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Der Kleine war erwacht aus seinem Mittagsschläfchen.
Er saß, ein possierliches Spielzeug handhabend, auf dem Schoß der Großmutter. Beide waren heiter. Der alte Ferdinand aber ging nur so im Hause umher; er hatte sonst stets Dringendes zu tun, heute aber wußte er nicht, was er zuerst anfassen sollte, daher tat er gar nichts. Er ging umher und guckte alle Wanduhren an, denn seiner »Taschnerin« mochte er es gar nicht glauben, daß die Stunde schon vorüber, zu welcher die Herrschaft nach Hause kommen wollte. – »Nanu,« brummte er bei sich, »wenn die zwei einmal in den Wald kommen! – Sechs schlägt's – 's ist ein guter Herr, ein gottsmöglich guter Herr, aber wenn er in die Wildnis gerät, Gott straf' mich hart! da steckt noch das wilde Tier in ihm. – Und sie ist nicht ein klein' Stückel besser. – Mein' sündige Seel' wett' ich, wenn sie zum Stern gegangen sind, heut' muß er sie nach Haus tragen wie ein klein Kind. – Sieben Minuten schon darüber. Ach, es ist ein lasterhaftes Volk!«
Er fragte bei Frau Mildau an, ob sie für ihn was zu schaffen habe. Auf ihre Verneinung rannte der Alte aus dem Hause und dem Walde zu. Er wußte nicht, was ihn peinigte. Ruhelos eilte er hin; mehrmals hätte er gern ausgehorcht, aber er geizte mit der Zeit. Beim Jägerhause fragte er an; da hatte man seit Vormittag die jungen Herrenleut nicht mehr gesehen; sie hätten die Richtung gegen den See genommen.
So lief der Alte – lief heute wie ein Knabe, daß er zu sich selbst sagte: »Suchen muß einer was Rechtes, dann wird man wieder jung!« – lief gegen den See hin.
Abenddämmerung, als er vor der dunklen Tafel stand, atemlos. Das Rauschen der Wasserfälle, das Plätschern der nach Mücken schnappenden Fische – sonst war nichts zu hören. – »Sind längst über die Berge, angenommen, daß sie dagewesen. – Das Weiße dort bei den Büschen? – Nein, welcher Christenmensch klettert da hinüber! – und doch – sie sind's! – Na, die muß ich mir heut' ausborgen! Das sind lose Kinder, die man heimholen muß, wenn's finster wird.« –
Er kletterte mühsam über das Steingeblöcke, schlich hinter den Büschen durch. – Das Brummen des Bären will er nachmachen, da werden sie auffahren. –
Seltsam das, am hohen kühlen Abend noch dasitzen auf dem feuchten Moos. – Sie schläft. – Er sitzt daneben wie eine steinerne Figur. – Das Brummen des Bären läßt der Alte bleiben. Mit seiner heiseren Menschenstimme ruft er sie bei ihren Namen. Sie regen sich nicht. Da faßt den alten Ferdinand plötzlich der Graus. Hastig tritt er vor sie hin. Gabriel wendet kaum das Haupt, blickt starren Auges auf den Greis. Sein Antlitz ist wie Marmor.
Ein Blick Ferdinands auf die Ruhende – jetzt weiß er alles. Weiß es und glaubt es nicht. Ihren Namen ruft er laut, daß die Felsen gellen. Sie ist kalt und erstarrt. – Des klagenden Jammers voll, eilt der alte Mann zurück in das Tal von Karnstein.
Stille Rast hält Gabriel, des Heidepeters Sohn, bei seinem Weibe. Des wachsenden Mondes Halbkreis zieht allmählich empor an dem nächtigen Himmelsdom. Leicht kräuseln die Wellen, und nimmer faßbar ist dir, o Ärmster am sandigen Ufer, was da geschah . . .
Die finsteren Felsen umragten die Annenruh, doch dort, wo sie ruhte und wo er in Seelenohnmacht Wache hielt bei ihr, dort dämmert der Mondentag mit seinen heiligen Schauern.
Als um Mitternacht die Leute mit der Tragbahre kamen und mit Fackeln, saß Gabriel immer noch unbeweglich auf dem Stein. Er blickte den Zug verwundert an. Und als sie ihn emporhoben, taumelte er wie ein Schlaftrunkener. –
Dann sind sie durch den Wald heimwärts gezogen. Voran die schwankende Bahre mit der leichten Bürde, bedeckt von weißen Linnen, begossen jetzt von Mondenschein und jetzt von den roten Strahlen der rauchenden Lunten. Und unter der Bahre die Männer, nie noch seufzend unter so seltsamer Last als heute. Und hinter der Bahre, zur Rechten den alten Ferdinand, zur Linken den alten Heidepeter, wankend und stumm vor sich hinstierend Gabriel – klagelos – seelenlahm.
Frau Mildau ist mit einem entsetzlichen Jammerschrei hingestürzt auf ihr stummes Kind, als man es an der Schwelle des Hauses zu Boden hob.
Der Knabe hat süß geschlafen zur selbigen Stunde.
Im Saale des Landhauses, mitten in einem Walde ewig grünender und üppig blühender Gewächse, zwischen denen die Lichter flammten wie glühende Knospen und goldene Schmetterlinge, ist das irdische Gebilde aufgebahrt worden. – Wer sie liegen sah auf hohem Ruhebette, in jenem weißen Kleide, das sie am glückseligen Tage der Trauung getragen, in einem Kranze von blassen Rosen, die Hände über der Brust gefaltet, mit leicht geschlossenen schattigen Augenlidern, leise lächelnd noch im ewigen Schlummer, auf den Wangen den zarten Rosenhauch – ein Widerspiel der Lichter und Blumen – eines reinen Wesens Gestalt – einer siebzehnjährigen Jungfrau gleich . . .!
Zur linken Seite der Bahre stand, einer Bildsäule ähnlich, Gabriel, und unverwandt ruhte sein starres Auge auf dem Antlitz der Schlummernden. Kein einziges Wort hatten sie ihn noch sprechen gehört seit der Stunde, da er mit Annen hinausging gegen die Wälder. Daher wußten sie nicht, wie sich das Schreckliche begeben. Die Bewohner der Gegend waren herbeigekommen; völlig zu klein wurde das Haus. Viele waren der Ansicht, die Frau sei vom Blitze getötet und der Mann durch denselben gelähmt worden.
Die Untersuchungen der Ärzte ergaben nichts Bestimmtes; aber der Tod muß einen Namen haben, so gut wie das Leben.
Das Wort »Herzlähmung« schrieben sie in seinen Passierschein.
Bald war Herr Mildau aus der Stadt gekommen. Wohl brach auch er zusammen vor der Bahre seines über alles geliebten Kindes; doch mit des Mannes Willenskraft raffte er sich wieder auf, um die Bestattung anzuordnen mit derselben Umsicht, mit welcher er einst das Hochzeitsfest geleitet hatte. – Das erste war, daß er mit rücksichtsvoller Gewalt den Gatten von der Bahre hinwegführte. Er geleitete ihn in das Gemach und legte ihm das Kind in den Arm.
Der Knabe schmiegte das Händchen um des Vaters Nacken, lachte mit den großen Augen und streichelte seine Wange – geradeso, wie es die Gattin getan, wenn sie ihn in kleinen Dingen zu trösten hatte und beruhigen wollte. – Und jetzt – jetzt brach er aus, der wilde, unbändige Schmerz in einen Tränenstrom. Im ganzen Hause hörte man sein Weinen, und da sagten die Leute: »Er ist gerettet.«
In den großen Saal ließ man ihn nicht mehr treten. Auf dem mit wildem Weinlaub umrankten Söller saß er und blickte in die Wälder hinaus.
Wollt ihr mein Bräutchen sehn?
Trägt ein weiß Kleidchen schön,
Hochzeitsleut' tanzen
Ums festliche Haus . . .
Die Gattin des Waldsing wurde im schönen Tal von Karnstein bestattet. – Der Trauerzug war groß und echt bis ins Herz eines jeden, der daran teilnahm. Der Sarg, hinschwebend durch den sonnenfunkelnden, lebensfreudigen Morgen, war ganz bedeckt mit Kränzen aus Wäldern und Bergen, welche die Bewohner der Umgebung herbeigebracht hatten. Die Liebe, die Dankbarkeit will zu solchen Stunden sichtbar werden.
Das Grab auf dem Kirchhof, nicht weit von jenem der Mutter Gabriels, war holdsam ausgerankt mit grünendem, blühendem Gezweige – ein Rosenbettlein war's, auf das sie den Schrein hinabsenkten.
Seit einem Tage war der alte Ferdinand vermißt. Nun, als sie darangingen, das Grab zu decken, kam das Männlein atemlos herbeigehastet, einen Kranz tragend, geflochten aus edlem Weiß, das auf hohen Bergen wächst. »Mein Annchen! das Hochgebirge ist deine Freud' gewesen. Der höchste Berg im Land schickt dir den Gruß!«
Das Edelweiß war das letzte, was diese Welt ihr gab. Und nicht anders zu bezeigen wußte Ferdinand seine Lieb', als daß er ihr zum letzten Gruß sein Leben ausspielte auf hohem Firn.
In wenigen Tagen nachher ruhte auch der Alte. Er hatte sich die Seele aus dem Leib gelaufen bei diesen Begebenheiten.
Gabriel war von Freunden bewacht; er hatte der Bestattung nicht beiwohnen können. In den großen Saal wollte er treten, wo rings um die leere Bahre noch die Lichter brannten zwischen den Gewächsen. Der Eingang war ihm verwehrt. Auf dem Söller kauerte er und hörte die Glocken läuten in Karnstein und im Walde, wo das Kirchlein stand. Und als die Glocken schwiegen, murmelte er:
Jetzt bin ich ganz allein
In diesem Totenhain;
Sang und Klang, Sonnenschein
Ist mir zur Pein.
Stammer hatte oft in heiterer Laune den Wunsch ausgesprochen: »Etliche Tage möchte ich mich überleben, um mein Leichenbegängnis mit anzusehen und zu hören, wie die Leute den Toten loben.«
Wie alle seine Wünsche bisher, so wurde ihm auch dieser erfüllt. In seinem Weibe sah er sich begraben. Er fühlte, das Beste seines Wesens ging mit ihrem Sarge zur Erde. Die Seele dahin. Das Ideal gestorben. – Einen wandelnden Leichnam sah man schwanken über die Auen zwischen dem Hause und dem Gottesacker. – Gestorben! – Des Tages unzähligemal sah er sein Weib sterben und starb mit ihr. Der alte Heidepeter sagte zu ihm: »Gabriel, da kannst du nichts machen. Denke an den Stärkeren. Ergib dich in seinen Willen.«
»O mein Lebenslauf!« rief Gabriel, »o mein Lebenslauf! Wieder Gabriel in der Einöde!«