Peter Rosegger
Heidepeters Gabriel
Peter Rosegger

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Ich fürchte mich vor diesem Licht!

Wieder im Dorfwirtshause zu Karnstein.

Der gute Ferdinand Küßdenker lag zusammengekauert unter seiner kühlen Decke und schnarchte. Er empfand es zur Stunde nicht, wie der Bergmarsch noch in den Beinen gellte.

Anna, vom Stundenrufe des Nachtwächters geweckt, stand am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. In ihrem Haupte, an dessen Lockenhaar die Nachtluft hinstrich, waren allerlei ruhelose Gedanken und Träume.

Unten vor dem Hause rieselte der Dorfbrunnen; sein Rauschen war jetzt viel lauter als am hellen Tag. Sonst war alles so geruhsam. – Die Leute schlafen; die Tage sind lang, heiß, die Arbeit ist mühevoll. Manche Dienstmagd ist eingenickt, ehe das dritte Vaterunser ihres Abendsegens zu Ende, manchem Knecht in der Scheune sind die Augen gesunken, die Lippen erlahmt, bevor seine Tabakspfeife zur Neige gekohlt hatte . . .

Über den finsteren Brettergiebeln der Häuser und über den dunkeln Waldbergrücken glimmen, funkeln hell und matt, groß und klein die Sterne des Himmels.

Wie sie schön sind, wie sie lächeln! An ihnen ist alles Licht und Freude und Liebe. Bei ihnen ist Frieden in Ewigkeit.

Anna MiIdau schaute in jener schwermutsvollen Nacht zu den Gestirnen. Es war ihr ganz anders als sonst.

In einem der Giebeldächer des Dorfes glüht ebenfalls ein Sternlein. Es ist – das Mädchen wendet sinnend seinen Blick dahin – wie ein Johanniswürmchen, so klein, so zart, und jetzt hebt es an zu flattern. Sie schaut scharf hin, sie kann ihr Auge nicht wenden von diesem Sterne. Jetzt legt sie die Hand über ihr Gesicht, und mit zagender Stimme ruft sie aus: »Ferdinand! Schau! Ich fürchte mich vor diesem Licht!«

An dem glühenden Würmchen beginnt, in der Richtung wie die Dachfuge geht, ein roter Faden zu wachsen. An dem gegenüberliegenden Dache zuckt ein Schein; rasch mehren sich die glühenden Linien, rasch dehnen sich die hellroten Täfelchen. Ein gebrochener, gedämpfter Schrei wird gehört im Orte, da bricht an jenem Giebel plötzlich die blendende Lohe hervor.

»Feuer!« schreit in der Ferne eine heisere Stimme.

»Feuer!« ruft mit aller Kraft ein Mann und rennt die Gasse herauf und dem Glockenturm zu. An einigen Häusern fliegen die Fenster auf, in anderen knarren die Türen. Oben leuchtet es hin über den Dächern wie Alpenglut; die geröteten Wirbel des Rauches fliegen über das Dorf und verdecken die Sterne.

»Feuer!« schreit es in allen Winkeln.

»Wasser!« lärmt es an allen Enden.

Nach Hilfe rufen halbnackte Menschen, die auf den Gassen planlos hin und her hasten. Da schallt die Glocke.

Anna hat den Alten gerufen: »Eilends steh' auf! Da ist dein Rock.«

Hastig wollte sie die Treppe hinabeilen, aber diese war verrammelt, zwei heulende Mägde waren mit einem Kleiderkasten darin steckengeblieben.

Ferdinand stürzte zum Fenster, rüttelte am Gitter, da kam der Kirchenschneider mit einer Holzaxt aus der Oberstube und zertrümmerte den Kasten auf der Treppe.

Mitten durch die Trümmer des Schrankes, durch der Mägde Flachsvorrat und Sonntagsröcke kollerte Ferdinand, seinen Schützling im Arme, die Stiege herab, zur Tür hinaus, da flogen ihm schon die Funken entgegen.

Man meint, es wäre eine windstille Nacht gewesen, aber nun brüllt und dröhnt im Feuer ein Sturm; hoch über die Gipfel peitschen die Flammengarben, und hin über die Dachungen sinken sie mit Knattern und Prasseln.

Leute eilen mit rostigen Wassereimern; eine einzige Feuerspritze gießt ihren Strahl auf die dröhnenden Bretter, das wilde Element eher noch reizend als dämpfend. Der Brunnen ist bald ausgeschöpft. Oben in der Wiesenmulde ist der Teich abgelassen worden; ein trüber Bach gießt heran durch das Dorf, die Gassen, die Keller überschwemmend. Darüber doch qualmen die Rauchmassen hin, und der Glutstrom rast über die ächzenden Häuser zu den Fenstern hinein, zu den Fenstern heraus; bald bricht er durch die Giebel ein, bald brandet er an den Wänden, und wie eitel Stroh vergehen die hölzernen Gebäude.

Ferdinand war bestrebt, Ketten zu bilden, um rasch die Eimer zu fördern, er bat, daß man ihm folge, man hörte ihn nicht; er kommandierte, er vernahm eine Stimme: Haben hergelaufene Leute hier zu befehlen? – Da hub der Alte entsetzlich an zu fluchen.

Anna hatte einen Melkzuber erwischt und schöpfte damit Wasser und schleppte es zur Spritze hin, aber sie wurde niedergerannt, und das Wasser ergoß sich über ihr Antlitz. Jetzt ließ sie das Geschirr fallen und suchte die Kinder zu sammeln, die teils in bloßen Hemdchen zwischen den Rädern der Wasserwagen und Möbelfuhren umhertaumelten, und führte und trug sie hinaus in einen Baumgarten, über dessen Kronen und Lauben selbst noch die Funken hinflogen.

Die Leute warfen ihre Habe zu den Fenstern hinaus und ließen sie im Hofe verbrennen. Die Haustiere wurden aus den Ställen gejagt und liefen mitten ins Feuer hinein. Endlich war es des erstickenden Qualmes wegen nicht mehr möglich, die Löscharbeiten fortzusetzen: und nur die noch gänzlich verschont stehenden Dächer begoß man mit Wasser. Die Turmglocken hatten aufgehört zu klagen, denn der Mesner suchte seine kleine Habe zu retten.

Der Himmel war rein, so verkündeten es der Gegend keine glühenden Wolken, was vorging zu Karnstein. Nur die Röte des aufsteigenden Rauches schreckte die Nachbarsorte auf. Bis jedoch die Leute herbeizueilen vermochten, war's zu spät, da leckten aus Mangel an Nahrung die Flammen zumeist nur mehr auf den Aschenstätten, zwischen Ofenmauern und Herdstellen der niedergebrannten Gebäude. Ein Wald von rostbraunen Schornsteinen ragte noch auf über den träge rauchenden Schutt. Von der Kirche war ein Teil des Daches herabgebrannt. Der gemauerte Pfarrhof hatte nur etliche Fensterscheiben eingebüßt; er und noch wenige abseits stehende Häuschen waren verschont geblieben – als Rest von Karnstein.

Schier größer noch als der Schreck und Schmerz der Verunglückten, war Ferdinands Angst um sein Mädchen. Es war ihm abhanden gekommen; ein stürzender Balken konnte es begraben, ein scheues Rind niedergestoßen, das Gewässer konnte es mit fortgerissen haben in den Fluß. Weinend lief er durch Rauch und Wirrnis, laut verwünschte er diese Fahrt in die Einödwälder; schon hastete er dem Bahnhofe zu, um an das Haus Mildau zu telegraphieren: Unglück über Unglück! Kommet doch alle, unser Annchen zu suchen! – da wiesen ihm Kinder ihre Spur.

Anna hatte während der Schrecknis die Kinder im Baumgarten bewacht. Mit ihrer eigenen Joppe hatte sie eines der halbnackten Würmer bedeckt, andere auf ihren Schoß gehoben. Mit freundlichen Worten und lächelnd und kosend und Märchen erzählend und Lieder trillernd, suchte sie die Kleinen zu beruhigen. Bei dem Schein des durch das Gestämme herstrahlenden Brandes leerte sie die Taschen ihrer Kleider vor den Kindern aus, um sie zu zerstreuen, bot ihre Sackuhr, nahm ihr goldenes Kreuz vom Halse ihnen zum Spielzeug. Dabei zitterte sie selbst vor Frost und Angst, und still betend hielt sie die Hände zusammen.

Die Menschen hasteten irr und dumpf klagend umher, und jeder dachte sich, der Unglücklichste zu sein von allen.

Da war plötzlich neue Aufregung. »Verunglückt ist einer!« hieß es. »Heidepeters Gabriel ist verunglückt!« flog's von Mund zu Mund. – Gabriel, der Waldsing! – Auch Anna vernahm bald die Kunde, da verging ihr schier Hören und Sehen. Seit Stunden hatte sie kaum mehr an den Waldsänger gedacht; der Förster, die wüste Nacht hatten sie seltsam genug zerstreut. Um so greller schlug die Nachricht an ihr Herz. Der Mann, dessen Namen sie so verehrte, dessen Heimat sie mit der Stimmung und Andacht einer Wallfahrerin besucht hatte – er in der Nähe? Und verunglückt?! –

»Bei der Rettung eines Kindes hat ihn ein stürzender Dachdrämling getroffen!«

Anna hatte keine Gedanken mehr, sie eilte fort, um etwa helfen zu können. Weinend und schreiend zappelten ihr die Kleinen nach, hingen sich an ihr Kleid; so konnte sie die Kinder nicht verlassen. Jedem Vorüberstürzenden rief sie die Frage zu: »Ist's denn wahr? Ist's gefährlich?« Aber ihre Stimme war allzu verzagt, sie erhielt keine Antwort. Erst als einige Weiber kamen und mit Freudentränen ihre Kinder unter der Hut der fremden Jungfrau fanden, da ging Anna und suchte den Verunglückten.

Über den Wäldern her schimmerte schon das Morgenrot. Über den Kornfeldern wirbelten die Lerchen.

Abseits von den rauchenden Stätten, unter einem Apfelbaum, standen Leute in einer Gruppe. Auf dem taunassen Rasen lag er.

Die Stirnwunde war mit einem weißen Tuch verbunden, an den braunen versengten Locken zitterten etliche Blutstropfen. Die Augen hatte der Verwundete halb geschlossen, in seinem Antlitz spielte es nicht wie Schmerz, eher wie Behagen. – Es werde bald gut sein, meinte er, man möge ihn nur ein wenig ruhen lassen auf dem Rasen.

Als Anna diesen jungen Mann – Gabriel Stammer genannt von allen Seiten – hier liegen sah, sprang über ihre Lippen ein kurzer Laut – ein einziger nur, dann verdeckte sie ihr Angesicht mit den Händen.

Der Verwundete war – der Förster, an dessen Arm sie gestern durch die Wälder gegangen. Und dieser Förster war Gabriel.

Als der im Grase Ruhende das Mädchen sah, streckte er nach ihm die Hand aus: »Nicht wahr, Anna Mildau, Sie haben es bös' getroffen in Karnstein!«

Sie stand ganz unbeweglich und sprachlos da. Eine große Träne im Auge. Sie reichte ihm nicht die Hand.

»Sie müssen mir«, fuhr der Verwundete fort, »die Unaufrichtigkeit von gestern nicht übel deuten.«

Anna schwieg.

»Wenn Sie böse wären, das täte mir weh . . .«

Er brach ab und schlug sein Auge bittend zu dem Mädchen auf.

Anna schluchzte nicht und zitterte nicht mehr. Mit einem wunderbar seltsamen Blick – mit einem Blick voll unbeschreiblicher Milde und Reinheit – beugte sie sich über den Mann mit der Stirnwunde.

In diesem Augenblick kam laut weinend ein Weib herbeigestürzt – die Mutter des von Gabriel geretteten Kindes.

»Maria und Joseph!« rief sie, die Hände faltend, »da liegt er. O du mein Herrgott im Himmel, lass' ihn nicht versterben, lass' ihn leben, gib ihm deinen Segen! Er hat mir mein Kind aus dem Feuer getragen.«

»Wie hat sich's begeben?« fragten mehrere Stimmen.

»Das weiß der Herr Christus, ich nicht!« rief das Weib. »Mit dem Nachtwächter hab' ich zu reden; wo ist er denn? Das zerspringende Fenster hat mich erst aus dem Schlaf wecken müssen. Auf die Gasse gesprungen bin ich im ersten Schreck; und wie ich wieder zurück will in die Dachkammer, da brennt das Haus, und was ich um und um lauf' in der Angst, und was ich mir die Knochen an die Wand renn', ich hab' euch im Rauch die Stiege nicht mehr gefunden. Herr und mein Heiland, das Kind höre ich schreien oben bei den prasselnden Flammen – – weiter hab' ich nichts mehr gehört und gesehen!«

»Das glaub' ich wohl,« sagte einer der Umstehenden, »weil du auf den Erdboden gefallen und liegengeblieben bist wie ein Block. 's ist viel Geschrei gewesen ums Haus herum, wer kann in die Dachkammer, wenn die Stiege brennt? Im Fenster steht ein eisern' Gatter, es winseln schon die Flammen hinein. – Wer kann dafür! schreit noch der Kirchenschneider, lange wird's nicht leiden, das arme Geschöpf, 's ist bald vorbei.«

»Ein sauberer Trost!« riefen mehrere.

»Heiliges Kreuz, wie haben die Leute geschrien, da jetzt auf einmal der Heidepetersohn auf dem Dach steht und die Bretter aufreißt, daß es kracht und im Rauch die Splitter fliegen. Ich hab's gesehen, er steigt hinein in die wilde Höllen. Und nachher – wir sehen nichts – hören auch das Kind nicht mehr. Das Dach lodert in Glut über und über. – Hin ist er! Hin ist er! hat alles geschrien, da taumelt er unten zur Tür heraus – mit dem Kinde – mit dem lebendigen Kinde. – 's wär' alles glückselig gewesen – da stürzt euch der Dachstuhl ein, und ein sprühender Balken saust dem Gabriel an das Haupt.«

»Du lieber, du goldener Herr!« rief das Weib wieder und kniete vor dem Verunglückten auf die Erde und wollte nicht aufhören, seine Hände und die blutige Binde seiner Stirn zu küssen.

Gabriel richtete sich mit Hilfe des Mädchens ein wenig empor und sagte: »Da geht's ja gerade zu wie in einer Komödie! – Ein wenig schlafen möcht' ich jetzt.«


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