Peter Rosegger
Heidepeters Gabriel
Peter Rosegger

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Das Blümchen wollt' er entfalten

Als unsere beiden Reisenden das alte Heidehaus verließen, huben schon die Schatten der Bäume und der Berge zu wachsen an.

Der graue Ferdinand war ein wenig hinkend geworden, jedoch trillerte er allerlei Waldliederfragmente und war guter Dinge. Auch gab er sich mit der goldkronigen Arnika und mit dem wilden Wegerich ab; er rieb sich mit diesen Kräutern die Glieder – das sei gut gegen das Alter.

Anna ging still hinter dem Alten her und blickte zu Boden. Das zierliche Strohhütchen hatte sie mittels seines blauen Bandes an den Arm gestreift; auf dem Haupte, über den weichen, stets gelösten Locken, trug sie den schweren, häßlichen Hut aus dem Waldhause. Er drückte sie, er ängstigte sie schier, aber sie wollte ihn nicht lassen. Das war ja des Lieblingssängers Hut, ein ehrwürdiger, aber auch ein unheimlicher Hut.

Das Mädchen war nicht ganz so heiter als am Vormittag. Der Wunsch war jetzt erfüllt, sie hatte die Einödwälder und Gabriel Stammers Geburtshaus gesehen; ja noch mehr, sie trug von der ihr so merkwürdigen Stätte Reliquien mit sich. Und dennoch hatte Anna das Gefühl der Befriedigung nicht in ihrem Herzen.

Am Bache dahinschreitend, sah sie zuweilen ein rotgesterntes Forellchen im braunklaren Wasser schwimmen. Sie erschrak vor dem sausenden Fluge der buntfarbigen Libellen; sie ergötzte sich an den flinken Bachstelzen, die über das schimmernde Weidegebüsch schwirrten, aber sie konnte nicht mehr recht in die helle Lustigkeit kommen, die sie sich vorgenommen hatte auf ihrer Gebirgsreise zu hegen. Morgen soll sie ja schon wieder in das schwüle, staubige Gewirre der Stadt hinein, und der Traum von den schönen Einödwäldern war vorbei.

Die Meisen und Goldhähnchen hatten freilich lustig hüpfen in dem dämmerigen Astgeflechte des Waldes; das Drößchen sang auf dem höchsten Zweig der Wipfel – sie alle konnten ja in den Wäldern verbleiben.

»Ferdinand,« sagte Anna plötzlich, »hast du es bemerkt, wie der alte Vater Stammer seine Schuhe zugeriemt hat, wenn von seinem Weibe die Rede war? Ich habe es gewahrt, daß die Riemen gar nicht lose gewesen sind; er hat sich nur gebückt, um uns seine Augen zu verbergen. Die lieben Leute müssen sich wohl sehr gern gehabt haben!«

»Je nun,« sagte der Graue, »eine bessere Ehe mag's schon gewesen sein als die des Grafen Franggi, der vor einigen Tagen in den Zeitungen bekanntmachen ließ, daß seine kleine Gemahlin, die auf den Ruf Maribella höre, sich verlaufen oder verfahren habe, und daß der redliche Finder gebeten werde, dieselbe gefälligst als Belohnung für sich zu behalten –«

Das Mädchen hielt dem Begleiter rasch die flache Hand vor den Mund: »Ich bitte dich, verdirb mir mit so Reden den Wald nicht . . .«

Ferdinand schwieg denn. Ein Weib war am Wege beschäftigt, wucherndes Erlengebüsch abzuhauen.

»Muhme, wollt Ihr uns Geleitschaft geben nach Karnstein?« redete sie der Alte, um etwas zu sagen, freundlich an.

»Hab' nicht die Zeit«, war ihre Antwort. »Wenn die Herrenleut' aber einen Kameraden haben wollen, just vor ein Fingerlang ist – glaub', er wird's gewesen sein – der Förster des Weges gegangen. Kann nicht mehr als drei Büchsenschuß voraus sein.«

»Na, den Mann werden wir einholen. Guten Tag, Muhme!« Sie schritten fürbaß.

Sie gingen eine lange Strecke durch Schatten, zuweilen ein goldiges Sonnenbändchen überschreitend, das quer über dem Wege lag.

Der Wanderer versteht die Zeichen nicht zu lesen, die in weihevollen Stunden seinen Pfad umgaukeln, arglos schreitet er der Erfüllung entgegen.

Sie kamen auf einen kleinen, von sehr hohen Tannen und Lärchen umstandenen Anger. Auf dem Grase stand das Maßlieb mit seinen schneeweißen und rosenroten Blättchen. Grüngliedrige Heupferdlein schnellten keck darüber hin, an den Baumkronen schwamm ein weißer Schmetterling wie die losgelöste Blüte eines Schlehdornes.

Am Rande dieses Angers – über welchen die durch das Gestämme funkelnde Sonne einige Strahlenlinien goß – weilte eine Mannesgestalt. Sie kauerte auf dem schattigen Grunde und bewegte sich kaum. Der so Ruhende war auf das rechte Knie niedergelassen, stützte seinen vorgebeugten Oberkörper auf den linken Fuß und hatte sein Gesicht zur Erde gekehrt. – Unsere Wanderer mußten ganz nahe an ihm vorüber und konnten ihn wohl beobachten. Er war in dunkelgrauer Kleidung, die Lodenjacke war mit grünem Tuch besäumt. Ein Bergstock und ein Alpenhut lagen im Grase. Die braunen Locken des Mannes waren wirr und dicht; das jugendliche Antlitz war etwas gebräunt und im Augenblick gerötet; auch war es durch ein leichtes Bärtchen beschattet. Dem schier mattgetragenen Anzuge nach hätte man die Erscheinung wohl für einen Holzschläger oder Hirtenburschen halten mögen, jedoch der feinere Wollkragen am Hals deutete mindestens auf einen Förster oder dergleichen hin.

Er bemerkte die beiden Wanderer, die leise den Moosweg herankamen, nicht; er war in ein sonderbares Geschäft vertieft. Aus dem Grase wuchs ein verspätetes Veilchen hervor, das seinen zarten Kelch noch nicht geöffnet hatte. »Dir ist ja kühl im Walde,« flüsterte der junge Mann wie scherzend dem Blümchen zu, »die Sonne sucht dich nicht und findet dich nicht. Halte einmal, vielleicht geht es so.« Und er beugte sich über das Pflänzchen und suchte mit der Wärme seines Atemhauches den Kelch des Veilchens zur Entfaltung zu bringen. Schon deuchte ihn, das Knöspchen wolle sich zu lösen beginnen, da hörte er die Schritte.

Er erhob sich und stand vor dem grauen Alten und vor dem jungen Mädchen mit dem häßlichen Hut. Der Alte neigte lächelnd seinen Kopf zum Gruße; das Mädchen tat sein großes helles Auge gegen ihn auf – dann wollte es an ihm vorübergehen.

»Gar nicht ein bißchen müde?« sagte der junge Mann.

Da meinte Ferdinand in seiner Leutseligkeit, sie könnten sich ja wohl ein wenig auf das Gras niederlassen. Er tat es und reckte bald alle viere von sich. Anna blieb stehen und blickte einer Ameise zu, die – gewiß den seltsamsten Weg ihres Lebens – über der Städterin weiches Samtschühlein lief.

»Mein Fräulein!« sagte der junge Mann, sich artig verbeugend, »am Ende haben Sie mich belauscht, als ich vorhin den Frühling spielte; dieses herzige Blümel wollte ich entfalten« – er pflückte das Veilchen –, »aber ich merke wohl, ich bin nicht zum Schöpfer geboren. Vielleicht behagt es der kleinen Blume bei Ihnen besser, wenn sie angenommen würde?«

Er hielt ihr zierlich mit zwei Fingern das Pflänzchen hin. Sie wollte nach demselben greifen, aber ihre Hand und ihre Augenlider sanken.

»Ich bitte!« versetzte der Fremde kühn, »oder denken Sie, für Blumen gehöre ein Körbchen?«

Anna nahm das Veilchen.

Ferdinand war davon so überrascht, daß er wie eine Bildsäule dastand.

Dieser kecke Bursche da mit seiner sonderbaren Anrede! Und dieses sonst so spröde Mädchen!

»Ich habe gemeint, Sie wären ein Jägersmann oder dergleichen,« sprach er mit unverhohlener Neugierde, »aber Sie tun mir viel zuviel mit Blumen um.«

»Warum just ein Jägersmann? Sehe ich denn so mörderisch aus?« lachte der andere, »fiele es Ihnen nicht gescheiter ein, daß ich ein Waldgärtner wäre, der die Wesen lieber belebe als sie töte?«

»Der Herr Förster also!« sagte der Graue und rückte mit Respekt sein Hütchen.

Der Förster denn wendete sich wieder zum Mädchen: »Es scheint zwar, als treibe die zarte Touristin sich noch nicht lange in den Wildnissen um, und doch macht sie schon die Waldmode mit.«

Er deutete auf den alten Wetterhut.

Jetzt hatte Anna Mut bekommen. – Der will sich lustig machen über den Hut?

»Sie mögen vielleicht keinen solchen Hut haben, Herr Förster,« sagte sie, dem Manne ins Gesicht blickend, »das ist der Hut des . . .« Sie sprach's nicht aus.

»Haben ihn auch auf redlichem Wege erworben,« warf Ferdinand halb scherzend ein, »wir sind eigens von der Stadt gekommen und haben das Heidehaus besucht, wo der Sänger von den – den –«

»Waldliedern«, ergänzte Anna.

»Geboren worden ist –«, schloß der Alte.

Sie machten sich wieder auf den Weg. Der Waldgärtner bat mit leichter Höflichkeit, sich anschließen zu dürfen. Er schritt neben dem Mädchen her. Sein Benehmen war offen, heiter und unbefangen, und bald waren sie zusammen durch ein fröhliches Gespräch verwebt.

»Sie wären wirklich des alten Heidehauses wegen den weiten Weg von der Hauptstadt in die Einöde gekommen?« fragte der Förster. – »Ja«, sagte das Mädchen.

»Sie sind wohl die einzigen zwei, die auf solchen Einfall kamen. Sind Sie mit Ihrer Berg- und Waldfahrt auch zufrieden?«

»Oh, sehr zufrieden,« antwortete Anna, »nur habe ich nach allem, was ich über die Einödwälder gelesen, mir diese Gegend anders vorgestellt.«

»Haben Sie denn so vieles über diesen Wald gelesen?«

»Sie kennen gewiß alles, Herr Förster, was Gabriel Stammer darüber geschrieben hat; Sie singen doch auch seine Waldlieder?«

»Die Sachen sind mir nicht unbekannt,« versetzte der junge Mann, »doch, mein Fräulein, wer im Walde lebt wie ich, und seinem verborgensten Weben und Walten zu lauschen Gelegenheit hat, und wer seine Lieblichkeiten, seine Gewalt, seine Schrecknisse im Laufe der Jahreszeiten erfährt, den können die Waldlieder nicht befriedigen. In den Liedern kommen doch nur Stimmungen des Poeten mittelbar zum Ausdruck; ich ziehe es vor, mir die Stimmung und Schönheit gleich aus erster Hand der Natur zu holen.«

Gelassen sagte Ferdinand: »'s ist die alte Geschichte. Der Prophet wird in seinem Vaterlande nicht geachtet.«

Anna fühlte sich seltsam verletzt, daß der Förster ihre Begeisterung für den Lieblingssänger nicht teilte. Es war ihr das vielleicht oft schon geschehen, aber gerade heute tat es ihr weh. – Eine Weile ging sie schweigend neben den beiden Männern her. Da tat der junge Förster die Frage: »Mein Fräulein, Sie scheinen von Stammers Liederbüchlein eine gute Meinung zu haben?«

Das Mädchen zögerte mit der Antwort.

»Es ist ihr Gebetbuch«, beschied Ferdinand.

»Warum nicht?« sagte Anna, »Stammers Lieder haben mich oft genug erbaut, haben mich gelehrt, die Natur und die Natürlichkeit zu lieben.«

»In diesem Falle hätten Sie dem Verfasser allerdings ein großes Gut zu verdanken,« sprach der Förster, »doch – vergeben Sie mir – Fräulein – ein natürlich geartetes Wesen wäre auch ohne Waldlieder der lieben Natur treu geblieben.«

»Auf dem Lande, denke ich, wäre das keine Kunst,« meinte Anna, »allein in der Stadt und in Kreisen, in welchen man leben muß, ist vieles nicht echt.«

»Ei nein!« versetzte der Förster höflich.

»Und doch,« sagte sie, »nicht aber, als wären es die Kreise der vornehmen Welt. Mein Vater ist Kaufmann –«

Ferdinand hob bei diesen Worten seine wagrecht gehaltene Hand hoch über das Haupt empor, als wollte er sagen: Und was für einer!

»Mein Vater ist Kaufmann«, fuhr das Mädchen in seiner treuherzigen Offenheit fort. »Ich bin nicht viel in die ländliche Natur gekommen; ich mußte lernen. Habe aber meinen Lehrern niemals viel Vergnügen gemacht – gelt, Ferdinand?«

»Warte, so will ich dich aber recht verschwärzen!« sagte der Alte. »Anstatt fleißig Französisch zu lernen, las sie die Dichter; wenn sie am Klavier sitzen sollte, spielte sie auf der Zither Volkslieder, Kirchenlieder. Sollte sie hübsch die Tanzschule besuchen, so lief sie in den Waisenhausgarten und gab sich mit den Kindern ab. Ihre Freude waren die Trauerspiele im Theater und die Kirche mit der Orgel und den Gesängen. – Eine schöne Aufführung das für ein junges Mädchen!« Man merkte es aus Ton und Miene des Alten nur zu gut, wie sehr er im Innersten mit den Neigungen seines Schützlings einverstanden war.

»Ich kann nichts dafür,« sagte Anna leise, »es hat mir oft weh getan, wenn ich hören mußte, ich wäre anders, als Mädchen meines Alters sein sollten.«

Plötzlich erschrak sie jetzt; sie nahm wahr, daß ihr linker Arm in dem des Försters ruhte. Der Weg war uneben und steinig, und so hatte sich der junge Mann stillschweigend als Stütze erboten. Anna wurde befangen, wagte es aber nicht, ihre Hand von der des Försters loszumachen.

»Sie sollten mir noch ein wenig von sich erzählen«, bat er in weichem Tone.

»Oh, sie weiß schöne Geschichten! Etwa die vom Kloster!« rief der Graue boshaft dazwischen.

»Vom Kloster?« fragte der Förster, »Sie waren doch nicht schon im Kloster, mein Fräulein?«

»Ich wollte aber hinein!« antwortete Anna ernsthaft. »Meine Eltern hätten mich kaum davon abzuhalten vermocht. Ich ginge vielleicht heute nicht durch diesen grünen Wald, sondern wäre eine graue Schwester, hätte mich Gabriel Stammer nicht davon abgehalten.«

»Wie?« fragte der Förster.

»Seine Waldlieder sind mir in die Hand gekommen. O Gott, ich habe sie wieder und immer wieder gelesen, und da habe ich eine neue Welt gefunden. Liebe und Leben in der Natur, und einfache Sitten, Redlichkeit und Herzenstreue, und frohen Genuß eines mutfrischen Lebens – das alles sieht man und kommt einem ins Herz, wenn man die Waldlieder liest. – Meine Eltern sind auch so und waren dem Sänger dankbar, der mich bekehrt hatte. Ja, sie freuten sich selbst an den Dichtungen. Wir wollten den Verfasser sogar einmal in unser Haus laden, doch man sagt, er gehe in keine Gesellschaft. Er soll zwar viel in der Stadt leben, aber ich habe noch nicht das Glück gehabt, ihn zu sehen.«

Der Graue war etwas zurückgeblieben, um sich einen Weißbirkenstock zu schneiden. Die beiden gingen allein des Weges.

Der Förster hatte auf die obigen Worte keine Bemerkung gehabt. Er machte nur seine grünlich-grauen Augen weit auf und blickte das Mädchen an. Da sah er, daß das junge Veilchen, welches an einem Henkelchen ihres Busenkleides stak, Miene machte, sich zu entfalten. Er sagte nichts; sie gingen Arm in Arm still nebeneinander hin.

Einmal bückte sich das Mädchen, um einen schimmernden Reifen vom Boden aufzuheben. Der Förster hielt sie mit kräftigem Arm zurück, da war der Reifen schon lebendig geworden und glitt schlängelnd und züngelnd ins Gebüsch.

»Sie sehen, mein Fräulein,« sagte der Waldhüter, »auch die Einödwälder sind nicht ganz so harmlos, als sie etwa aussehen mögen. Es gibt nicht allein gemütliche Singdrosseln in ihnen, sondern auch giftige Kupfernattern.«

Da schmiegte sich das Mädchen wie ein geängstigtes Kind schier ein wenig inniger an des Begleiters Arm. – An dem roten Kreuze waren sie längst vorüber. Der Graue trottete mehrere hundert Schritte hinter ihnen her und schnitt mit seinem Taschenmesser die Zweige von dem silberweißen Stab der Birke, den er sich als Andenken an die Einödwälder mit nach Hause nehmen wollte.

»Und wie kommt es denn, Fräulein Mildau,« fragte der Förster, der mittlerweile auch ihren Namen erfahren hatte, »daß Sie mit diesem alten Herrn allein reisen?«

»Weil er ein Mensch ist, der Geduld hat«, sagte Anna. »Er hat mich als kleines Kind auf den Händen getragen. Wir zwei verstehen uns, ich habe ihn lieb. Er ist der Jugendfreund meines Vaters und lebt seit vielen Jahren in unserem Hause. Mein Vater oder meine Mutter konnten mich nicht begleiten; mein einziger Bruder ist zurzeit in London. Sonst habe ich keine Geschwister, und so ist der Ferdinand mit mir gegangen.«

»War Ihr Herr Vater mit der Partie in die Einödwälder gern einverstanden?«

»Oh,« sagte das Mädchen heiter, »jetzt hätte er's wohl gern hintertrieben, aber ich habe ihn beim Wort genommen, das er mir schon vor fünf Monaten gegeben hat. – Jetzt möchte ich aber doch einmal sehen, ob da oben keine Erdbeeren wachsen?«

Schon war sie im Gehege. Sie wollte nämlich auf Ferdinand warten, fand aber wirklich Erdbeeren.

Ferdinand kam heran und schritt mit dem Förster langsam weiter.

»Ich wundere mich immer noch über Ihre Partie in diese Gegend«, sagte letzterer.

»Ich auch,« antwortete Ferdinand, »'s ist eben eine Grille von meinem gnädigen Fräulein. Sie glauben es nicht, was in ihm steckt. Hören Sie nur: Im Karneval des vergangenen Winters wollte Herr Mildau seinem Töchterlein zu Ehren einen Hausball geben. Derlei liebe sie nicht, sagte die Kleine und dankte. Hierauf ist ihr die Wahl freigestellt worden, ob sie als Ersatz für das Ballfest eine Jahresloge im Theater haben möchte, oder ob sie eine Reise machen wolle, oder irgend etwas anderes wünsche. Da ist sie nun mit ihrem Herzenswunsche herausgerückt: ins Gebirge, wo die Lieder entstanden, in die Einödwälder möchte sie gern gehen, wenn der Sommer käme. Herr Mildau hat über die schlechte Wahl gelacht und den Wunsch dem Töchterlein gewährt. So sind wir gekommen, die Heimat von diesen vertrackten Waldliedern zu sehen. – Aufrichtig gesagt, der törichten Verse wegen hätte ich meine alten Füße nicht mehr strapaziert; aber der kleinen Fee kann man nichts abschlagen. Und heute geht ihr das Herz über. Ich erkenne sie kaum wieder.«

Die letzten Worte mußten schon leise gesprochen werden, da das Mädchen bereits heraneilte. Es hatte eine schlingende Efeuranke in der Hand.

»Welcher von uns wird bekränzt?« scherzte der Förster.

»Das kommt auf das Grab seiner Mutter«, sagte Anna, gegen den Alten gewendet. Dann zum Waldmann: »Sie haben die Frau gewiß recht gut gekannt – Stammers Mutter, die im vergangenen Sommer verstorben ist?«

»Wohl – ich hab' sie gekannt«, antwortete der Förster.

»Das muß eine brave Frau gewesen sein. Ich kann ihr nicht danken für die Freuden, die ihr Sohn mir bereitet hat, so will ich ihr Grab bekränzen.«

Der Förster schwieg. Er führte das Mädchen, an dem sich Sinnigkeit und Einfalt in so eigener Weise paarten, wieder am Arm, schritt nun aber selber fast unsicher dahin und sagte lange kein Wort.

Als sie zur Quelle kamen, bei welcher am Vormittag gefrühstückt worden war, setzten sie sich auf das moosumwobene Gestein, und Ferdinand hatte Durst. Es war aber kein Becher da, um Wasser zu schöpfen.

»Wenn Sie nach der Wäldler Sitte trinken wollen,« sprach der Förster zum Alten, »so ersuchen Sie das Fräulein um den vornehmen Hut.« – Er nahm ihr sanft den alten Filz vom Haupte, bog die breite Krempe desselben zu einer Rinne, ließ darauf das Wasser rieseln und hob nun das seltsame Gefäß dem Alten an den Mund. »Ja, so trinken wir im Walde.«

Aus solchem Becher gelüstete es auch das Mädchen zu trinken. Es tat einen langen Zug und hat dabei vielleicht des Mannes gedacht, dessen Haupt von diesem Hut beschirmt worden war. Sie trank ihm insgeheim Gesundheit zu und ein langes, glückseliges Leben . . .

Dann gingen sie wieder und redeten über vielerlei Dinge. Der Förster erklärte die Pflanzen und Tiere, die Täler und Berge, die sie sahen. Ohne jegliche Ziererei führten sie die Gespräche wie alte, vertraute Bekannte.

Als sie zur Lichtung kamen, wo man in das schöne, breite Tal hinaussah, blaute in diesem schon der Schatten, und nur auf den Kuppen der Berge leuchtete der rote Sonnenschein, anders rot als am Morgen, und auch an ganz anderen Gipfeln. Die feierliche Stimmung des Abends lag über der Gegend.

Und als unsere Wanderer zur Stelle kamen, wo der Fußsteig gegen die Wiesen hinaus abbog, und wo auch andere Wege nach verschiedenen Richtungen hin abzweigten, blieb der Förster plötzlich stehen.

»Mein Fräulein! mein Herr!« sagte er, »da Sie nach Karnstein hinaus wollen, so müssen wir uns hier trennen.«

»Ach schade!« versetzte der Graue, »wir hätten gemütlich weitergeschwatzt. Wir haben eine freundliche Bekanntschaft gemacht.«

Anna Mildau sagte leise: »Der Rückweg war kurz.«

»Halten Sie einem ungeschlachten Wäldler manches zugute,« sprach der junge Mann, »und lassen Sie sich die Einödwälder nicht verdrießen!«

»Kommen Sie einmal in die Stadt, Herr Förster, so besuchen Sie uns«, lud Ferdinand ein.

Der Förster blickte fragend in die großen Augen des Mädchens.

»Ich würde sogar nicht leer kommen«, sagte er schalkhaft; »wenn ich auch nicht ganz der begeisterte Verehrer des Sängers der Waldlieder bin wie eine einzige seiner anmutsvollen Leserinnen, so bin ich doch gut Freund mit dem Landsmann Gabriel Stammer, und ich besuche ihn jedesmal, sooft ich in die Stadt komme. Und da wir drei nun auch Bekannte geworden sind – so könnte ich den Mann ja wohl in Ihr Haus mitbringen?«

»Ich bitte Sie, nein!« rief Anna erschrocken, »ich fürchte mich vor ihm und brächte kein Wort hervor, und – und er ginge Ihnen auch nicht mit. Er ist gewiß nicht wie andere Menschen.«

»Dann ist es besser, Fräulein Mildau, ich führe ihn nicht bei Ihnen auf,« sagte der Förster, »Sie könnten enttäuscht sein; es ist unangenehm, wenn ein schönes Ideal zum Staube der Gewöhnlichkeit herabsinkt. Stammer ist, wie andere Menschen auch sind. Ich kenne ihn von Jugend auf, ich habe nie etwas gegen ihn gehabt, aber das mögen Sie mir glauben, er hat Vorzüge und Schwächen, wie sie an anderen Leuten eben auch zu finden sind, und nur so müssen Sie sich ihn denken, wenn Ihnen an der Wirklichkeit dieses Poeten gelegen ist. – Und nun leben Sie recht, recht wohl!«

Mit beiden Händen hatte er des Mädchens Rechte gedrückt. Dann war er, ohne noch einmal umzusehen, seitab über die Wiesen gegangen.

Anna war noch ein Weilchen stillgestanden und hatte dem Dahinschreitenden nachgeblickt. Ferdinand mußte sie am Kleide zupfen. – Gar schweigsam schritt sie neben dem treuen Begleiter hin über die Au, deren Gräser schon abendlich feucht wurden. – – Wie ist das nun so seltsam gewesen? Ein weltfremder Mensch tritt er heran, ein weltfremder Mensch geht er wieder seiner Wege; und sie, die sonst so schüchtern, so schweigsam, ist an seiner Seite gegangen, hat mit ihm treuherzig geplaudert.

Was haben ihr die Einödwälder für einen Streich gespielt! Sie fragte den alten Gefährten: »Ferdinand, ist es doch nicht unschicksam gewesen?«

»Nun, zu wortkarg warst du gerade nicht!« antwortete der Graue, »übrigens ein ganz netter Mensch; das Sprichwort sagt wahr: Es ist auch im Walde nicht alles Tier, was brummt. Je nun, Förster müssen auch ihre Schulung haben. Das eine muß ich aber wohl sagen, wenn der alle Waldgewächse mit seinem Atem aufziehen will, so wird er nicht weit kommen.«

Dem Mädchen war kaum wohl ums Herz. Der Frohsinn war ganz weg.

Hub der Alte mit knarrender Stimme an zu singen:

Der Weichselbau'rn-Sohn
Ist ein gar schlimmer Bua,
Dirndl, ich rat' dir's.
Sperr's Türl zua!

Anna dachte jetzt an den Sänger nicht; sie senkte das Auge. Da erblickte sie das Veilchen an ihrer Brust; das Blümlein, welches er, der Förster, angehaucht und gepflückt und ihr geschenkt hatte.

Und die Knospe war ein wenig aufgeblüht . . .


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