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XIX.

Die Falle.

Pauillacs, bei denen Mareuil und Gilberte sich zuerst kennen und lieben lernten, gaben heute eine glänzende Bühnensoiree in ihrem Palais der Avenue Kléber, und noch nie erschien ihr Mareuil liebenswerter wie gerade an diesem heutigen Abend. Strahlend vor Glück, Jugend und Schönheit, entzückten die Verlobten alle Anwesenden während der langen Zwischenakte und ernteten Triumphe, deren Erinnerung oft ein ganzes Leben mit zartem Dufte erfüllt. Die Blicke aller waren auf das reizende Pärchen gerichtet.

Diese Art von Abendunterhaltungen erstrecken sich niemals bis tief in die Nacht hinein. Es war daher noch nicht ein Uhr, als man sich verabschiedete.

Mareuils feine schwarzweiße Silhouette hob sich vom Hintergrund des Palaiseinganges ab, als Gilberte und ihre Tante, beide in Seide und prächtige Sommerpelze gehüllt und geschmückt mit Perlen und kostbarem Geschmeide, ihr Luxusauto bestiegen; und als der Wagen zum Gitter hinausrollte, nahm auch er in seinem Kabriolett Platz und fuhr nach Hause.

Graf Lionel von Prase hatte die Soiree nicht mitbesucht.

In Neuilly angekommen, erklärte die Gräfin, gar kein Schlafbedürfnis zu empfinden. Sie installierte sich in dem Zimmer ihrer Nichte und begann lang und breit über alles mögliche zu reden. Die Jungfer wurde entlassen. Auf dem Rande von Gilbertes Bett sitzend, unterhielt sich die Gräfin mit staunenswerter Lebhaftigkeit. Geduldig wartete das junge Mädchen, ob ihre Tante sich nicht bald empfehlen würde. Doch obwohl es immer später wurde und bereits alles im Palais schlief, hörte die alte Dame nicht auf, antiquierte Erinnerungen auszugraben und über tausend nichtige Dinge zu reden.

Dies kam allgemach Gilberte sonderbar vor. Plötzlich vernahm man von der Avenue her das dumpfe Brummen eines Motors, und vor dem Palais ertönten gleich darauf drei kurze Hupensignale, und das Auto schien unweit des Hauses zu stoppen.

Gilberte blickte ihre Tante erstaunt an. Diese teilte jedoch nicht die Überraschung des jungen Mädchens, setzte vielmehr eine tiefernste Miene auf und erhob sich bewegt. Kerzengerade in ihrer schwarzseidenen, silbergestrickten Spirétoilette sich vor Gilberte aufpflanzend, sagte sie ihr mit hohler Grabesstimme: »Verzeihe mir, Gilberte, mein liebes Kind, den Kummer, den ich dir bereiten werde. Sei eines furchtbaren Seelenschmerzes gewärtig!«

»Um Gotteswillen, Tante!« schrie Gilberte außer sich. »Was gibt es denn?!«

Die Gräfin drehte das elektrische Licht ab.

»Sag, Tante, was ist geschehen?! Mein Gott, mein Gott!«

Die Gräfin zog die Fenstervorhänge des verdunkelten Zimmers zurück. Durch die Fächer der Jalousien fiel schräg der dünne Strahl des Mondes in den Raum.

Fast ohnmächtig vor Angst und hochklopfenden Herzens, fühlte Gilberte, wie zwei Arme sie zärtlich umfingen.

»Armes Herzchen, nun heißt es, großen Mut aufbringen. Jener, den du liebst, ist deiner nicht würdig.«

Ein Schrei der Auflehnung, ein furchtbares Aufschluchzen ward ihr zur Antwort.

»Nein, Gilberte, er ist nicht der, für den du ihn hieltest.«

»So rede doch, Tante! Das ist ja entsetzlich!«

»Du selbst sollst dir darüber Rechenschaft ablegen. Komm!«

Verzweifelt, am Ende schier ihrer Kraft, stammelte Gilberte wie eine zum Tode Verurteilte. »Wo? ... Warum? ... Was soll das alles bedeuten? ...«

»Bald wirst du es erfahren, arme Kleine. Beruhige dich, bitte, wenn du mich nur ein klein wenig gern hast.«

»Ich hörte das Gitter schließen. Wer ist da?«

Die Gräfin trat an das Fenster und schaute durch die Jalousien.

»Lionel kommt nach Hause. Komm mit mir, Gilberte. Und was auch immer geschehen mag – keinen Ton, kein Wort! Verstanden?

»Mein Gott, mein Gott«, jammerte das junge Mädchen, schwankend und wie von Fieber geschüttelt. »Jean, himmlischer Vater, was hat er denn angestellt, der arme Jean? ... Ich hab ihn allerdings manchmal recht merkwürdig gefunden ... aber, schließlich ... Jean, ach, Jean! ...«

Sie stiegen die Treppe hinab. Die Gräfin stützte ihre Nichte, grausam und berechnend schweigend.

Der Mond beleuchtete mit blauem Schein die Halle. Die Tür des Arbeitskabinetts stand offen. Im Hintergrund des Zimmers bemerkte man ein Fenster, dessen Läden und Vorhänge nicht geschlossen worden waren.

Gegen die helle Glastür des Entrees hob sich wie ein riesiger Schatten Lionels Silhouette ab. Alles andere war in tiefste Finsternis getaucht.

Lionel drehte den Kopf und machte den Damen ein Zeichen, zu folgen.

Mehr tot als lebendig schritt Gilberte mit ihrer Tante, die fest die Hand des jungen Mädchens in ihrer Rechten hielt.

Eine spanische Wand stand, nicht zufällig, da. Lionel schob sie vor die Glastür, doch nur gerade so viel, um Gilberte dahinter zu verbergen, und so, daß sie durch einen Ausschnitt, den man in dem Paravent angebracht hatte, blicken konnte.

Gilberte wähnte, ein böser Alp nehme sie gefangen. Sie sah den im Mondschein erstrahlenden Hof, das weiß schimmernde Pflaster, das schwarze Gitter.

Die Gräfin hielt in ihren glühenden Händen Gilbertes eisige Rechte.

»Was werdet ihr mir zeigen?« hauchte das junge Mädchen. »Habt Erbarmen mit mir! ... ach ...«

»Still, Gilberte! Beruhige dich, Herzchen. Hab ein wenig Geduld, und vor allem gib keinen Ton von dir!«

»Ihr spannt mich auf die Folter! ... Ihr martert mich!« jammerte die Kleine schmerzlichst klagend.

»Schau hin!« raunte ihr die Gräfin barsch zu.

Totenstille trat ein.

Ein menschlicher Schatten überkletterte das Gitter.

Gilberte hielt den Atem an. Lionel und seine Mutter hüllten sich in Finsternis und Schweigen.

Nun sah man den nächtlichen Gast, auf dem Rücken irgend etwas tragend, sich leichten, geschmeidigen und flinken Schrittes nähern. Lautlos traten seine Sohlen auf. Wie eine Traumgestalt glitt er längs der Mauer im Schatten dahin.

Gilberte fühlte sich nach rückwärts gezogen. Sie trat zurück. Der Paravent folgte ihr, ohne daß sie wußte wie.

Mit unbegreiflicher Plötzlichkeit stand der Mann in der Halle. Die Glastür zu öffnen, war für ihn nur ein Kinderspiel gewesen. Von der Mondscheibe beleuchtet, konnte man jetzt seine schlanke Gestalt und die Umrisse seines feinen Profils deutlich erkennen.

Gilberte zuckte zusammen. Eine schwere Hand legte sich auf ihren Mund. Sie begriff, daß Lionel sie bewachte.

Mit metallischem Ton blitzte ein blendendes »Auge« auf. Der Mann hatte seine elektrische Lampe angeknipst. Sie beleuchtete nun die Möbel, Mauern, Portieren und eine spanische Wand.

Fast sofort erlosch wieder der Lichtkegel, nachdem er die Tür zu dem Arbeitszimmer gefunden hatte.

Der Mann verschwand in dem Zimmer, und Gilberte setzte sich, dem Drucke eines männlichen Armes folgend, mechanisch in Bewegung.

Rechts und links untergefaßt, fast getragen, erreichte sie die Schwelle des Arbeitskabinetts. Der Teppich erstickte die Schritte.

Nun erschien eine zweite nächtliche Gestalt in der Halle. Entsetzt erkannte Gilberte an der massigen Figur mit den langen Affenarmen den ihr so greulichen Aubry und erriet alsdann dessen stumme Gegenwart in ihrem Rücken.

Noch immer wurde sie vorwärtsgeschoben, um dann im Rahmen der Tür zu dem Arbeitszimmer festgehalten zu werden.

Sie sah, wie der Einbrecher das Kabinett betrat. Wie eine chinesische Schattenzeichnung hob er sich, die Apachenmütze auf dem Kopf und das aufgeknöpfte Hemd auf der Brust, von dem hellen Fensterstock ab. Wiederum wollte Gilberte aufschreien, doch eine Hand erstickte ihr den Ruf, noch ehe er über ihre Lippen kam.

Nun tauchte in der grellen Beleuchtung der wieder in Tätigkeit gesetzten Taschenlampe der Panzerschrank auf, und blieb beleuchtet, denn der Dieb setzte die Lampe auf der Erde ab.

Dann legte die menschliche Gestalt – die elegante, geliebte Gestalt – ein Bund Werkzeuge auf dem Teppich nieder. Ein Sauerstoffgebläse kam hinzu. Der Einbrecher Jean Mareuil, der Geldschrankknacker Jean Mareuil, richtete seine Utensilien her. Es konnte keinen scheußlicheren Anblick geben als den, wie er mit verworfenem Grinsen und dem harten Blick einer gemeinen Bestie an sein Werk ging.

Mit geschickten Fingern packte er den Schränkerapparat. Ein Zündhölzchen flammte auf. Sein Gesicht wurde voll sichtbar. Mit magischem Schein schoß eine Stichflamme aus dem Gebläse hervor. Mit voller Gemütsruhe regelte Jean Mareuil den Feuerstrahl, wie es der ehrsame Arbeiter in der Fabrik zu tun pflegt.

Und Gilberte sah das.

Sie empfand einen Schmerz, von dem es keine Gesundung mehr gibt.

Von Seelenqual zerpeinigt, mitten herausgerissen aus einem Meer von Glück, unvorbereitet Augenzeuge eines Schrecklichen, das ihr Auge fast erblinden ließ, hatte sie die Grenze dessen erreicht, was ein Mensch ertragen und leiden kann. Ihr Geist und ihr Körper bäumten sich auf. Sie wollte vorstürzen, schreien, aber mit eiserner Gewalt wurde sie zurückgehalten, und Lionels Hand preßte sich, wie schon wiederholt, auf ihren Mund.

Doch mit aller Kraft riß sie die Hand von den Lippen und machte sich frei.

Wie der Blutstrom aus tödlicher Wunde brach ihn Schmerzgeschrei hervor, ein Schrei der Verzweiflung, ein Notruf, ein schriller Alarm: »Jean!«

Mit jähem Satz war der Einbrecher in die Höhe gefahren. Aber von irgendwoher aus der Halle ertönte eine helle schmetternde Stimme, eine heißgeliebte Stimme, eine triumphierende Antwort: »Hier!«

Und wie mit einem Zauberschlag erstrahlte plötzlich alles in hellstem Licht. Der Einbrecher selbst hatte im Arbeitszimmer das elektrische Licht angedreht und blickte wie die andern auf den Mann, der sich so wunderbar angemeldet hatte, auf Jean Mareuil – auf Jean Mareuil, der im Frack, die weiße Nelke im Knopfloch, lachenden Antlitzes und leuchtenden, frohen Auges eintrat.

Nun trat einer jener lähmenden Zeitmomente ein, wo man vermeint, das Vöglein »Kreideweiß« picke an die Scheiben, der Engel des Schweigens und Entsetzens schwebe durch den Raum, wo alles stillzustehen scheint, Zeit, Atem und Herzschlag. Zwei Sekunden lang versagten Hirn und Verstand den Dienst.

Die verstörten Blicke der Gräfin und ihres Sohnes, Aubrys und Gilbertes richteten sich auf den Einbrecher.

»Meine Herrschaften,« sagte er, an die Mütze langend, »ich wünsche Ihnen einen recht guten Morgen!« – Er schien ein maskierter Jean Mareuil zu sein; die Säcke unter den Augen, die drohenden Furchen seines Antlitzes waren vielleicht nur Schminke?

Die Damen schauten bald den Einbrecher, bald Mareuil an, und nun erkannten sie auch die Unterschiede in ihren Gesichtern. Die Ungewißheit wich. Hier lag lediglich eine – wenn auch frappante – Ähnlichkeit der Züge vor, nichts anderes.

Schon lag Gilberte ihrem Verlobten in den Armem und schmiegte ihr Haupt an seine weiße Hemdenbrust, während Lionel vortrat and Mareuil zornig fragte: »Wer ist der Kerl?!«

»Léon Bescard, genannt ›Freddy, die Natter‹«, gab Mareuil klipp und klar und voller Ironie zur Antwort. »Freddy sieht mir ähnlich, als seien wir Brüder, namentlich in der Nacht, und wenn man uns nicht nebeneinander sieht. Das ist alles« – und Gilberte sanft zur Seite schiebend, betrat er das Arbeitskabinett. Doch jede Spur von heiterer Laune war aus seinem Antlitz gewichen. Seine Miene hatte etwas Herrisches an sich, das man an ihm sonst nicht kannte.

»Nun, Freddy, auf was wartest du, um den Geldschrank zu öffnen?« fragte er. »Wir haben dich in deiner Arbeit unterbrochen. Setze sie fort, mein Freund!«

Noch immer stieß das Lötrohr seinen heißen feurigen Atem aus, züngelte die Stichflamme des Gebläses gierig und angriffslustig gegen die Wände des Panzerschrankes hin. Wortlos kniete Freddy nieder und packte den Apparat.

Keuchend, außer sich, schrie die Gräfin: »Halt! ... aufhören! Das ist zuviel!«

Gequält, taumelnd stand sie da.

»Dann bitte ich um den Schlüssel«, erklärte Mareuil. »Um den Schrankschlüssel, den Sie immer bei sich tragen.«

»Wozu? Wir sagten Ihnen nicht die Wahrheit, Lionel und ich. Der Geldschrank enthält nur auf Namen ausgestellte Papiere ... ich will es Ihnen jetzt gestehen.«

»Ich weiß das ohnehin, Gräfin. Sie sind viel zu vorsichtig, als daß es anders sein könnte. Aber öffnen Sie immerhin. Vielleicht selber, es wäre einfacher. Nicht die Wertpapiere, die der Schrank enthält, sind es, die mich interessieren.«

»Ich werde den Safe nicht öffnen!« erwiderte die Gräfin mit fester Stimme, aber bleich bis in die Haarwurzeln und die Rechte auf die Brust drückend, den Versteck des Schlüssels damit verratend. »Der Safe birgt Briefschaften ... Briefe, über die zu verfügen ich kein Recht habe, denn sie gehören nicht mir.«

»Ah! Kompromittierende Briefe, nicht wahr? ... An wen? ...«

»An mich!« erklärte Lionel barsch. »Und ich denke wohl, Sie wissen, wer mir einst diese Briefe schrieb.«

»Ich bitte, Gräfin, öffnen Sie den Schrank!«

»Nein!« – Ihr ganzer Körper bäumte sich voller Energie auf. Sie hatte ihr ruhiges Blut wiedergewonnen.

»Freddy, das Gebläse!« befahl Mareuil.

Spöttisch und offensichtlich sehr belustigt von der Szene, dessen Augen- und Ohrenzeuge er war, wischte »Freddy, die Natter« mit einem angefeuchteten Schwamm über die Panzertür des Geldschranks.

Lionel kritzelte in aller Eile ein paar Worte auf einen Zettel und reichte ihn Mareuil, ohne aber das Blatt Papier aus der Hand zu lassen.

»Obwohl die Briefe das Andenken Frau Lavals in keiner Weise kompromittieren, glaube ich doch, daß Gilberte nicht gern von dem Inhalt Kenntnis haben möchte. Meine Tante wollte mich nur auf den rechten Weg zurückbringen. Aber das Geheimnisvolle, mit dem sie dieses gute Werk umgab, läßt die Möglichkeit auch anderer Deutung zu, die herauszuschälen ganz in meiner Macht steht. Lassen Sie Schrank und Briefe stehen. Andernfalls wird Gilberte jetzt erfahren, daß ihre Mutter in geheimem Briefwechsel mit mir stand, und gerade das wollten Sie doch vermeiden, indem Sie sich in den Besitz der Briefe setzen. Nehmen Sie die Briefe, um so schlimmer für Gilberte. Ich werde Sie zwingen, ihr die Briefe vorzulegen und die Briefe nach meinem Dafürhalten kommentieren.«

Mareuil las den Zettel durch, überlegte einen Moment, blickte der Reihe nach Lionel, dessen Mutter, Gilberte und Aubry an, der sich im zweiten Treffen hielt, und sagte dann zu Freddy: »Warte noch ein wenig, Freddy! ... Gräfin, bitte öffnen Sie den Safe!«

»Das werden wir sehen.«

»Sie werden ihn öffnen. Und Sie, Graf Prase, werden das Geheimnis der Briefe nicht verraten. Fünf, höchstens zehn Minuten, – und ich werde Sie zu einem andern Standpunkt bekehren und Sie über Dinge unterrichten, an die Sie anscheinend alle zwei nicht im entferntesten denken, auch nicht der Affenmensch da drüben, der sich so diskret im Hintergrunde hält ... Aubry, nicht?

Hören Sie zu, es handelt sich um eine weit ernstere Sache, als Sie ahnen!«


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