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Am nächsten Morgen, als Haller seine gewöhnliche Sprechstunde abhielt, ließ sich eine junge Dame durch den Diener anmelden, die er schon seit längerer Zeit kannte und hochschätzte. Ihr verstorbener Vater, der Oberlehrer Bauer, war ein Freund seiner Eltern gewesen und hatte sich des verwaisten Knaben liebevoll nach dem Tode derselben angenommen.
Aus diesem Grunde bewahrte auch Haller dem Verstorbenen ein dankbares Andenken und den zurückgelassenen Angehörigen eine treue Anhänglichkeit. So oft es seine Zeit gestattete, besuchte er die würdige Wittwe, welche mit ihrer Familie von einer kleinen Pension in beschränkten Verhältnissen lebte.
Gern verweilte Haller in Gesellschaft der gebildeten Matrone und ihrer anmuthigen Tochter, welche seine freundschaftliche Theilnahme mit inniger Zuneigung vergalten. Besonders war die letztere dem ausgezeichneten Arzte von Herzen zugethan, ebenso wie dieser sich für das in jeder Hinsicht treffliche Mädchen mit brüderlichem Wohlwollen interessirte.
Ohne eine besondere Schönheit zu sein, besaß Hedwig Bauer einen Zauber, dem sich keiner bei näherer Bekanntschaft mit ihr zu entziehen vermochte. In ihren seinen, von schlichten blonden Haaren umgebenen Zügen lag eine seltene Herzensgüte, und aus ihren blauen, von langen Wimpern beschatteten Augen sprach ein tiefes Gemüth und ein reiner idealer Sinn, Klugheit und Tüchtigkeit.
Ungeachtet dieser Vorzüge war Hedwig bereits vierundzwanzig Jahre alt geworden, ohne eine passende Partie gefunden zu haben, woran weniger die dürftigen Verhältnisse, als eine gewisse jungfräuliche Sprödigkeit, oder vielleicht eine unglückliche Herzensneigung die Schuld tragen mochten, da es ihr keineswegs an annehmbaren Anträgen fehlte.
Da Haller seit seiner Verlobung Hedwig nur selten gesehen hatte, fiel ihm jetzt ebenso sehr ihr verändertes, leidendes Aussehen auf, wie ihn ihr unerwarteter Besuch in seiner Wohnung befremdete.
»Mein Gott!« rief er besorgt. »Was fehlt Ihnen, liebe Hedwig? Sind Sie erkrankt?«
»Ich nicht,« erwiderte sie befangen, »aber die arme Mutter wird wieder von ihrem alten Husten so gequält, daß ich deshalb zu Ihnen komme. Ihr Zustand macht mir rechten Kummer, und ich möchte Sie deshalb bitten, uns so bald wie möglich zu besuchen.«
»Sehr gern! Ich wollte das ohnehin schon in diesen Tagen thun, aber Sie wissen ja, wie wenig Zeit man hat, wenn man verlobt ist. Sie dürfen mir nicht böse sein, daß ich Sie ein wenig vernachlässigte.«
»Oh!« erwiderte sie erröthend. »Sie haben nicht nöthig, sich bei mir zu entschuldigen. Ich würde Sie auch jetzt nicht bemühen, wenn die Mutter nicht so leidend wäre.«
»Ich bedaure nur, daß Sie mich nicht schon früher an meine Pflicht gemahnt haben. Wenn ich erst verheirathet bin, hoffe ich Sie recht oft zu sehen. Ich bin überzeugt, daß Sie und meine Braut sich gegenseitig gefallen werden. Sie beide müssen Freundinnen werden.«
So herzlich auch seine Worte klangen, so war oder schien Hedwig von ihren Gedanken, ihrer Sorge um die kranke Mutter so sehr in Anspruch genommen, daß sie seine freundliche Aufforderung nicht beachtete.
»Ich will Sie,« sagte sie, sich plötzlich erhebend, »nicht länger aufhalten. Ihre Zeit ist kostbar und im Vorzimmer warten noch mehr Patienten. Ich möchte Sie nur bitten, der Mutter zu verschweigen, daß ich Sie gerufen, und so zu thun, als ob Sie zufällig kämen, damit sie sich nicht ängstigt.«
Noch an demselben Abend besuchte Haller die kranke Frau, welche mit ihrer Tochter in einem unansehnlichen Hause vor dem Thor, im dritten Stockwerk, wohnte. Obgleich die Zimmer nur klein und höchst bescheiden eingerichtet waren, empfand der Arzt bei seinem Eintritt in die bekannten Räume ein eigenthümlich wohlthuendes Gefühl.
Mochte es die Erinnerung an seine eigene Jugend oder der hier waltende Friede sein, ihm war es, als träte er in eine andere, bessere Welt, als umwehte ihn der erquickende Athem einer reineren Luft. Alles heimelte ihn traulich an: die schwarzen, wurmstichigen Bücherregale mit ihren zerlesenen Klassikern, die vergilbten Gipsbüsten des Plato und Sophokles, der zahme Kanarienvogel in seinem blitzenden Messingbauer, die sorgfältig gepflegten Epheutöpfe vor den Fenstern, die alte Schwarzwälder Uhr und der ehrwürdige Schreibtisch, über dem das Bild des verstorbenen Oberlehrers und die verblaßte Photographie seines eigenen Vaters hing.
In der Nähe des grünen Kachelofens saß in dem abgenutzten Lederstuhl die Wittwe seines Lehrers, eine zarte, schmächtige Matrone im dunklen Hausrock und blüthenweißer Haube, mit dem mild freundlichen Gesicht, dessen durchsichtige, krankhafte Blässe dem kundigen Arzt ein tiefes, ernstes, unheilbares Leiden verrieth. Trotzdem war sie sichtlich bemüht, eine heitere Miene anzunehmen und den Freund mit einem schwachen Lächeln zu begrüßen.
»Ei, ei,« sagte sie scherzend, mit leiser, flüsternder Stimme, »das ist einmal ein seltener Gast. Ich glaubte schon, daß Sie uns ganz vergessen hätten und den Weg zu uns nicht mehr finden würden.«
»Verzeihen Sie,« erwiderte er freundlich. »Wenn ich nicht so beschäftigt gewesen wäre, würde ich schon längst mir das Vergnügen gemacht haben, Sie zu besuchen. Sie wissen ja, wie gern ich zu Ihnen komme. Sie nehmen es mir doch nicht übel?«
»Gott behüte! Ein glücklicher Bräutigam hat mehr und Besseres zu thun, als sich um eine alte Frau zu kümmern. Ich wundere mich nur, daß Sie noch an uns denken.«
»Da ich gerade einen Patienten in der Nähe habe, so wollte ich nur im Vorüberfahren einmal sehen, wie es Ihnen geht.«
»Bis auf den fatalen Husten kann ich nicht klagen. Den bösen Feind werd' ich wohl in diesem Leben nicht wieder los; von dem können auch Sie mich nicht mehr befreien.«
»Haben Sie so wenig Vertrauen zu meiner Kunst?«
»Daran fehlt es mir nicht. Ich weiß ja, daß Sie ein vorzüglicher Arzt sind. Aber an mir ist Hopfen und Malz verloren, all' Ihre Mühe umsonst. Nun, wie Gott will! Ich fürchte mich nicht vor dem Tod, der mich von allen meinen Leiden erlösen und mich mit meinem guten Mann für immer vereinen wird. Bald werde ich ihn Wiedersehen.«
»Und was soll aus mir werden,« fragte Hedwig traurig, »wenn ich Dich verliere?«
»Das ist freilich wahr,« seufzte die Kranke. »Ein paar Jährchen möchte ich noch Deinetwegen leben, wenigstens so lange, bis Du einen braven Mann gefunden hast, obgleich ich die Hoffnung wohl aufgeben muß.«
»Aber warum sollte,« fragte Haller verwundert, »Hedwig sich nicht verheirathen? Ein so gutes und liebes Mädchen –«
»Weil sie alle Partien ausschlägt und selbst die solidesten Männer –«
»Aber Mutter,« unterbrach sie Hedwig erregt. »Das kann doch den Herrn Professor nicht interessieren, und deshalb ist er auch nicht hergekommen. Lieber möcht' ich ihn bitten, da er sich einmal bemüht hat, Deine Brust zu untersuchen und Dir etwas gegen Deinen Husten zu verschreiben.«
Damit war auch die Kranke einverstanden, worauf Haller ihre Lungen sorgfältig auskultirte und die nöthigen Verordnungen traf. Zu seinem Bedauern fand er den Zustand der Patientin so bedenklich und das Leiden in der letzten Zeit so fortgeschritten, daß er an der Wiederherstellung derselben zweifelte.
Nichtsdestoweniger ließ er es nicht an der größten Mühe von seiner Seite fehlen und behandelte die Kranke so sorgfältig und so aufmerksam, als ob sie eine Millionärin wäre, indem er alle Mittel seiner Kunst aufbot, um das drohende Ende aufzuhalten und ihr das Leben zu retten.
Leider waren alle seine Anstrengungen vergeblich; die Kranke wurde täglich schwächer und ihre Kräfte nahmen immer mehr ab. Zusehends schwand sie hin und ihr Leben zählte nur noch nach wenigen Tagen. Während dieser traurigen Zeit wich Hedwig nicht von dem Schmerzenslager ihrer Mutter, welche sie mit der liebevollsten Zärtlichkeit und Selbstverleugnung pflegte.
Je öfter Haller die Patientin besuchte, desto mehr mußte er immer von neuem die Geduld, Ausdauer und selbstlose Opferfreudigkeit des trefflichen Mädchens bewundern. Mehr als alles aber rührte ihn die erkünstelte Heiterkeit, mit der Hedwig die bereits aufgegebene Patientin wegen der nahen Gefahr zu täuschen suchte. Mit Gewalt hielt sie die hervorströmenden Thränen zurück, zwang sie sich zu einem hoffnungsvollen Lächeln, während das Herz ihr vor Gram und Sorge im stillen brechen wollte.
Ebenso bemühte sich die leidende Mutter, welche mit frommer Ergebung ihrem unvermeidlichen Ende entgegensah, ihren Schmerz und den Kummer um die Zukunft der unversorgten Tochter zu verbergen und ihr gegenüber eine wahrhaft stoische Ruhe bis zum letzten Augenblick zu heucheln. Selbst in der bangen Todesstunde suchte jede in selbstloser Liebe die andere zu täuschen, und noch im Sterben schwebte ein unbeschreiblich heiteres Lächeln um die blassen Lippen der guten Mutter.
Während dieser trüben Tage stand Haller dem verlassenen Mädchen wie ein brüderlicher Freund zur Seite. Er beschränkte sich nicht auf die übliche Theilnahme und hergebrachten Trost, sondern bot ihr seine Hilfe und jeden möglichen Beistand an, da Hedwig in so dürftigen Verhältnissen zurückblieb, daß sie sich genöthigt sah, eine Stellung als Gesellschafterin oder Erzieherin zu suchen.
Als aber alle ihre derartigen Bemühungen keinen Erfolg hatten, bat sie Haller eines Tages, sie zu diesem Behuf einer oder der anderen der ihm bekannten angesehenen Familien zu empfehlen.
»Ich begreife nur nicht,« sagte er, »weshalb Sie sich um eine so untergeordnete und so wenig lohnende Stelle bewerben, die weder Ihrer Bildung, noch Ihren berechtigten Ansprüchen genügen kann.«
»Was soll ich anfangen?« entgegnete sie resignirt. »Meine traurige Lage zwingt mich, mir mein Brot selbst zu verdienen.«
»Sie vergessen, daß Sie Freunde haben, die sich glücklich schätzen würden, Ihnen zu helfen und Ihnen gern eine vorläufige Zuflucht in ihrem Hause zu gewähren.«
»Das kann ich nicht annehmen. So, lange ich gesund bin und arbeiten kann, möchte ich keinem Menschen zur Last fallen.«
»Davon kann doch nicht die Rede sein. Sie werden überall mit offenen Armen empfangen werden und in jedem Hauswesen willkommen sein. Ich selbst wäre mit Freuden bereit –«
»Nein, nein!« unterbrach sie ihn heftig. »Ich kann und darf Ihre Freundschaft nicht mißbrauchen, so dankbar ich Ihnen auch für Ihre Güte und die vielen Bewerfe Ihrer Theilnahme bin.«
»Das thut mir leid,« erwiderte er ohne Empfindlichkeit. »Ich hatte mir das alles so schön gedacht, Sie als Stütze meiner künftigen Frau, die noch in der Wirthschaft etwas unerfahren ist. Wenn Sie aber mein Anerbieten durchaus nicht annehmen wollen, so möchte ich Ihnen einen andern Vorschlag machen, der Ihren Neigungen und Wünschen vielleicht mehr zusagen dürfte. Auch würden Sie mir, wenn Sie darauf eingingen, einen großen Dienst erweisen.«
»Don Herzen gern, wenn Sie mir nur sagen wollen –«
»Wie Sie wissen,« fuhr Haller fort, »habe ich vor einiger Zeit eine Privatklinik für Nervenkranke eingerichtet, die sich trotz ihres kurzen Bestehens eines bedeutenden Zuspruchs erfreut. Es ist mir auch gelungen, in der Person des Doktor Jung einen ausgezeichneten Assistenten zu gewinnen. Nicht ebenso glücklich war ich bei der Wahl einer Oberin, welche dem wichtigen Hauswesen vorstehen und das zahlreiche Wärterpersonal beaufsichtigen soll. Die letztere hat sich grobe Vernachlässigungen und selbst Veruntreuungen zu Schulden, kommen lassen. Ich habe mich deshalb genöthigt gesehen, sie vor einigen Tagen fortzuschicken. Die Stelle ist noch nicht wieder besetzt, und ich kenne niemand, dem ich sie lieber anvertrauen möchte, als Ihnen.«
»Sie sind sehr gütig,« versetzte Hedwig verlegen. »Ich fürchte nur, daß ich einer so schwierigen Aufgabe nicht gewachsen bin und daß Sie meine Fähigkeiten überschätzen.«
»Deshalb bin ich ganz unbesorgt. Ich hatte ja hinlängliche Gelegenheit, Sie am Krankenbett Ihrer verstorbenen Mutter auch in dieser Hinsicht kennen zu lernen und Sie genauer zu beobachten. Sie besitzen die nöthige Ruhe, Geduld und Zuverlässigkeit, alle erforderlichen Eigenschaften, so daß ich nach meiner Ueberzeugung keine bessere Wahl zu treffen vermag.«
»Eine solche Stelle verlangt aber, wie ich glaube, außerdem einige medizinische Kenntnisse und Uebung in der Krankenpflege, welche mir leider abgehen.«
»Dem läßt sich leicht abhelfen. Bei Ihrer Intelligenz und Ihrem mir bekannten Fleiß können Sie schnell das Erforderliche mit Hilfe eines guten Lehrbuchs und besonders durch die Praxis sich aneignen. Ich selbst und auch Herr Doktor Jung werden Ihnen gern die nöthigen Anleitungen geben und Sie in allem Wissenswerthen unterrichten. Einige Wochen genügen dafür, und ich zweifle nicht daran, daß Sie in kurzer Zeit eine vorzügliche Oberin fein werden.«
In so freundlicher Weise suchte Haller alle ihre Einwendungen zu widerlegen und Hedwig zur Annahme seines wohlgemeinten Vorschlags zu überreden, trotzdem sie zu seiner Verwunderung immer neue Bedenken und Zweifel anführte, indem sie bald ihre Unfähigkeit, bald andere ähnliche Gründe vorschützte, um ihre unbegreifliche Weigerung zu rechtfertigen.
»Ich finde es natürlich,« sagte er, noch stärker in sie dringend, »daß Sie vor den schweren Pflichten und der großen Verantwortlichkeit einer solchen Stelle zurückschrecken, aber ich rechnete dabei auch auf Ihre nur bekannte Hingebung und Opferfreudigkeit. Nächst der Kindererziehung ist die Krankenpflege der heiligste Beruf der Frau, und ihre schönste Aufgabe muß es fein, Schmerzen zu stillen, Leiden zu lindern 'und Barmherzigkeit zu üben. Darum gebe ich auch nicht die Hoffnung auf, daß Sie Ihre allzu große Bescheidenheit und Gewissenhaftigkeit überwinden und das Ihnen angebotene Amt übernehmen werden, mir zur Beruhigung und zum Segen für meine armen Kranken.«
Diesem Anruf ihrer Menschenliebe und dem Gedanken, Haller selbst einen Dienst zu erweisen, vermochte Hedwig nicht länger zu widerstehen, so schwer es ihr auch zu fallen schien, seinen Wunsch zu erfüllen und die ebenso ehrenvolle wie einträgliche Stelle einer Oberin in seiner Klinik anzunehmen.