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XXI.

Die Mörderschlange von Luvercy.

Während Mareuil mit der Hand in dem Safe herumtastete, suchte er Gilberte zu beruhigen, und forderte sie auf, näherzutreten.

»Die Mörderschlange von Luvercy ist tot«, sagte er. »Sie können ungescheut kommen!«

Unwillkürlich blickte das junge Mädchen nach der grauenhaften Leiche hin, über die Aubry, ohne sich wegen des Panzerschrankes aufzuregen, pietätvoll einen leichten Teppich gebreitet hatte. Dann schaute sie aber gleich wieder auf die gähnende Öffnung des Safes, aus der die Hand ihres Verlobten das Geheimnis des verschlossenen Zimmers herausnehmen würde.

Zuerst holte Mareuil eine winzige Phiole aus gelbem Glas an das Tageslicht hervor, die er auf dem Schrank abstellte. Als zweites entnahm er eine kleine, unscheinbare, elektrische Läutbirne von weißlackiertem Holz.

Er hielt sie vorsichtig zwischen den Fingerspitzen und sagte zu Gilberte: »Dies hier mag Ihnen nunmehr wieder Ihre volle Ruhe geben. Es ist eine Viper, die ich Ihnen weder tot noch lebendig bringen konnte, wie ich es mir geschworen hatte.«

»Wie? ...« fragte sie erstaunt.

»Sehen Sie, Gilberte«, meinte Jean Mareuil. »Als Sie eben den Stich bemerkten, der den Tod Ihrer Tante im Gefolge hatte, riefen Sie aus: ›Wie Mama!‹ Nun, denselben Ausruf taten Sie neulich in Luvercy, als Sie sich an dem Rosendorn ritzten. Genau wie Sie und wie die Gräfin wurde auch Ihre Mutter an der innern Seite des Daumens gestochen, und zwar der linken Hand, die sie vornehmlich benutzte.

Diese Entdeckung rückte das Geheimnis plötzlich in das hellste Licht. In diesem Moment wurde es mir klar, daß keine Viper sich in das Schlafzimmer Ihrer armen Mama eingeschlichen hatte. Als Ihre Tante den ganzen Tag bei der schlafenden oder im Halbschlaf ruhenden Kranken verbracht hatte, tauschte sie am Abend des 19. August die Läutbirne, die sich für gewöhnlich an dünnem Draht bei dem Bett Ihrer Mutter befand, mit einer andern aus, die, der wirklichen vollkommen gleich im Äußeren, in ihrem Innern aber das Mordwerkzeug barg, mit einer Birne, die nicht läutete, mit einer Birne, die eine künstliche Viper darstellte.

Ich war dessen bereits sicher, als wir seinerzeit in Luvercy waren, und in der folgenden Nacht fand ich die Bestätigung, denn die über dem Bett der verstorbenen Frau Guy Laval hängende Birne war flüchtig und anscheinend in großer Eile anmontiert worden. Die andere Birne, jene, welche in der Todesnacht am Bett der Ermordeten hing, ist diese hier!

Bitte näherzutreten, ich werde Ihnen den Mechanismus zeigen.

Hier im Mittelpunkt des Druckknopfes befindet sich ein kleines Loch, die Austrittsöffnung eines Kanals, in welchem eine sehr scharfe und spitze Hohlnadel wie von einer Injektionsspritze verborgen ist. Diese Hohlnadel drückt, wie Sie sehen, auf einen kleinen Gummibeutel, den man mit irgendeiner Flüssigkeit, sagen wir mit irgendeinem Gift, füllen kann. Drückt man nun auf den Knopf, preßt dieser den Gummibeutel zusammen, und das Gift schießt durch die Hohlnadel hervor und dringt durch den Stich der Nadel mit dieser in den Daumen der betreffenden Person ein, die auf den Knopf drückt. Ist das Gift ein furchtbares und sofort tötendes, sinkt der Gestochene lautlos und auf der Stelle entseelt nieder. Und am andern Morgen hat man lediglich die falsche Birne, dieses höllische Mordwerkzeug, mit der echten Läutbirne wieder auszutauschen.

Die Gräfin Prase wußte, daß ihre Schwester jede Nacht der Kammerjungfer zu läuten pflegte. Sie wußte auch, daß das Gift der Natter noch nicht analysiert worden war und sofort tödlich wirkte wie manch andere Gifte, die man sich für Geld beschaffen kann. Die Viper gehörte einer völlig unbekannten Schlangengattung aus dem Innern von Afrika an. In dem Moment, wo die Viper verschwand, war auch ihr Gift nicht mehr analysierbar. Die Gräfin Prase hing in heißer Liebe an ihrem Sohn. Sie wollte daher ihren Schwager Guy Laval heiraten, um für ihren Sohn in den Besitz des Lavalschen Vermögens zu gelangen ...«

Ein Aufschluchzen unterbrach Mareuils Worte. Das Gesicht in den Händen vergraben, lag Lionel auf den Knien und weinte bitterlich.

Mareuil fuhr fort:

»Diese Glasphiole enthält ein Gift, das wir morgen zur Untersuchung in das städtische Laboratorium schicken werden. Aber wir könnten auch gleich ... Freddy, bitte öffne doch den Herren! ...«

Entsetzt hob Lionel den Kopf. Mareuil beruhigte ihn.

»Es ist nicht die Polizei. Ich habe nur vorsichtshalber einige Zeugen geladen. Meinem Dafürhalten soll sich die Justiz in diese Angelegenheit kaum mischen.«

»Danke!« stammelte Lionel. »Verzeihe auch du, Gilberte, meiner armen Mutter im Namen der Deinigen.«

»Verzeihen Sie ihr auch in Ihrem eigenen Namen!« erklärte Mareuil. »Denn es muß alles gesagt werden. Die Gräfin lag Ihnen nur deshalb so in den Ohren, nach Luvercy zurückzukehren, mindestens eine Nacht dort zu verbringen, und zwar im Schlafzimmer Ihrer verstorbenen Mutter, um ...«

»Mein Gott!« stöhnte Lionel.

»Jean, was Sie da andeuten, was Sie da sagen wollen, ist ja entsetzlich!« rief Gilberte.

»Und doch ist es so, Gilberte. Hätten Sie den Wunsch Ihrer Tante erfüllt, würde man Sie am andern Morgen tot aufgefunden haben, gestochen von der Schlange von Luvercy, deren Kadaver man nicht hatte finden können, von der Viper mit dem einen Giftzahn, die damit bewiesen hätte, daß sie noch immer lebe. Und die Gräfin Prase würde Sie beerbt haben und aller Sorge ledig gewesen sein wegen Rechnungslegung in ihrer vormundschaftlichen Geschäftsgebarung. Begreifen Sie jetzt, warum dieser Jean Mareuil alle Hebel in Bewegung setzte, um Sie von Luvercy fernzuhalten, und Ihre Angst noch unterstützte? Fassen Sie nun die Größe meines Schreckens, als ich Sie damals im Park aufschreien hörte und Sie neben dem Rosenstrauch und allein mit Ihrer Tante, in den Daumen gestochen, ohnmächtig niedersinken sah? Denn der Plan Ihrer Tante war, Sie aus dem Weg zu räumen, falls es ihr mißglückt wäre, mich, den ›Freddy-Mareuil‹ als Einbrecher vor Ihren Augen zu entlarven. Und aus diesem Grund hieß es, den Verlauf der Ereignisse beschleunigen, da ja auch die Gräfin von der Zeit vorwärtsgestachelt wurde. Deshalb mußte der Manet möglichst rasch gestohlen werden. Deshalb – doch die Herren sind da!«

Unter der Wucht des namenlosen Schmerzes, den die Enthüllung der Wahrheit in Gilbertes Herz auslöste, brach sie in einen Strom von Tränen aus, während Lionel wie vom Donner gerührt dastand und Aubry sie von der Seite anschielte, grimmig, mißgünstig ob ihrer Unschuld.

Die drei neu Ankommenden waren ein Greis, ein eleganter Herr und ein junger Mann. Schweigend hielten sie an der Tür. Hinter ihnen erblickte man Freddy und ein schönes Weib mit hochaufgestecktem Schwarzhaar, das schillernde Kämme schmückten: Java.

Mit fetter Stimme entschuldigte sich der Apache, auf seine Geliebte zeigend.

»Sie wollte mit ... ist mir gefolgt. Die Herren wiesen sie am Gitter zurück. Als sie sah, daß ich mein Handwerkszeug an mich nahm, dachte sie, es sei Ernst ... Wart' auf mich vor dem Tor, Java. Du siehst ja, daß ich mit diesen Herren zusammen arbeite. Der Rest geht dich nichts an.«

Den Hut in der Hand, musterten der Polizeipräfekt, Herr Feuillard und sein Bureauangestellter Fourcade mit ernster Miene die Anwesenden und ihre Umgebung.

Beim Ansichtigwerden des Polizeipräfekten huschte der Ausdruck des Schreckens über Lionels Züge. Aber Mareuil beruhigte ihn.

»Nichts Offizielles«, sagte er. »Nur drei Freunde, drei Zeugen, wie erwähnt. Den Herrn Notar kennen Sie ja, Graf? Und dieser Herr ist Fourcade, einer seiner – und meiner Mitarbeiter.

Meine Herren, wie ich es vorausgesehen, so war es. Die imitierte Läutbirne, das Mordinstrument, befand sich in dem Panzerschrank, dessen Schlüssel die Gräfin stets bei sich trug. Die Gräfin hat sich selbst gerichtet!« – Damit deutete er auf die düstere, menschliche Form, die sich unter der improvisierten Leichendecke abzeichnete, – »Dort, Herr Aubry, gesteht den Tatbestand ein, nicht wahr?«

Da der Hausbesorger sah, daß man ihn keiner Schuld zieh, begann er frei von der Leber weg zu sprechen.

»So ist es, Herr Mareuil. Ich erhielt von der seligen Frau Gräfin den Befehl, die Viper aus der Orangerie zu holen und sie umzubringen und in die Kiste ein Loch zu machen, um eine Selbstbefreiung der Schlange vorzutäuschen. Als ich am andern Morgen von dem in der Nacht erfolgten Ableben der Frau Guy Laval erfuhr, war ich entsetzt und begriff sofort, daß ich, ohne es zu wissen, der Mitschuldige an einem begangenen Verbrechen geworden war. Ich drang in die Frau Gräfin, mir reinem Wein einzuschenken, und die Frau Gräfin mußte mir die Wahrheit beichten. Sie war es, die das Mordwerkzeug fabrizierte, indem sie eine alte Reserveklingel, die sich im Speicher befand, dazu herrichtete. Eine Injektionsnadel und der kleine Gummiballon eines Parfümzerstäubers waren ihr hierbei dienlich. Während Frau Guy Laval schlief, hatte die Frau Gräfin die Läutbirnen ausgetauscht. Sie blieb ja stets bei der Kranken. Das ist alles, was ich weiß, meine Herren. Ich sagte damals nichts, weil ich die selige Frau Gräfin sehr liebte und weil doch alles für den Herrn Grafen geschah. Ich hatte keine Ahnung, daß die Frau Gräfin diese verdammte Läutbirne aufbewahrt hatte.«

Alles schwieg. Jean Mareuil und Freddy, die sich so ähnlich sahen, »der Herr der Gesellschaft« und der »Apache«, betrachteten mit ihren einander so gleichen und doch voneinander so verschiedenen Augen diesen merkwürdigen, verworfenen und getreuen Affenmenschen. Dann riß sich Mareuil aus seinen Gedanken los, trat zum offenen Panzerschrank und entnahm dem obersten Fach ein Bündel Briefe. Forschend blickte er Lionel an.

»Geben Sie diese Briefe getrost Gilberte«, sagte der Graf. »Sie beweisen nur, mit welch ungeheuren Beweisen von Güte ihre Mutter mich überschüttete. Sie enthalten lediglich gute Lehren und mütterliche Ratschläge, die ich leider nicht befolgte.«

»Dann behalten Sie die Briefe, Graf!« erwiderte Mareuil. »Denn von nun ab werden Sie dieselben befolgen. Dessen bin ich sicher.«

»Das schwöre ich!« erklärte Lionel mit bebendem Munde.

Gilberte zog den Schlüssel aus dem Schloß des Safes und überreichte ihn, wehmütig lächelnd und Tränen der Dankbarkeit und Liebe in den Augen, ihrem Verlobten mit den Worten: »Nehmen Sie ihn zum Andenken und ...«

»Nein, Gilberte, nein! Der Schlüssel, den ich diesmal mir gewann, ist nicht einer, den ich in der Hand wiegen kann. Und doch existiert er, aber im Reiche der unsichtbaren und unschätzbaren Dinge. Er existiert, und ich halte ihn bereits mit meinen Händen, indem ich dich, Geliebte, Süße, an mein Herz drücke!« Und er umfing mit starken Armen die bebende Mädchengestalt. »Dieser Schlüssel«, flüsterte er ihr ins Ohr, »ist der Schlüssel des Glückes!«


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