Peter Rosegger
Heidepeters Gabriel
Peter Rosegger

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Morgendämmerung in einer jungen Seele

Gabriel war in seinem sechzehnten Jahre. Er war aufgeweckt und kräftig und stand dem Vater bei in den Arbeiten des Feldes und der Wiese, so wie Regina an der Seite der kränkelnden Mutter die Hausarbeiten verrichtete. Das war ein Mühen und Bekümmern vom Morgen über den langen Tag bis in die tiefe Nacht hinein; aber das Feld hatte ein Herz von Stein, ließ sich nicht bewegen und brachte nur spärliche Frucht hervor. Oft ging auch das Mädchen mit auf das Feld, und sie gruben alle drei und vergossen Schweiß, als wollten sie damit den steinigen Boden erweichen. Und Klara klagte im Hause:

»Da versetzen sie mich leicht daheim und lassen mich allein. Und jetzt kommt auf einmal wieder der Schlag, und ich hab' keine Hilf' und muß verderben!«

Briefe von Ärzten kamen: »Der Heidepeter wird aufgefordert, binnen längstens acht Tagen seine Schuld bei mir zu bezahlen, widrigenfalls ich die Vermittlung des Gerichtes in Anspruch nehmen müßte.«

Gläubiger kamen und polterten an den Türen und mit allen Hausgeräten und schrien:

»Du, Heidepeter! Das sag' ich dir zum letztenmal, wenn du nicht auf der Stelle bezahlst, so führ' ich dir die Kuh aus dem Stall!«

Da verlegte sich der Heidepeter auf das Bitten:

»Ich seh's wohl ein, Ihr wäret auch gern bei eurer Sach', aber ich hab' ein krankes Weib, und mein Grund ist steinig. Ich und meine Kinder arbeiten wohl fleißig und leiden gern selber Not. Ich schau zu bitten, was ich nur bitten kann, habt mir doch nur ein wenig Geduld, ich zahl' euch nachher ja von Herzen gern!«

Und die Gläubiger gingen brummend davon, und die Heidehausbewohner arbeiteten und arbeiteten.

Der Peter sagte zu seinem Weibe:

»Sei nur schön geduldig, Klara, ich sag' alleweil, der Herrgott verlaßt uns nicht.«

»Ach, wenn mich der Herrgott nur gleich zu sich nehmen tät'!«

Über solche Worte erschraken Vater und Kinder, aber die Kranke sagte wieder:

»Gott verzeih' mir meine Reden! Es greift oft eine kalte Hand in meine Brust und will mir's Herz herausreißen; aber ihr seid doch mein, ihr arbeitet willig Tag und Nacht und tragt das große Kreuz. Seid nur geduldig mit mir, ich bin so, ich kann nicht anders, ich hab' euch doch lieber wie mich selbst.«

So war's im Heidehause, und so litten sie alle.

Am tiefsten aber litt – und das wußten die anderen nicht und hatten keine Ahnung davon –, am tiefsten litt Gabriel. Dem lag eine Last auf dem Herzen, die er nicht kannte, die er schon seit Jahren fühlte, die immer größer und schwerer wurde und die ihn zuletzt unsäglich drückte.

Oft, an stillen Sonnabenden, wenn andere Burschen sich zusammengesellten zur Freude und Lust, ging Gabriel hinauf in die Waldungen.

– Gabriel, wenn du unverstanden bist, so blättere im Buche der Natur. Alle Wesen sind Buchstaben, von Gott geschrieben, und die ganze Welt ist wie ein großes Lied.

Siehe, dort hinter dem Waldhang ist ein dunkler Teich. Da ist kein Leben und Bewegen, er starrt hervor wie das offene Auge eines Toten. Kann dieses Gewässer ein Spiegel der Welt sein? Eine lustige Fliege hatte im Gesträuche eben Hochzeit; glückselig, berauscht von diesem süßen, lichtvollen Leben, kommt sie dahergetanzt und setzt sich auf die dunkle Fläche des Teiches. Da wird ein Kreis um das Tier, und größer und größer dehnt er sich hin nach allen Seiten bis an das Ufer, und neue folgen ihm, als wollten sich hier Welten bilden. Und das ist der neunfache Kranz der Hochzeiterin, und das ist ihr Grab im schwarzen Grunde. Da fängt am Ufer ein Glöcklein zu läuten an, und jedes Kraut im Walde, das ein Blumenglöcklein hat, läutet den Sterbegesang. – Den Sterbegesang hört ein bunter Falter, und er flattert auf zu den hohen Wipfeln der Tannen und erzählt es der Meise, und die Meise sagt es der Lerche, und die Lerche schwingt sich zu den Wolken mit purpurnem Saume und hinterbringt die Kunde. Und die Wolke zieht hin und erzählt es den Himmeln, und in den Himmeln stand es wohl geschrieben von Anbeginn: Die Fliege muß sterben im Teiche.

Unter einem Steinkoloß halb verborgen blüht das weiße Blümlein Waldmeister. Und dieses kleine, weiße Blümlein ist eine große, fast unendliche Welt. Da lebt es und keimt und blüht und reift, und unter einem einzigen Blütenblatte ist eine Hütte, ein Dorf, eine Stadt, ein Königreich mit allem Großen und Kleinen und Kleinsten. Da geht es wunderlich zu, da wohnt ein ganzes Volk samt Wiege, Ehebett und Sarg, ein Volk mit Feld und Werkstatt, mit Kirche und Gottesdienst – ein Reich Gottes im kleinen. – Wir sehen mit unserem stumpfen Auge nicht den zehntausendsten Teil des zehntausendsten Teiles dieser kleinen Welt, und wie unser Forschen erlahmt in der Unendlichkeit des Großen, so erlahmt es auch in der Unendlichkeit des Kleinen, und zuletzt wissen wir gar nicht, was groß oder klein, ob es überhaupt groß oder klein gibt, oder was hier das Maß ist, oder wie es kommt, daß sich gerade der Mensch angemaßt hat, das Maß zu sein und zu bestimmen die Dinge, die er nicht kennt und nicht imstande ist zu fassen . . .

Solche Gedanken ziehen durch die Waldeinsamkeit, und je wüster und verlorener die Wildnis und je gewaltiger in der Natur das Werden und Vergehen ist, je schwerer oder tiefer und erhabener sind die Empfindungen, die im Walde uns überkommen.

Wie ein Weihrauchkorn, in die Glut geworfen, zahllose Rauchwölkchen in den verschiedensten Gestaltungen hervorbringt, so gebar jedes kleinste, einzelne Wesen in Gabriels Herzen hundert neue Empfindungen. Oft suchte er aus diesen Empfindungen Gedanken zu bilden, um sich das wunderbare Ahnen und Bangen und Sehnen gegenständlicher zu machen; aber es wollte ihm nicht gelingen, und das schien eben zu sein, was ihn verwirrte und drückte.

Da lag er denn auf dem Moose und sah in das Geäste der Bäume hinein oder zu den abendsonnigen Wipfeln auf und fragte sich:

Was willst du denn? – Was? – Willst du ein Mägdlein haben? Dreimal fragte sich Gabriel: Willst du ein Mägdlein haben? –

Hämmern des Herzens war die Antwort.

Die Welt ist so schön und reich, für jeden Spaten hat sie einen Stiel, für jeden Stil eine Hand – für jeden Wunsch Erfüllung. Verschmähst du sie? Willst du denn sterben? –

Einmal lehnte sich Gabriel an einen Baumstrunk, verdeckte sein Gesicht und betete:

Oh, laß in diesen Nächten nicht,
Mein Gott, mich ewig schweben,
Ruf gnädig mich zu deinem Licht
Und laß mich höher leben;
Und bin als Mensch ich nicht mehr dein,
So laß mich eine Blume sein,
Auf daß mein Aug' dich schaue
Und hoffend dir vertraue!

Gabriel erschrak. Da war ja plötzlich ein Lied aus der Seele gesprungen!

Weiter hinter den Tannen des Heidehauses, wo der Weg abwärts führt gegen Rattenstein, stand unter einer Rotkiefer ein hohes Kreuzbild.

Gabriel stand oft lange davor und sah es an. Seine Eltern und Ureltern hatten gekniet vor diesem Pfahle. Die Sonne hatte über der Brust des allmächtigen Schöpfers Himmels und der Erde eine tiefe Spalte gezogen. Ist doch nur ein Bild aus Menschenhand. Warum verehren wir Werke aus Menschenhand, warum nicht lieber den Bettelmann als Gotteswerk? Die Abendsonne fiel auf das Kreuzbild und vergoldete die Gletscher der Wildschroffen.

O du wunderbar herrliche Welt! Du schönes reiches Tal mit deinen armen, kleinen Menschen! Du Dichtung Gottes, geschrieben von der ewigen Liebe! Wie die Mücken auf dem Blatte eines offenen Buches, so kriechen und tanzen die Menschen hier herum und treten auf lauter Geheimnisse.

Der Mensch ist ein Fragezeichen, die ganze Welt ist ein Fragezeichen; es muß Antwort geben . . .

Solche Gedanken hatte Gabriel, weil er einsam war unter diesen Menschen und auf der Heide.

Eifriger und eifriger las er in den Büchern und suchte Antwort, Lösung; häufiger schrieb er Zeilen auf Blätter – lauter Fragen.

Und einmal schrieb er gar einen Brief in die große Stadt, in der die Bücher gedruckt wurden, sagte, wer er sei, und wo, und fragte an, ob es ein Buch gäbe, in welchem alles Wissen der Menschen vereinigt sei, und er tat in dem Briefe auch allerhand andere Fragen und bat um Antwort, und legte, damit ihm diese um so sicherer gewährt werde, einen Zehnkreuzerschein bei.

Später bereute er diese kleine Tat als eine Albernheit und nahm sich vor, nicht mehr hirnverrückende Gedanken zu hegen, sondern wacker und fleißig die Wirtschaft zu stützen und seinen Eltern ein braver Sohn zu sein.

Und er tat's. Aber das Hauswesen ging nicht vorwärts, der Peter rieb sich schier auf in Arbeiten und Sorgen, und die Klara siechte.

»Besser wird's wohl werden,« sagte die Kranke oft, »aber mich deucht halt, es scheint die Sonne nicht mehr so hell wie vorzeiten, und es will nach und nach finster werden auf der Welt.«


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