Peter Rosegger
Heidepeters Gabriel
Peter Rosegger

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Ein Morgen im Walde

Die Seele des Waldes, wer leugnet sie, wer hat sie noch nie empfunden?

Die Sonne neigt sich, es naht der Abend. Der Vögel Sang verstummt beizeiten; diese Wesen halten nur Morgengottesdienst und arbeiten bloß am Vormittage, dann ziehen sie sich zurück in ihre Familie. Nur der Specht ist fleißig länger hinaus; er hackt an seinen Stämmen und Rinden bis spät am Abend – wie's schon bei allen Holzhauern geht. Der Uhu fängt gar erst am Abend an und singt seine klagenden Lieder.

Wohl den ganzen Tag hindurch herrscht Dämmerung im Walde, und im Halbdunkel wiegen an dem verwitterten Geäste sanft die grauen Moosfahnen. Hie und da auf dem mit Wurzeln und dürren Nadeln bedeckten Boden liegt ein sonniges Scheibchen, oder an den glatten Stämmen hängt da und dort ein goldiges Täfelchen, oder es windet sich ein Silberfaden durch das Geäste. Gegen Abend finden sich diese Dinge an einer anderen Stelle und sind rötlicher; allmählich werden sie matt, und endlich lösen sie sich auf, und es ist gar nichts Farbiges mehr da, es ist kein Ast und kein Stamm deutlich mehr zu sehen, es ist eine Mauer von Dunkelheit; die Sonne ist untergegangen. Da jauchzt der Baumkauz, und er redet laut mit sich selbst, und er schüttelt vor Lachen seinen großen Kopf. Er lacht sich schier heiser; wen er wohl auslacht, der alberne Kauz? Ein Totenvogel soll er sein – und sein Lachen?

So war es in den unwirtlichen Waldungen der Schroffen, als Regina angstvoll durch dieselben dahineilte. Sie suchte die Mutter, sie hörte den Totenvogel.

»Sind Geschichten,« sagte sie dann, sich selbst ermutigend, »die Eule hat auch der Herrgott erschaffen, und sie lebt so gern wie jedes andere Tier, und sie wünscht keinem Menschen was Böses. Wenn ich den Vogel nur verstehen könnte, vielleicht hat er meine Mutter gesehen und erzählt es mir jetzt, daß sie unter einem dichten Baume ruht, oder daß sie drüben ist bei den Holzhauern. Und er lacht, weil ich da wie närrisch umhersuche.«

Es knisterte in dem dürren Gefälle, der Boden dröhnte, und eine Gestalt huschte hin zwischen den Stämmen. – Dem Mädchen zitterten alle Glieder vor Angst, gleich aber sagte es halblaut:

»Ist ein Reh gewesen, und mir geschieht nichts, und ich weiß gewiß, daß ich morgen, wenn die Sonne aufgeht, frisch und gesund bin. Wenn ich nur nicht so dumm wär' und nicht allweg an Gespenster denken müßte, ich bring' mir die Gedanken nicht aus dem Kopf, und es ist doch nichts, es ist zur Nachtzeit im Walde kein Tüpfelchen mehr und keines weniger als am Tag; nur daß die Finsternis ist. Daß rote Flämmlein leuchten um Mitternacht, wenn der Mond aufgeht, ist wahr, weil es glänzende Käfer sind: der alte Schulmeister hat's ja oft gesagt. Daß es einen Seelenschimmel gibt, der einem im Walde auf der Achsel sitzt und die kalte Totenschnauz' vorn herab hält, dasselb' ist eine helle Lug'. Der liebe Gott mag keine solchen Dinge bei seinen Menschen auf der Welt. – Wenn ich mich nur nicht versündige, daß ich's da gleich wissen will, was Gott mag oder nicht, und daß er mich nur nicht etwa straft dafür gleich auf der Stell'!«

Die Angst wurde immer größer, Regina fürchtete sich zuletzt gar vor ihren eigenen Gedanken, und sie betete. Sie eilte weiter, stolperte über Wurzeln, stieß an Baumstämme, verrannte sich endlich so in das hohe Heidekraut, in das Gefälle und Gestein, daß sie gar nicht mehr weiter konnte.

»Das ist ein unsinnig Rennen,« sagte sie endlich, »was will ich denn? Wo will ich denn hin mitten in der Nacht? Jetzt komm' ich schon bald in die Wildschroffen hinein und auf den gottessträflichen Schroffenstuhl, und ich bin vier Stunden weit von den Häusern und Menschen weg. Die anderen suchen ja auch, die haben meine Mutter lang' schon, und ich steig' da in der Wildnis herum. Zuletzt tret' ich gar noch auf eine Irrwurzen, und ich find' nicht mehr zurück und stürz' wo ab an den Wänden. Jetzt will ich gescheit sein und will da in einem Dickicht niedersitzen und warten, bis der Tag kommt, nachher wird mir mein Schutzengel schon eingeben, was ich weiter tun soll.« – Sie verkroch sich in eine dichtverwachsene Baumgruppe, kauerte sich zwischen verschlungene Wurzeln und sagte:

»So, das ist heut' mein Bett, man muß alles probieren auf der Welt.«

Es war eine laue, stille Nacht; es war, als hörte man von den fernen Schroffeneckschluchten herauf leise, leise das Rauschen des Wildbaches.

Regina betete ihren Abendsegen:

Im Gottesnam' schlafen,
Sechs Engel werden mir wachen,
Zwei zu Häupten, zwei zu Füßen,
Zwei zur Seiten.
Mein Namenspatron wird mich leiten.
Und unser' liebe Frau wird über mich
Ihren Schutzmantel ausbreiten.


Zehn Schritte von ihrer Lagerstätte stand Zapfenwirts Davidl.

Dem Davidl ging's sonderbar. Die Gemsbartgedanken hatte er schon lange nicht mehr gehegt; er hatte in dieser gottverlassenen Wildnis bereits ungeheuerliche Dinge gesehen. Zuerst unten in dem nackten entrindeten Gefälle ein bleiches Totengerippe, dann ein flackerndes Licht, das auf ihn zukommen wollte, und das die unerlöste Seele eines vor der Taufe gestorbenen Kindes war. Dann war ein Uhu aufgeflattert und hatte geschrien: »Geh mit! Geh mit!«, und zuletzt war ihm gar der Seelenschimmel auf den Schultern gesessen. Dem Burschen standen die Haare zu Berg; er wollte um Hilfe rufen, aber es versagte ihm die Stimme, er murmelte Beschwörungsformeln.

Das Wild war längst vergessen; er wollte nun das Gewehr wegwerfen, daß er damit nicht etwa die Gespenster reize, hielt es aber doch krampfhaft umspannt. Daß außer ihm ein Mensch in der Nähe, war sein einziger Trost; er schlich dem Mädchen immer nach und war ängstlich, daß er nicht dessen Spur verliere. Es kam ihm der Gedanke, sich Regina zu zeigen, ihr seinen Schuh anzubieten und mit ihr wieder abwärts zu wandeln gegen die Häuser. Er hatte aber nicht den Mut dazu, er war stets in gleicher Entfernung von ihr gebannt, die Angst und Furcht ließ ihn nicht zurückbleiben, und eine innere Scheu ließ ihn ihr nicht näher kommen. So litt er große Bedrängnis.

Als Regina im Gebüsche zur Ruhe gekommen war, blieb Davidl an einem Baumstamme stehen, setzte sich endlich nieder und blickte immer und immer ängstlich umher, ob nicht irgendwo ein blutiges Licht flackere oder das Totengerippe wandle.

Der heilige Wald! Wehe dem Unreinen, der in seinen Hallen schleicht! All die Geister der Einsamkeit kommen und halten über ihn Gericht: Fort, du faules Blatt, für dich ist kein friedsam Rasten unter dem grünen Baum!

Des Zapfenwirts Sohn soll in derselben Nacht unglaubliche Erscheinungen gehabt haben. Endlich aber gingen die Schauer der tiefen Waldesruh vorüber.

Der Fink meldete sich zuerst mit seinem gebrochenen: »Zi – zi!« Dann zirpte eine Grasmücke, dann schallte ein Wachtelschlag. Hernach für Momente wieder Stille. Bald aber piepste ein Waldhuhn, dann pfiff ein Geier auf der höchsten Fichte.

Endlich säuselten die Äste, und es zog eine kühle Luft, und nun schimmerte es grau durch die Waldwölbung, und die Gegenstände traten hervor und standen ruhig da, wie sie dagestanden waren vor den Schauern und Geheimnissen der Nacht.

Nun trillerte die Schwarzamsel, sang die Meise, zwitscherten die Sperlinge und alle anderen.

Jetzt war dem Davidl der Stein vom Herzen.

»Bin doch ein verfluchter Kerl, wie ich da ausgehalten hab' die ganze Nacht im Schroffenwald!« sagte er zu sich und zog den Mund breit. Dann schlich er zur dichten Baumgruppe hin und lauerte.

Das Mädchen schlief noch. Es lag da, förmlich eingeflochten von moosigen Ästen und Wurzelarmen, wie in einem Neste. Regina ruhte in den Armen des Waldes. Die eine Hand lag ihr am sorglich verdeckten Busen, die andere hielt sie unter dem Haupte, um welches die lose gewordenen Haarsträhnen wallten. Ihre Wangen waren frisch gerötet, ihr Mund schien sich ein wenig zu bewegen. Auf einmal hauchte sie verständlich:

»Alle, alle sind davon. Gute Nacht! – so steht's geschrieben im Schnee.«

Im Gesträuche raschelte es, ein Rehbock. David sah ihn, aber er achtete nicht darauf, er ließ das Gewehr zu Boden gleiten. – Er bog die Äste auseinander und reckte den Kopf gegen das Lager. Er tat den Mund auf, und es zuckten ihm die Augenlider. Er grinste und bog die Äste noch weiter auseinander und lauerte.

Plötzlich taumelte er zurück.

Regina hatte die Augen geöffnet. Einen Moment blickte sie verwundert um sich, sie sah den Wald glühen im Morgenrot – sie sah sich um nach der Mutter, nach Gabriel, nach allen, die ihr im Traum erschienen. Nun erblickte sie den wilden Burschen, tat einen Schrei und sprang auf.

Davidl verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, dann stotterte er Worte, die keinen Sinn hatten, und plötzlich haschte er nach ihrem fliegenden Halstuch. Sie entwand sich, das Kleidungsstück blieb in seiner Hand, er ließ es fallen und verfolgte das Mädchen. Da wurde er plötzlich zurückgerissen und taumelte, von einem Faustschlag ins Gesicht getroffen, zu Boden.

Haberturms Rudolf kniete ihm auf der Brust.

»Jetzt hab' ich dich,« sagte dieser, »jetzt machen wir Rechnung. Ich zahle für den Heidepeter!«

Der Davidl stöhnte und biß um sich und schäumte. Der angestrichene Schnurrbart zog sich bereits als schmutziger Flecken über die Wange hin.

Regina sah den Kampf, sie konnte die Gegenwart der beiden Männer nicht begreifen; es wollte ihr unheimlich werden, aber sie fuhr sich mit den taunassen Händen über das Gesicht und rief:

»Das ist doch eine Schand'. Geh, Rudolf, laß diesen Menschen! Meinetwegen? Über den hätt' ich schon noch allein die Herrschaft davongetragen!«

»Regina, das weiß ich besser,« sagte Rudolf, »er ist dir nachgeschlichen.«

Der Bursche wand und wehrte sich verzweifelt, aber Rudolfs Arme und Fäuste, die ihn knebelten, waren ehern.

»Du Haberturmischer Teufel, du!« knirschte der Davidl.

»Ich bitt' dich gar schön, laß den Ekel laufen!« rief das Mädchen. »Und sag' mir doch um Gottes willen was von der Mutter!«

»Rudolf!« stöhnte der Davidl jetzt, »das ist – kein Spaß mehr, du – bringst mich ja um. Halt, laß mich ein wenig, da – hab' ich was für dich.«

Es gelang ihm, eine Hand so weit frei zu machen, daß er aus dem Brustfleck das Fläschchen hervorziehen konnte; mit einem Daumendruck den Stoppel weg und gegen Rudolfs Gesicht.

Mit einem derben Faustschlag schnellte Rudolf dem Burschen das Fläschchen aus der Hand. Da tat Davidl einen kreischenden Schrei.

Sein Auge war hin. Scheidewasser hatte er gehabt. Der halbe Inhalt des Fläschchens hatte sich über Davids Gesicht und das rechte Auge ergossen. Rudolf hatte ihn losgelassen. Noch einen wütenden Schlag tat der Unglückliche nach ihm, aber die Faust schlug in die Kante eines Steines.

Rudolf richtete den Burschen auf, wischte ihm das Blut und die ätzende Flüssigkeit ab, und Regina verband ihm das Gesicht.

Dann führten sie ihn abwärts durch die Waldungen über das Gefälle und über die Heide gegen das Zapfenwirtshaus.

Und das war ein Aufruhr im Zapfenwirtshause! Die Wirtin fragte ihren fiebernden und vor Schmerz sich krümmenden Sohn in einem fort:

»Hast du dir's tan, Davidl, oder hat dir's der Haberturm tan, oder die Heidepeterisch?« – Das eine Mal sagte er »nein«, dann wieder »ja«, und zuletzt rief er immer nur: »Ach Gott, ach Gott, gebt mir Schlaftrunk ein! Gebt mir Schlaftrunk ein!«


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