Peter Rosegger
Heidepeters Gabriel
Peter Rosegger

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Bei Mildau an der Tafel

Das war der erste Besuch gewesen im Hause des Kaufmanns Mildau.

Nicht lange, so folgte ihm ein zweiter, und zwar im schwarzen Rock und zur üblichen Empfangsstunde. Anna war wie das erstemal, ruhig und schlicht – und fast schwesterlich traut.

Mildau lud den Studenten – als solcher wollte Gabriel angesehen sein – zu einer bevorstehenden Festlichkeit ein. Mildau verstand zu leben; gern gesellte er die Pracht und die Schönheit, das Bequeme und das Heitere, ohne der Üppigkeit zu huldigen.

Diesmal wurde ein häusliches Fest vorbereitet, ein Fest jedoch mit besonderem Glanz, denn es war die Feier des dreißigjährigen Bestehens der Firma.

Der Tag war da. Die Herren erschienen im Frack, die Damen mit Schleppen und in strahlendem Schmucke. Anna hatte ein lichtblaues Kleid an und trug keine andere Zier als ein blaßrotes Röslein im Haar und am Halse das goldene Kreuz von der Großmutter. – Die Mutter ihres Vaters war eine einfache Frau gewesen, die sich durch Handarbeiten ernährt hatte. In den Jahren, da ihr Sohn in der Fremde war, darbte sie, denn ihre größte Freude bestand darin, alljährlich zum Weihnachtsfeste die zwölf ärmsten Kinder ihres Ortes mit Leinwand zu beschenken. Sie war deshalb von der dankbaren Mitwelt die »leinerne Plona« genannt. Eines Tages aber wurde die mildtätige Frau durch einen Abgesandten des Statthalters mit einem goldenen Kreuz geschmückt. Und dieses Andenken war auf die Enkelin überkommen, die es hoch in Ehren hielt und – sonst allen goldenen Schmucksachen feind – sich von dem Kleinod nicht trennen konnte.

Eine der Ehrenstellen bei dem Feste nahm – wenn auch scharf dazu genötigt – der alte Ferdinand ein. Man sah es dem guten Alten wohl an, wie unbehaglich schwül ihm in der Festkrawatte war. Auch hatte man ihn bei dem Mahle so von seinem Liebling getrennt, daß der Bürgermeister und die Hausfrau zwischen ihm und Annen saß.

Nächstan saß der Hofrat v. Mandling. Der sagte gern jedem, den er über Gläser und Teller und Blumenvasen erreichen konnte, eine nette Artigkeit. So bemerkte er dem Alten, daß ihn der Name Küßdenker sehr anmute, der sei so minnenhaft und ehrwürdig zugleich.

»Das ist er erst mit dem kaiserlichen Willen geworden,« versetzte Ferdinand, »meine Urgroßvaterleute haben noch Küßdenkerl geheißen – Küss' den Kerl! Ich bitte! Da ist mein Großvater selig zum Kaiser gegangen und hat einen Fußfall getan, daß doch um Gottes willen das l aus unserem Familiennamen weggenommen werde. Der Kaiser hat nachforschen lassen, ob's ein ehrlicher Mann, und weil dies wohl der Fall gewesen, so hat er entschieden: Gleichwohl ein ehrlicher Mann unter jedem Wortlaute achtbar sei, habe er nichts gegen die Streichung des letzten Buchstabens. Sehen Sie, und so ist aus dem Kerl ein Denker geworden.«

Die Sache erregte Heiterkeit.

Als die Lichter angezündet waren und die Flaschen mit den silbernen Köpfen aufmarschierten, wollte sich Ferdinand davonstehlen. Frau Wildau erhaschte ihn noch rechtzeitig am Rockzipfel und hielt ihn fest.

Die mattgeschliffenen Tulpengläser wurden gefüllt, eisige Schaumwellen flossen über die Ränder. Da erhob sich Herr Mildau und begann zu sprechen:

»Meine lieben Tischgenossen!

Seltsam mag es erscheinen, wenn der Hausherr zu Ehren des eigenen Hauses ein Fest gibt. Daß mir aber die Anmaßung verziehen ist, beweist mir die Vollzahl meiner lieben Gäste, trotzdem die Geschichte dieses Hauses vielen nicht zur Genüge bekannt sein dürfte. Denen bin ich bei der heutigen Gelegenheit verpflichtet, über diese anmutige Historie Unterricht zu erteilen.« Nach einer kleinen Pause, da sich aller Ohren in Bereitschaft gestellt hatten, fuhr Mildau fort:

»Die Geschichte des Hauses Mildau beginnt auf der Reichenberger Straße in Böhmen, etliche Stunden vor dem Orte Gitschitz. Dort war es vor fünfunddreißig Jahren, daß ein lustiger Tuchmachergeselle des Weges zog. Er soll – heißt es – gerade ein Vagabundenlied gesungen haben, als er an einem Schotterhaufen einen Mann liegen sah. Der war nicht so lustig als der andere, der konnte nicht weiter, er war krank. Wo fehlt's, Freund? rief ihm der Tuchmacher zu. Wo's fehlt! antwortete der andere und schlägt mit der Hand an seine Füße, an seine Brust, an seine Taschen; da und da und da – und überall. Ich komme weit her von Prag, erzählt er treuherzig, meines Zeichens bin ich ein Schuster. In Gitschitz bin ich daheim. Dort liegt – so steht's im Brief, den ich in der Tasche hab' – meine Mutter auf den Tod krank. Ich will eilends hin und bin schon tagelang auf der Wander. Meine Füße sind wund, bin zum Sterben matt und kann nicht weiter. – Möcht' sie wohl noch einmal sehen! Dort haspelt der Häutewagen noch, dort. Ich hab' ihn gebeten, er möchte mich mitnehmen. Was zahlst? Ja, zahlen kann ich nichts. Da haut er in die Pferde drein und fährt davon. So muß ich – zwei Stunden vom Haus und von der sterbenden Mutter da verbleiben. – Sagt der Tuchmacher: da bleibst nicht liegen, Schuster. Schau, dort kommt ein Krämerwagen daher, er tut gegen Gitschitz hin – den packen wir an. – He, Vetter! schreit der Tuchmacher den Krämer an, auf zwei Maß zahl' ich beim Brauer in Gitschitz, wenn Ihr diesen Mann mitnehmt. Zwei Maß ist nicht viel, sagt der Böhme; drei Maß ist mehr, sagt der Tuchmachergesell, da sind sie handelseins. Der Wagen rollt mit dem Schuster davon. Der Tuchner trottet langsam hinterdrein, kommt nach in den Ort und tut beim Brauer seine Schuldigkeit. Darauf, wie er abends beim Mondschein seine Herberge sucht, sieht er vor einer Hütte seinen Schuster sitzen. Der springt auf, will ihm die Hand küssen: Euch Dank, daß ich sie noch einmal gesehen hab'. Euch ihren guten Segen. Und zerrt ihn mit in die Hütte zur Toten. Und er erleichtert sein Herz und erzählt vom Elend seiner Familie. Das Haus war einmal gut dagestanden, aber der Vater hat alles verspielt. Was mit den Spielkarten nicht ist gegangen, das hat er in die Lotterie getragen. Da draußen vor dem Ort liegt der Teich, darin sein Ende gewesen. Meine Mutter hat sich ehrlich weitergeholfen, aber nicht das Bett ist unser, auf dem sie gestorben. So arm ist sie, daß ihr nicht einmal die Kirchenglocken auf den Kirchhofsweg läuten wollen. – Das lass' dir nicht anliegen, sagte der Tuchmacher – und ein Hundsfott müßt' er gewesen sein, wenn er nicht so gesagt hätte –, ich hab', sagt er, auch eine alte Mutter daheim. Von der habe ich immer so ein paar Schimmel in der Taschen. Weil wir schon beieinander sind, Schuster, so wollen wir machen, was recht ist.

Als das Begräbnis vorüber war, zogen beide wieder davon. Sie wanderten gegen das Erzgebirge; in einem Bergstädtchen nahmen sie Arbeit, der eine in der Wolle, der andere im Leder. Sie blieben beisammen. Indes denke ich, geehrte Festgenossen, es ist Zeit, wir heben einmal die Gläser an unsere Lippen.«

Sie tranken. Mildau fuhr fort:

»So treuherzig und so arm und so glücklich dabei, wie es der Schuster war, wird es nicht leicht einen geben. Er war ein fleißiger Arbeiter und erwarb sich manchen Taler, aber seine Mitgesellen brauchten stets Geld; er gab ihnen, was er hatte, sie durften es verrauchen, vertrinken, der Liebsten zustecken – was sie wollten – nur nicht verspielen. Dem Spielen war er feind bis aufs Messer. Spielteufel, Hausverderber, Leutumbringer! – Mehreren Meistern hatte er die Arbeit gekündet, weil im Hause Spielkarten waren. Wie er dastand, war er gar kein übler Bursche und hätte eine saubere Tabakskrämerin heiraten können. Aber es war ein falsches Weib, sie hatte hinter dem Tabaksladen auch noch eine Lottokollektur. Der Schuster wandte sich mit Verachtung von ihr ab.«

Ein feines Herrchen am anderen Ende der Tafel, welches seit der Rede Beginn seine Nase mit dem goldspornigen Zwicker beritten hielt, obwohl es bloß zu hören gab, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch um das Kelchglas herum und murmelte: »Das ist keine Geschichte für einen scharmanten Champagner.«

Mildau hörte es nicht und fuhr fort:

»An einem Sonnabende saßen die beiden Freunde, der Tuch- und der Schuhmacher, in der Handwerksschwemme des Städtchens und tranken Apfelwein. Da rief der Schuster: Setzen wir uns in die Nebenstube, ich kann den prahlerischen Anschlagbogen nicht sehen. An der Wand hing nämlich eine Anzeige mit zinnoberroten, schreienden Ziffern und kündete eine neue Staatslotterie mit großen Treffern. O Narr! rief der Tuchmacher, hätte ich lieber das Kleingeld im Sack, ein Los zu kaufen. Auf einen Schlag ein reicher Mann sein, was meinst denn? – Schäme dich! war seine Antwort. – Oder wenigstens die Hoffnung haben, einer zu werden. Schon die Hoffnung, Freundchen, ist ihren Groschen wert. – Ja freilich, sagte der Schuster, und auf den Konto hin gleich ein Luderleben anfangen, nicht arbeiten, nicht sparen und bei jeder Ziehung fluchen. Wäre mir das Rechte! Nicht geschenkt nehme ich ein Los. – Der gute Junge hatte noch nicht ausgeredet, als die Tür aufging und ein Loseverkäufer in die Gaststube trat. Es waren aber keine Staatslose, es waren Lose einer Effektenlotterie zugunsten der armen Bevölkerung des Erzgebirges, die damals durch eine Überschwemmung arg mitgenommen worden war. Das Los kostete – glaube ich – vierundzwanzig Kreuzer; eine Unzahl kleiner Treffer aller Art war aufgestellt, die Ziehung war vor der Tür – die Papiere gingen reißend ab. Nur der Schuster weigerte sich, einen Schein zu nehmen: es wäre Spiel, er wolle nichts damit zu tun haben. Die Gesellen schalten ihn Geizhals und stellten ihm vor, daß er doch nichts gewinnen könne als etwa eine blanke Achtschere oder einen rotbehefteten Taschenfeitel, und daß, was er da gäbe, nur ein Almosen wäre. So nahm er drei Lose, die er sofort dem Tuchmacher in die Hand rieb: Mach', daß mir die Fetzen aus den Augen kommen.

Die Ziehung fand statt. Allerlei wurde gewonnen. Auf eine Nummer, die der Schuhmacher seinem Freunde gegeben hatte, fiel als Treffer ein Staatslos. Der Schuhmacher nahm es nicht. Freund, sagte er, das Papier gehört dein, verwerte es, wie du kannst; ich wünsche nur, daß es dir von allen Kümmernissen, die daran hängen, die kleinste macht: daß dich kein Treffer trifft. –

Nicht lange hernach wurden die beiden Freunde getrennt. Der Tuchmacher wurde in seine Heimat gerufen, um dort das kleine Wollengeschäft seines verstorbenen Vaters zu übernehmen. Da war plötzlich der Haupttreffer da! Der Haupttreffer des Staatsloses! Der Gewinner hatte selbstverständlich nichts Eiligeres zu tun, als seinen Freund, den Schuster, aufzusuchen. Nach langem Herumschreiben entdeckte er denselben in einem schlesischen Städtchen. Er war der alte wie damals. Er hatte es noch nicht einmal zum Meister gebracht, trotz seines Fleißes und seiner Geschicklichkeit. Ich will frei und sorgenlos leben, sagte er, und blieb Schustergeselle. Nun gab es Streitigkeiten. Der Tuchmacher wollte den Schuster zwingen, von dem Gewinne wenigstens die Hälfte in Empfang zu nehmen. Der Schuster hielt die Ohren zu und schrie: Lass' mich in Ruh', sonst sind wir geschiedene Leute. Da fuhr der Tuchmacher auch in die Höhe und nannte ihn einen Halbnarren!«

Mildau kühlte sich mit dem Tuch das Angesicht, dann fuhr er fort: »Bevor ich noch dieses Glas hebe, habe ich mitzuteilen, daß also der Tuchmacher den Wunsch seines Freundes erfüllt hat. Er errichtete ein Tuch- und Seidenwarengeschäft; dasselbe gedieh zu einer Großhandlung. Der Kaufmann dehnte sein Geschäft auf industrielles Gebiet aus, und seine Firma war in Heimat und Fremde wohlgeachtet. Auch fand er ein Mädchen aus gutem Hause, welches seine Lebensgenossin und die Teilnehmerin seines hellen Glückes wurde. Der Freund Schuhmacher hätte es auch so gut haben können, doch da er endlich mit Mühe ins Haus gebracht worden war, begnügte er sich, das Glück des Mannes zu sehen und bewachen zu helfen. Er war im Hause der Bruder und Oheim. – Stürmische Zeiten und Gefahren blieben nicht aus, mehrmals wankte die Firma unter schweren Geldkrisen, und dreifach verloren wurde die Summe des Haupttreffers, der sie begründet hatte. Ganz unrecht hatte also der gute Schustergeselle auch in diesem Falle nicht; was da übrigblieb und wieder erstand, es stammt von Mühe und redlicher Arbeit, der ein weites Feld geboten war. – Ich bemerke,« unterbrach sich nun Mildau, »ich bemerke im Kreise meiner verehrten Gäste schon seit einiger Zeit allerlei Geflüster; dieser Umstand bringt mich auf die Vermutung, daß man die Namen der Helden meiner Geschichte bereits erraten hat. – Auf einen derselben erhebe und leere ich dieses Glas.«

Da erhob sich rasch ein brüllender, klingender, schäumender Sturm, und als der Toast vorüber war, troff der arme, im Anstoßen und Trinken so überaus unbehilfliche Ferdinand Küßdenker über und über von Champagner.

»Das habe ich ja gewußt,« murmelte der Alte, sich so gut als möglich wieder instand setzend, »daß heute etwas über mich kommt; ich gehöre da nicht her.«

Zitternden Armes stieß Ferdinand mit jedem an, doch erst als sein Glas mit Annens Becher angeklungen, leerte er es aus.

Als sich endlich der Aufstand wieder ein wenig gelegt hatte, erhob Herr Mildau nochmals seine Stimme und sagte:

»Wie ich heute dastehe im trauten Kreise der Familie, umgeben von den Besten der Stadt und des Landes, die ich Freunde nennen darf, gesegnet mit so manchem, was das Leben angenehm machen kann, so hält mich die Welt wohl für einen glücklichen, beneidenswerten Mann. Ich will ihr nicht widersprechen. Doch ist das eine gewiß: Heute, wo es mein innigster Wunsch ist, diesem lieben Genossen hier an meiner rechten Seite eine besondere Freude zu machen – bin ich bettelarm. Dieses anspruchslose treue Freundesherz –«

»Er vertreibt mich rein!« knurrte Ferdinand und sprang auf.

»Bruder!« sagte Mildau, den Alten an beiden Händen fassend, »heute verzeih' mir's. Ich will nichts mehr sagen. Nur eine Kleinigkeit noch. Daß dir mit nichts beizukommen, das wußte ich. Ich hab's anderwärtig versucht.«

Er enthüllte eine große Photographie, welche auf dem Nebentische stand; das Bild stellte ein ziemlich umfangreiches Gebäude vor.

»Meine Herrschaften!« rief er heiteren Tones, »da vorhin von dem Dorfe Gitschitz in Böhmen gesprochen worden ist, so dürfte es Sie vielleicht interessieren, das neue erst eröffnete Armenhaus jenes Ortes zu sehen. Es steht auf dem Platze, wo die hinfällige Heimatshütte des wackeren Schuhmachergesellen gestanden hatte. Es ist zum Gedenken an die gute arme Handwerkerfamilie aufgeführt und der Gemeinde gewidmet worden. Es trägt den Namen »Ferdinandeum«.

Ein vielstimmiger Ruf der Überraschung. Ein begeistertes Bravo dem Manne für die schöne dankbare Tat.

Ferdinand war verschwunden.

Man hielt Jagd nach ihm durch alle Gemächer.

Anna fand ihn später in seinem schlichten Stäbchen, wo er vor einem Wasserfarbenbildchen seines fernen Heimatsdorfes auf den Knien kauerte und schluchzte.

Nun ergriff er des Mädchens Hand: »Anna, dein Vater ist gut! Nur schleppt mich jetzt nicht mehr unter die Leut'.«


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