen der Neuzeit in ihrer Einrichtung. Da herrschte nichts weniger als Stille. Ein Gerassel, ein Geschnatter, ein Gesurre, ein Gepoche und Gepolter war's.

Die Mönche freilich verrichteten wortlos die mannigfaltigsten Verrichtungen. Aber jedes Wort wäre ja hier ohnedies zwecklos und klanglos verhallt. Und stilvoll allerdings wirkten die weißen Kutten zwischen diesen mehlstaubigen Mahltrichtern.

Nach Besichtigung der Mühle zeigte man den Gästen auch das Laboratorium – das Heiligtum, wo der berühmte Likör des Klosters seine geheimnisvolle geweihte Geburtsstätte hatte, und man sparte nicht an Proben der kostbaren Nektartropfen.

Im anstoßenden Gasthaus für die Pilger wartete ihrer dann ein einfaches Mahl: selbstbereiteter Schinken, fetter Klosterkäse, selbstgezogener Wein. Der Pater Prior selber erwies ihnen dabei die Ehre; denn es waren vornehme Gäste.

Als er hörte, daß Alexander ein Deutscher sei, sagte er, auch auf ihrem Friedhofe lägen zwei Deutsche, und ein dritter, ein Württemberger, wandle noch unter ihnen im Fleisch; er winkte dem Bruder Aufwärter und befahl ihm, den Pater Cölestin hereinzuholen.

Der Pater Cölestin kam, der Prior stellte ihn dem Landsmann vor.

Aber kein Wort ging über des ergrauten Mönchs Lippen. Es war ihm jetzt für einen Augenblick erlaubt zu sprechen, aber er konnte keinen Gebrauch davon machen. Er hatte in seinem ewigen Schweigen seine Sprache verloren, wenigstens seine Muttersprache. Auf keinen einzigen Laut daraus konnte er sich besinnen.

Auf der ganzen Heimreise blieb Alexander schweigsam; seine Erfahrung mit religiösen, mit priesterlichen Menschen schienen ihn alle enttäuschen zu wollen.

Doch solche Erfahrungen, dachte er, sollten mich nicht einmal verwundern. Denn gewiß waren ja alle großen Ordensstifter (und Religionsstifter) heilige und außerordentliche Menschen, aber dies auch von ihren zahlreichen und immerfort sich mehrenden Anhängern zu erwarten, wäre nicht billig.

*

Drei bis vier Wochen gingen hin ohne eine Antwort des Fräulein von Montmerle.

Da wurde Alexander plötzlich vor eine höchst unerwartete Alternative gestellt. Der Marquis von Auberoche teilte ihm mit, daß seine Familie den Rest des Sommers in der Normandie auf Schloß Tasselot zubringen und für den Winter nach Paris gehen werde; ob Alexander sich vielleicht entschließen könne, mit dahin überzusiedeln.

Das war ein überraschendes Anerbieten. Alexander stand ganz verblüfft vor dem Marquis. Er stotterte eine durchaus unverständliche Antwort.

Er könne sich ja noch bedenken, meinte Herr von Auberoche lächelnd.

Alexander schrieb einen dritten Brief nach La Renardière. Er wartete drei Tage. Dann begab er sich zu dem Marquis von Auberoche; er hatte sich entschlossen, mit in die Normandie zu gehen.

Wenn das Fräulein von Montmerle ein Spiel mit ihm treiben wollte, wie es fast den Anschein gewann, hatte sie's für diesmal verloren.


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