Peter Rosegger
Heidepeters Gabriel
Peter Rosegger

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II. Buch
Das Daheim

Sie gehen ins stille Dorf hinein

Auf dem Dorfbahnhof zu Karnstein verkündete die Glocke den nahenden Zug. Ein Bahnwart stellte sich mit dem roten Fähnchen an das Geleise, ein alter Postbeutelträger stand in Bereitschaft zum Geben und Empfangen, was das Dorf bot und die Welt sandte. Sonst war niemand hier, auf der eisernen Straße ins Weite zu gleiten; das Dorf barg abgeschlossen eine Welt in sich.

Der kurze Zug – hastig und herrisch wie die Zeit, der er diente – rollte rasch in den Bahnhof, stand daselbst ein paar Augenblicke still, schnaubte ungeduldig auf und dampfte sofort wieder davon.

Auf dem Bahnhofplatz standen zwei fremde Menschen hingeschneit; sie hielten ihr kleines Reisegepäck in den Händen und blickten umher. Ein ältliches Männchen in lichtgrauen Kleidern und mit einem allebendigen Angesicht, in welchem die zwei grauen Augensterne hin und her flogen wie ein paar Weberschiffchen im Garn. Es zitterten die weißen Büsche der Brauen, es wogten die Runzeln der Stirn, die Falten der lederbraunen Wangen; es waren die Lippen in Erregung, es wollte die scharfe Nase aus ihren Grundfesten brechen, um zu ermitteln, wo denn der Tausend in diesem Neste das faule Volk der Packträger stecke.

Neben dieser schier possierlichen Gestalt stand ein Mädchen. Ein Mädchen in jungen, schönen Jahren. Es trug ein einfaches Kleid in der Farbe des Veilchens, besät mit weißen Sternlein. Das Kleid verdeckte schlicht auch den Busen und die Arme und ließ an den zarten Händen nur ein Paar blütenweiße Ärmelchen hervorschimmern; es ging bis hoch an den schlanken Hals empor, wo ein weißes, umgeschlagenes Krägelchen den Rand deckte, und wo an einem schwarzen Samtbande ein goldenes Kreuzel hing. Das Antlitz, ein wenig länglich und gar fein geschnitten, war zart und weiß, die Augen waren dunkelblau und groß und hell und blickten ruhig und munter. Lange Wimpern legten schützend einen Schatten über die Schönheit dieses Auges. Die Brauen waren dunkel wie Ebenholz und fein wie Seide. Das Näschen hatte eine ganz leichte Ausbiegung, und in den Hügelchen der Wurzel desselben zuckte es manchmal ein klein wenig; leises Zucken an den Nasenflügeln bedeutet nicht selten ein bißchen Schalkhaftigkeit. Die Lippen des kleinen Mundes waren voll und frischrot erblüht; zwischen denselben blinkten bisweilen drei Oberzähnchen. Das Kinn mit seinem Grübchen drängte sich nicht hervor und war mitsamt den Backen und dem Halse von mildester Rundung und zartestem Farbenhauch. Die Locken des lieblichen Wesens waren etwas dunkler als Kastanien und hatten einen weichen Glanz; sie waren nach rückwärts gekämmt und durch das elfenbeinerne Diadem des Kammes so gehalten, daß sie in einer reichen Welle über den Nacken flossen. Die Gestalt des Mädchens war schlank und vornehm gebaut, und jede ihrer Bewegungen war natürlich und anmutsvoll.

Am Arm trug es durch ein blaues Bändchen einen breiten Florentiner Strohhut, und in einer der handschuhlosen Hände hielt es – was der kleine Mann daneben baß nicht leiden wollte – einen tüchtigen Regenschirm.

Die Gegend ist seltsam schön. Ein breites, grünes Tal mit sanften Höhungen, auf welchen stattliche Gehöfte stehen, mit wiesenreichen Niederungen, in welchen zahlreiche Quellen sprudeln, Bächlein rieseln, Mühlen und Holzsägen klappern, und mit dem Alpenflusse, der, unter Gischten und Brausen vom Hochgebirge der Wildschroffen niedergesprungen, hier sachte und blaugrün durch die Gegend zieht. Dann sind Dörfer mit weißen oder grauen Kirchtürmen, Gärten, Schachen und schimmernde Landhäuser. Auf Hügeln und felsigen Bergvorsprüngen ragen Ruinen. Der schöne längliche Kessel des Tales ist besäumt und umfriedet von den waldigen Bergen, die sich, je weiter zurück, je höher heben. Gegen Sonnenaufgang zu, über Berg und Tal, breiten sich die ewigen Schatten der Einödwälder.

Es war zur Hochsommerszeit, aber eine kühle Luft wehte von den Wäldern her und rieselte sanft in den losen Locken des Mädchens, das völlig versunken war im Sehen dessen, was es in seinem Leben vielleicht noch niemals geschaut und gefühlt: den Zauber der Berge und des Waldlandes.

Über den Holzdächern des Dorfes ragte als ungefüge, düstere Masse der alte Kirchturm, in welchen manches Jahrhundert sein Denkmal gegraben hatte. Um den grauen Turm kreisten Schwalben, deren Gefieder in der Abendsonne schimmerte. Große Stille war. Das Mädchen tat einen tiefen Atemzug, worüber es von dem Begleiter besorgt angeblickt wurde.

Als dann von dem »Pack der Packträger« niemand kam, faßte das behende Alterchen Gepäck und Geschirme fest in und unter die Arme, dann gingen sie die weiche, grüne Gasse entlang den Häusern zu.

Anfangs getraute sich das Mädchen kaum, auf den grünen Rasen zu treten, der vom Bahnhof ab auf dem Dorfsteig wucherte, es tat ihm leid um den »Garten«, und es ergötzten sie wohl auch ein wenig die übermütigen Heupferdchen, die auf dem Rasen herumhüpften und zuweilen gar gegen die Spitzchen ihres Fußes trachteten.

»Wie schön,« sagte das Mädchen, »da ist die Welt ja auf einer Sänfte!«

»Gewiß, gewiß,« entgegnete der Alte, »das Fräulein hat durchaus recht, und die Sänfte hängt mit vier Stricken an dem Himmelsgewölbe, und – da fällt mir gescheitem Manne noch was ein – die Stricke, das sind die vier Jahreszeiten, da schaukelt's hin und schaukelt's her – hopp auf und hopp nieder.«

Jetzt blieb das Mädchen stehen, langte nach dem Arm des Alten und sagte: »Ferdinand, philosophieren und närrisch sein magst auf unserer Landpartie, was das Zeug hält, aber wenn du mich noch einmal Fräulein heißest, so laufe ich von dir hinweg und laufe in den Wald hinaus, daß du mich nimmermehr findest.«

Das Männlein antwortete nichts, sondern zog sein Sacktuch heraus und drehte in dasselbe einen doppelten Knopf; den hielt es dem Mädchen vor die Augen: »Ist er groß genug?«

»Wir sind ja ausgeflogen wie zwei Vöglein in die Lüfte, und ich mag von unserem Käfig und vom Weltbrauch einmal gar nichts hören. Ferdinand, nenne mich wieder Anna, so wie du es sonst getan hast.«

»Wohl, wohl, Anna,« sagte der Alte rasch, »aber besinn' dich, bist ja schon so schauderlich erwachsen. – Ich wollt' gern, du wärst es nicht. Kehr' die Hand um, wird dich einer wegfischen. Je nun – mag dich das gnädige Fräulein heißen oder mein Herz-Annchen – 's wird mir nichts nutzen, dastehen wird der Ferdinand Küßdenker wie ein einschichtiger Spatz auf dem Zaun. Mädl, ich errat' dir's sicher!«

Hastig schritt er nach diesen Worten die Gasse entlang, das Mädchen vermochte kaum ihm zu folgen.

Er blieb bald wieder stehen: »Komm', Anna; will recht bei dir sein, solang's noch geht. Und das werde ich deinem Herrn Papa auf dem Todbett nicht vergessen.«

»Ferdinand!« unterbrach ihn Anna, launig mit dem Finger drohend: »Bist schon wieder der Papagei? – Einen Vater habe ich.«

»Na!« rief der Alte, »heut' bist aber schon gar –!«

»Freilich«, lachte das Mädchen, und dann ernsthaft: »Will einmal eine Tyrannin sein und will geradeso und gerade das tun, was mich freut. Dazu hat mein Vater mir die drei Tage ja geschenkt. Ich frage nichts nach der Stadt; ich bin jetzt eine dreitägige Märchenprinzessin, und du bist mein Berggeist – magst du?«

»Dein Wille geschehe, Trotzköpfel, du!« rief Ferdinand in einer Art von Begeisterung, »und ich werde es deinem Herrn Vater noch auf dem Todbett gedenken, daß er mich dieser kleinen Prinzessin mit auf den Weg gegeben hat; daß er sein Kind mir und keinem anderen vertraut hat, um es zu begleiten auf einer Vagabundenfahrt, von der ich zur Stunde noch Zweck und Ziel nicht weiß –«

»Ich auch nicht,« unterbrach ihn Anna, »aber ohne meinen Ferdinand wäre ich mutterseelenallein davongegangen.« Man merkte ihr aber leicht an, daß der Trotz nicht Ernst war.

Jetzt standen die zwei Fremden mitten unter den Bauernhäusern und Scheunen des Dorfes. Auf dem Platz vor der Kirche ragte ein hohes Kreuz in die abendliche Stille auf; nebenhin im Bächlein plätscherten Enten, auf den Dächern girrten Tauben, etliche Kinder sprangen um. Das war das ganze Leben des Ortes.

Der kleine alte Mann drehte sich auf den Fersen und suchte an den Wänden der hölzernen Häuser nach dem Schilde eines Gasthofes. Da er nichts entdeckte, zog er einen barfüßigen Knaben zu Rat. – »Beim Kirchenschneider, da werden Sie zu essen und zu schlafen kriegen.«

Bald darauf saßen sie – der alte Mann und das junge Mädchen – in der dunkeln Wirtsstube des »Kirchenschneiders«. Es war ein großer Kachelofen, und es waren einige Tische da, auf die durch die nebeligen Scheiben der kleinen Fenster ein bißchen Abendschein hereinfiel. Im Winkel tickte, vielleicht seit Urzeiten her, eine Pendeluhr. Ein paar Stübchen waren den Fremden für die Nacht gesichert worden, und es war zu hören, wie man aus denselben alte Kisten und Wirtschaftsgeräte entfernte, denn seit zwei Jahren war kein Gast mehr beim Kirchenschneider über Nacht geblieben. So saßen die beiden einstweilen still und vergessen da, und zweier unbekannter Gäste wegen zündet die Kirchenschneiderwirtin in der Dämmerung noch keine Kerzen an.

»Die Prinzessin hat sich ein feines Königreich gesucht«, flüsterte Ferdinand spöttisch.

Das Mädchen erhob sich und ging in das Freie. Sie ging langsam die Gasse hinan, betrachtete die Gegenstände des Dorflebens und plauderte mit den Kindern. Bald war sie aus der Gemarkung der Häuser hinausgeraten, und ein Fußsteig führte sie über Felder, auf welchen das Korn wogte. Die meisten der Blumen hatten sich in ihre Hüllen vermummt, es war ein kühler Abend, es kam der Tau.

Das Mädchen, dem ewigen Lärm der Großstadt entflohen, wandelte wie träumend dahin und stand plötzlich vor einem Garten, der durch eine Bretterplanke, Hecken und Bäume umfriedet war. Da drinnen standen ein paar weiße Steine und viele hölzerne Kreuze.

Anna brach von einem Lärchenbaum buschige Zweige, flocht sie aneinander zu einem Kranz, flocht Rosenknospen eines Dornenstrauches hinein; fast gedankenlos tat sie das – und hatte doch ein Empfinden, als müsse sie in diesem Garten wen grüßen. Mit dem Kranz am Arm schritt sie in den Gottesacker. Sie las bei dem Scheine des Abendrotes die Inschriften der Kreuze. Inmitten des Friedhofes hing auf hohem Pfahl der Heiland, spannte seine Arme aus, wendete sein Haupt dem Himmel zu. Der leidende Heiland, den armen Menschen dieser Gegend ein trostreiches Vorbild; der sterbende Erlöser, die stille Gräbergemeinde noch segnend; der allmächtige Gott, der einst wird kommen, um die Toten zu wecken. –

Das Mädchen aus der großen Stadt stand lange vor dem Bildnisse. Seltsam war ihm zumute.

Weltfremd in dieser verlorenen Gegend stand es da, war geradeswegs hierhergekommen und wußte nicht recht warum.

Als Anna einige Schritte weiterging, ragte vor ihr auf dem Hügelchen ein Marmorstein.

»Hier ruht Klara Stammer, geboren in der Einöde den 30.  Oktober 1802; gestorben in der Einöde den 16.  Juli 1856.« – Diese Worte standen auf dem Stein.

Das fremde Mädchen hatte gelesen und war in andächtiger Stimmung. Dann hatte es sich den Lärchenkranz vom Arm gestreift und hatte ihn sanft – sehr sanft auf den Grabhügel hingelegt. –


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