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An einem milden, klaren Sommerabend saß Hedwig in einer lauschigen Ecke des zur Klinik gehörigen Gartens und las mit großer Aufmerksamkeit die neueste Schrift des Professor Haller »Ueber die Natur und Behandlung der Geisteskrankheiten«, während die ihrer Obhut anvertrauten Patienten unter Aufsicht der Wärterinnen mit verschiedenen Handarbeiten sich beschäftigten oder ruhig mit einander plauderten.
Der Anblick des blühenden, sorgfältig gepflegten Gartens mit dem frischen Rasen und den schattigen Bäumen, des im anmuthigen Villenstil gebauten Hauses und seiner anscheinend so harmlosen Bewohner bot ein so freundliches und friedliches Bild, daß ein Fremder schwerlich geglaubt Hütte, sich in einer Privat-Anstalt für Nervenkranke und Wahnsinnige zu befinden.
Nur selten verrieth ein verzerrtes Gesicht, ein wild funkelndes Auge, ein jäher Schrei oder ein schrilles Gelächter den gefährlichen Zustand der Unglücklichen. Meist genügte dann ein ernstes Wort, ein fester Klick, ein Wink der Oberin, diese Ausbrüche eines verborgenen Leidens zu unterdrücken und die gestörte Ruhe wiederherzustellen.
Hedwigs ruhiges, freundliches Wesen übte offenbar einen eigenthümlichen Zauber auf diese Kranken aus. Von Zeit zu Zeit kam die eine oder die andere, um ihr eine Blume oder einen Stein zu zeigen, ihr einen glänzenden Käfer oder einen bunten Schmetterling zu bringen, auch wohl nur, um ihre Hand zu küssen.
Liebevoll erwiderte sie diese oft stürmischen Gunstbezeugungen mit einem gütigen Lächeln, einem Wort oder einer sanften Ermahnung; worauf die ergebenen Pfleglinge beglückt davoneilten und zu ihrer unterbrochenen Arbeit zurückkehrten.
Vor allen aber verfolgte eine Patientin Hedwig mit ihrer leidenschaftlichen Zärtlichkeit und eifersüchtigen Liebe. Es war dies jene Frau von Giersdorf, welche Haller wegen ihrer wiederholten Wuthausbrüche und Selbstmordversuche der besonderen Ueberwachung des Doktor Jung empfohlen hatte. Obgleich die Kranke in letzter Zeit weit ruhiger geworden war, erschien ihr Zustand den Aerzten nach wie vor gefährlich/ Die Unglückliche, welche trotz des eingefallenen Gesichts und der abgemagerten Gestalt noch immer Spuren großer Schönheit zeigte, war einst eine gefeierte Dame der großen Welt und die Heldin einer jener modernen Familientragödien gewesen, welche von Zeit zu Zeit die sorglose Gesellschaft erschüttern und erschrecken.
Mit einem älteren hochgestellten Militär verheirathet, der sie anbetete, fühlte sich Frau von Giersdorf in ihrer Ehe unbefriedigt, trotzdem sie in den glänzendsten Verhältnissen lebte und zwei anmuthige, liebenswürdige Kinder besaß. Längere Zeit unterhielt sie mit einem jungen russischen Diplomaten ein strafbares Verhältniß. Die Folge war ein Duell, in welchem ihr Gatte von der Hand ihres Liebhabers getödtet wurde.
Von dem letzteren treulos verlassen, von der eigenen Familie aufgegeben und von der Gesellschaft ausgestoßen, verfiel Frau von Giersdorf in unheilbaren Wahnsinn, der die Form eines wilden Hasses gegen das ganze männliche Geschlecht annahm. Der bloße Anblick eines Mannes brachte sie zur Raserei und versetzte sie in eine solche Wuth, daß sie schon einmal einen zum Glück verhinderten Mordanfall auf einen der Wärter unternommen hatte.
Auch jetzt warf sie Haller, als er zu dieser Zeit gegen seine Gewohnheit den Garten betrat, wilde, haßerfüllte Bücke zu. Der Professor schritt, ohne sich um die Kranke zu kümmern, gerade auf Hedwig zu, welche, von seiner unerwarteten Ankunft überrascht, sich von der Bank erhob, um ihn zu begrüßen.
»Bitte, liebe Hedwig,« sagte er freundlich, »lassen Sie sich nicht stören. Was lesen Sie denn so eifrig, daß Sie sich noch Ihre Augen verderben werden?«
»Ihre Schrift über die Natur und Behandlung der Geisteskrankheiten, die mich im hohen Grade interessirt.«
»Das freut mich um so mehr, als ich beim Schreiben oft an Sie und Ihren Beistand gedacht habe.«
»Ich habe selten ein so lehrreiches Buch gelesen, obgleich ich manches darin finde, was mir wegen meiner mangelhaften Kenntnisse unverständlich ist.«
»Sie brauchen nur zu fragen; ich werde Ihnen gern jede gewünschte Auskunft geben.«
»Ich möchte Sie nicht bemühen. Auch hat sich Herr Doktor Jung bereits erboten, mir alles zu erklären, was ich nicht begreifen kann.«
»Er wird dies gewiß mit vielem Vergnügen thun,« versetzte Haller lächelnd. »Sie können keinen besseren Lehrer finden.«
»Herr Doktor Jung,« erwiderte sie unbefangen, »benimmt sich in der That sehr freundlich gegen mich und ich verdanke ihm viel. Ohne seinen Beistand würde ich mich schwerlich in meinem Beruf so glücklich und zufrieden finden.«
»Das ist mir lieb, von Ihnen zu hören. Auch er hat eine hohe Meinung von Ihnen und ist Ihres Lobes voll. Bei jeder Gelegenheit spricht er mit einer Begeisterung von Ihnen, die mich vermuthen läßt, daß Sie ihm ein mehr als gewöhnliches Interesse einflößen.«
»Wo denken Sie hin!« entgegnete Hedwig verlegen. »Das kann doch nur Ihr Scherz sein. Ein Mann wie Herr Doktor Jung darf ganz andere Ansprüche machen und kümmert sich nicht um ein armes Mädchen, das weder schön ist, noch Vermögen besitzt.«
»Sie sind zu bescheiden, liebe Hedwig! Liebenswürdigkeit und Tüchtigkeit wiegt die größte Schönheit auf, und ein Herz wie das Ihrige ist mehr werth, als Geld und Gut.«
»Nein, nein!« rief sie erregt. »Sie irren sich; Herr Doktor Jung ist zwar immer sehr aufmerksam und zuvorkommend, aber von einer ernsten Neigung kann nicht die Rede sein. Unser ganzer Verkehr beschränkt sich auf die gemeinsame Sorge um die Kranken und auf wissenschaftliche Gespräche.«
»Das weiß ich besser,« erwiderte Haller ernst, »da mein Freund keine Geheimnisse vor mir hat und mich vor einigen Tagen einen Blick in sein Herz thun ließ. Er vertraute mir an, daß er Sie liebt, und bat mich, mit Ihnen zu sprechen, weil er selbst gerade bei Ihrer gemeinsamen Thätigkeit in diesem Hause eine unmittelbare Annäherung nicht für passend hält.«
Während Haller in dieser Weise Zu Hedwig sprach und sie mit den Absichten des Assistenzarztes bekannt machte, litt diese im stillen alle Qualen verschmähter Liebe, nagte und wühlte in ihrem Herzen ein unbeschreiblicher Schmerz. Von neuem bluteten die kaum vernarbten Wunden, rang und kämpfte sie mit der verborgenen Neigung, welche sie seit ihrer Kindheit für den Freund empfand.
Sie liebte Haller mit jener jungfräulichen Scheu, welche sich nie verräth, mit der selbstlosen Hingebung, die keinen anderen Wunsch kennt, als das Glück des Geliebten. Bereit, ihm jedes Opfer zu bringen, ihm wie eine Magd zu dienen und ihr Leben für ihn zu lassen, verzichtete sie auf jede irdische Hoffnung.
Und nun verlangte er von ihr, daß sie einem anderen Manne ihre Hand reichen sollte; das war eine Zumuthung, welche ihre Kräfte überstieg. Dennoch verrieth kein Seufzer, kein Blick, keine Miene in ihrem stillen, klaren Gesicht ihre bittere Pein.
Selbst in diesem Augenblick beherrschte sie mit bewunderungswürdiger Energie den Sturm in ihrer Brust, wenn sie auch zu aufgeregt war, um mit ihm zu sprechen.
»Nun,« sagte Haller nach einer Pause, »Sie antworten mir nicht. Darf ich unserm Freunde Hoffnung machen?«
»Nein!« erwiderte sie, nachdem sie sich gefaßt hatte, mit ruhiger, fester Stimme. »So sehr mich auch sein Antrag ehrt, kann ich mich doch nicht entschließen, ihn anzunehmen.«
»Mein Gott!« rief er überrascht. »Das habe ich nicht erwartet; auch glaube ich nicht, daß das Ihr Ernst ist.«
»Mein heiliger Ernst!«
»Sie begehen das größte Unrecht, einen so glänzenden Antrag zurückzuweisen. Sie beide scheinen wie für einander geschaffen, da Ihre Anschauungen und Neigungen vollkommen übereinstimmen. Sie achten sich gegenseitig, kennen sich genauer und sind mit einander befreundet. Jung besitzt eine angesehene Stellung, den besten Ruf und ein hinreichendes Vermögen, um seiner Frau eine gesicherte Existenz bieten zu können. Es ist daher meine Pflicht, Ihnen nochmals dringend zu rathen, daß Sie sich nicht übereilen und erst reiflich überlegen, bevor Sie eine so wichtige Entscheidung treffen.«
»Halten Sie mich nicht für leichtsinnig oder undankbar. Ich schätze Herrn Doktor Jung und habe die beste Meinung von seinem Charakter und Talent. Sicherlich wird er auch eine Frau glücklich machen; nur ich kann seinen Antrag nicht annehmen, weil ich ihn nicht liebe und nur aufrichtige Freundschaft und Achtung für ihn empfinde.«
»Mehr bedarf es nicht,« versetzte Haller, »und auch Jung wird vorläufig damit zufrieden sein. Glauben Sie mir,« fügte er mit trübem Lächeln hinzu, »die Liebe ist nur zu häufig eine Täuschung, ein Rausch, dem schnell genug ein trauriges Erwachen folgt. Nur Achtung, Freundschaft, Gemeinsamkeit der Empfindungen und Interessen bieten eine sichere Bürgschaft für ein dauerndes Glück. Mir selbst würde durch Ihre Verbindung mit meinem Freunde und Assistenten ein Lieblingswunsch erfüllt werden. Ich wäre glücklich, zwei mir gleich theure und werthe Menschen mit einander vereint zu wissen.«
Seine freundlichen Worte thaten ihr unbeschreiblich wehe; trotz aller Anstrengung vermochte sie nicht mehr ihrem Schmerz zu gebieten, und unaufhaltsam strömten die lange zurückgehaltenen Thränen über ihre bleichen Wangen.
»Um des Himmels willen!« rief Haller bestürzt, wie von einer plötzlichen Ahnung durchzuckt. »Was fehlt Ihnen, liebe Hedwig?«
»Nichts, nichts!« murmelte sie, fast erliegend. »Ich fühle mich von der Arbeit etwas angegriffen.«
»Sie leiden und sind unglücklich; jetzt verstehe ich Sie. Armer Jung! Sie lieben –«
»Barmherziger Gott!«
Einige Augenblicke herrschte eine tiefe Stille; das Gesicht in ihre Hände verbergend, schluchzte sie leise, von Liebe und Scham überwältigt, während ihr ganzer Körper krampfhaft zitterte, wie von elektrischen Schlägen durchzuckt.
Erschüttert von diesem heftigen Ausbruch einer lange unterdrückten Leidenschaft, welche um so schärfer mit ihrer sonstigen Ruhe und Selbstbeherrschung kontrastirte, beugte sich Haller zu der Weinenden nieder. Zärtlich besorgt, ergriff er ihre Hand, noch immer weit entfernt von dem Gedanken, daß Hedwig ihn selbst lieben könne.
»Beruhigen Sie sich!« sagte er mitleidsvoll. »Sie dürfen mir wie einem Bruder vertrauen und auf meine Verschwiegenheit rechnen. Vielleicht kann ich Ihnen rathen, helfen, wenn ich erst alles weiß und Sie mir den Namen des Mannes nennen, den –«
»Nein, nein!« unterbrach sie ihn, entsetzt ihn anstarrend. »Lieber sterben! Haben Sie Erbarmen und fragen Sie mich nicht. Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Lassen Sie mich! Ich muß fort, nur fort.«
Zugleich sprang sie auf, als ob sie entfliehen wollte; aber ihre Kniee zitterten, ihre Füße schwankten, und wie gebrochen sank sie auf die Bank zurück, von der sie herabgefallen wäre, wenn er sie nicht mit seinen Armen festgehalten hätte.
»Hedwig!« sagte er bekümmert. »Was ist Ihnen! Warum wollen Sie fort? Erklären Sie mir –«
»Es ist das einzige,« erwiderte sie erregt, »das beste, was ich thun kann. Nach allem, was heute vorgefallen ist, darf ich nicht länger bleiben. Herr Doktor Jung wird mir nie verzeihen, und auch Sie müssen mich verachten.«?
»Wie können Sie glauben! Jung ist zu ehrenwerth und zu verständig, um Ihnen seine Abweisung nachzutragen, so sehr sie ihn auch schmerzen mag. Ich stehe Ihnen dafür, daß er Sie mit keinem Wort verletzen und nach wie vor Ihr Freund bleiben wird. Ich selbst achte Sie darum nicht minder, und Ihr Geständniß giebt Ihnen nur ein größeres Anrecht auf meine Theilnahme. Ich bin überzeugt, daß Sie keinen Unwürdigen lieben werden. Das genügt mir, und ich will keine Frage mehr an Sie richten, nie mehr diese Angelegenheit berühren, wenn Sie selbst es nicht wünschen.«
»Und doch kann ich nicht länger bleiben,« entgegnete sie, sich von neuem erhebend. »Ich bitte und beschwöre Sie bei allem, was Ihnen theuer ist, mich noch heute zu entlassen.«
»Nimmermehr! Ich werde nicht zugeben, daß Sie in Ihrer fetzigen aufgeregten Stimmung gehen. Vorläufig müssen Sie bleiben, bis Sie sich beruhigt haben und mir bessere Gründe für Ihren Entschluß geben können.«
Dabei ergriff er ihren Arm und suchte die noch immer Widerstrebende sanft zurückzuhalten. Niemand hatte bisher auf die befremdende Scene im Garten geachtet; unbekümmert gingen die Irren ihren Beschäftigungen nach, während die rinnen miteinander plauderten.
Nur jene wahnsinnige Frau von Giersdorf hatte das Paar nicht aus den Augen gelassen. Leise, mit unhörbaren Schritten war sie hinter die Hecke geschlichen, welche die von der Oberin eingenommene Bank umschloß.
Mit funkelnden Augen lauerte die Kranke, verborgen in dem Gebüsch, und verfolgte jede Bewegung, jede Miene der von ihr geliebten Pflegerin.
Immer wilder wurden ihre Züge, als sie Hedwigs Schluchzen vernahm; finsterer lagerten sich die drohenden Falten auf ihrer Stirn, als Haller den Arm der Weinenden faßte.
Zitternd vor Aufregung suchte die Wahnsinnige nach einer Waffe, um die vermeintlich bedrohte Oberin zu schützen und den ihr verhaßten Arzt zu tobten. Ein Beil, das ein im Garten beschäftigter Arbeiter vergessen hatte, blitzte ihr entgegen.
Mit einem Wuthschrei ergriff sie es und stürzte auf Haller los.
Wie eine gereizte Tigerin durchbrach sie die Hecke, die Augen glühend von Haß, das Gesicht dunkel geröthet und von Mordgier gegen den ahnungslosen Arzt verzerrt.
Schon erhob sie den fleischlosen, sehnigen Arm zum tödtlichen Schlage, schon schwebte das blinkende Beil hoch über seinem Haupte, als Hedwig mit der Schnelligkeit des Blitzes sich über den Geliebten warf und mit ihrem Körper sein bedrohtes Leben schützte.
Es war ein furchtbarer Augenblick; hier das rasende Weib mit der geschwungenen Axt, dort die herbeistürzenden Wahnsinnigen in wildester Aufregung über das unheimliche Schauspiel, heulend, schreiend, weinend, grinsend und die Zähne fletschend, gleich einer Schaar böser Geister, gleich entfesselten Dämonen der Hölle.
»Tod dem Verführer!« kreischte die Irre. »Er muß sterben.«
»Tod! Sterben!« heulte der schreckliche Chor.
Mitten in diesem tobenden Gewühl stand Hedwig regungslos wie ein Marmorbild, die klaren Augen fest und ruhig auf die wahnsinnige Frau gerichtet, furchtlos, ohne zu zucken, wie ein Thierbändiger, der durch die magnetische Kraft seines Blickes die blutgierigen Bestien beherrscht.
Wie bezaubert starrte die Irre sie an; langsam, wie gelähmt ließ sie den zum Schlag erhobenen Arm wieder sinken.
»Zurück!« gebot Hedwig.
Willenlos gehorchte die Wahnsinnige der bekannten Stimme ihrer Oberin.
»Das Beil her!«
Zögernd reichte sie ihr die Axt hin.
»Folgen Sie Ihrer Wärterin!«
Ohne Widerstand ließ sich Frau von Giersdorf wie ein schwaches Kind fortführen, begleitet von den übrigen Kranken, welche still und beschämt mit ihren Wärterinnen den Garten verließen.
Erst nachdem alle gegangen waren, brach Hedwig zusammen; überwältigt von ihrem Leid und der übermenschlichen Aufregung sank sie ohnmächtig in die Arme des geretteten Professors.