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VI.

Das Geheimnis der Avenue du Bois.

Vier Wochen früher wäre es nicht so leicht gewesen, das Palais, das Jean Mareuil in der Avenue du Bois de Boulogne bewohnte, auszuspionieren; jetzt aber, Ende April, war es ein Kinderspiel, denn alle Boskette der Hauptstraße hatten sich mit jungem, üppigem Blätterschmuck bedeckt.

Aubry hatte gerade gegenüber dem Eingangsgitter von Mareuils Palais ein dichtes, grünes Buschwerk ausgekundschaftet. Um zehn Uhr abends sollte Graf Lionel ihn hier im Dunkel dieses natürlichen Beobachtungsstandes treffen.

Mühelos gelang es ihnen, sich dort ungesehen aufzustellen. Trotz der Helligkeit, welche die elektrischen Bogenlampen verbreiteten, war das Unternehmen infolge der völligen Verlassenheit und Menschenleere der Umgebung leicht durchzuführen. Auf der Hauptverkehrsstraße flitzten zwar ab und zu einige Kraftwagen vorüber, aber die kleine Seitenavenue, die sich zwischen den Häusern und dem Saum der Boskette hinzieht, lag öde und verlassen da.

»So ein Geschäft!« knurrte Lionel.

Stumm legte Aubry den Finger an die Lippen.

Ihr Späherdienst begann.

Das Palais war dreistöckig. Still, die Fenster verdunkelt, erhob es sich jenseits der Straße. Nur zwei Fenster nach der Parkseite hin waren erleuchtet. Jenseits des Gitters erblickte man die Äste uralter Bäume gen Himmel aufragen, und dazwischen schimmerten von der in Finsternis getauchten Fassade des Palais aus einzelne Lichtstreifen, die durch die Ritzen niedergelassener Jalousien hervorstrahlten.

Es war Mareuils Arbeitskabinett. Aber das interessierte weder Lionel noch Aubry; denn sie lagen hier nicht auf der Lauer, um Mareuil auszuspionieren, sondern um festzustellen, ob nicht während der Nacht jemand – ein weibliches Wesen? – das Palais betrete, natürlich im Einverständnis mit Mareuil, wenn dieser auch mit Gilberte Laval so gut wie verlobt war.

Lionel beobachtete die wenigen Passanten, die in der Ferne erschienen und wieder verschwanden, und konnte nicht umhin, in seinem Innern die Idee seiner Mutter spöttisch und abfällig zu glossieren. Jetzt, da er hinter der Gesträuchmaske dem friedlich und in tiefstes Schweigen gehüllten Palais mit seinen spärlichen Lichtreflexen, die von geregelter Arbeit Kunde gaben, gegenüberstand, erschien ihm der Verdacht der Gräfin mehr denn je als ein Auswuchs ihrer überreizten Phantasie, wovon sie ihm ja übrigens selbst heute einen Beweis gegeben hatte. Überhaupt, war es nicht lächerlich, hier in Gesellschaft eines Hausmeisters auf Posten zu stehen, um jemand zu überraschen, der gar nicht kommen würde, der gar nicht existierte!

Lionels schlechte Laune steigerte sich nach und nach zu zorniger Gereiztheit.

»Einmal und nie wieder!« brummte er.

Die Zeit verstrich. Es war so still, daß man eine Uhr des Palais jede Viertelstunde schlagen hören konnte.

Elf.

»Erst!« gähnte Lionel.

Die Passanten zerstreuten sich mehr und mehr. Einzelne Autos noch rollten in der Richtung nach Paris vorüber. Man spürte ordentlich, wie sich im Schutz der Dunkelheit der geheimnisvolle Schleier der Einsamkeit über den Park ausbreitete und der geisterhafte Waldhauch von Boskett zu Boskett bis zum »Stern« und zur Bannmeile der Stadt hinstrich.

Von Langweile gefoltert und von Zorn erfüllt, streckte sich Lionel auf der Erde aus.

Da berührte ihn Aubry an der Schulter und machte ihm ein Zeichen. Aber nirgends war ein menschliches Wesen zu sehen.

»Was gibt's?« fragte Lionel.

Er sah, wie der Hausmeister den Kopf durch das Blätterwerk steckte und horchte.

Auch Lionel spitzte die Ohren.

Im Palais schlug es ein halb zwölf Uhr. Ein Kater begann sein klägliches Miauen.

Lautlos öffnete sich eine bis zur halben Höhe mit Eisenblech beschlagene Pforte des Gitters, das den Park des Palais umfriedete.

Stumm hob sich eine männliche Silhouette wie ein Schatten von der Gartenmauer ab.

Bestrebt, auch das leiseste Geräusch zu vermeiden, schloß der Mann wieder mit größter Vorsicht die Tür und blieb einen Augenblick lautlos stehen. Dann blickte er lauernd umher, lauschte noch einen Moment und steckte dann einen Schlüssel oder einen Dietrich in die Tasche. Hierauf schlich er an der Mauer entlang, ohne daß man den Laut seiner Schritte vernahm, und verschwand nach rechts, in der Richtung der Rue Spontini.

Lionel und Aubry konnten ihn mit Muße betrachten. Da er aber die Mütze tief in die Stirn gedrückt und den Rockkragen hochgeklappt hatte, vermochten sie sein Gesicht kaum zu erkennen. Seine Füße staken in Pantoffeln. Einen Überzieher trug er nicht. Die Arme an den Leib gepreßt, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben, schritt er hochschulterig und sich hin und her wiegend dahin wie ein auf nächtlichen Raub ausziehendes Raubtier.

Offenbar gehörte er nicht zur Dienerschaft des Palais, sondern war ein verdächtiges Subjekt, das mit dem Personal nichts zu tun hatte. Sein ganzes Äußeres und sein Gebaren zeigten es auf den ersten Blick. Einen Moment schoß sogar Lionel und Aubry der Gedanke durch den Kopf, daß der Apache vielleicht im Palais Jean Mareuils einen Diebstahl begangen haben könnte.

Lionel war sich nicht recht im klaren, ob er den Verbrecher ungestraft entkommen lassen sollte; dann kam es ihm plötzlich vor, als sei ihm das Benehmen, das Äußere oder irgend etwas anderes Hervorstechendes an diesem Galgenvogel nicht ganz unbekannt. Gerade der wiegend dahingleitende Gang des Mannes fiel ihm auf. Ohne diesen Gedanken weiterzuspinnen, fiel ihm dann ein, daß der Mensch vielleicht gar kein Einbrecher sein mochte, sondern im Geheimdienst Jean Mareuils stehen könnte, einer jener Leute, die man sich für vertrauliche Aufträge aus der Gaunerwelt aussucht. Warum sollte Jean Mareuil nicht auch seinen »Aubry« haben!

Im gleichen Moment neigte sich der wirkliche Aubry zu Lionel und flüsterte dem Grafen ins Ohr: »Man muß dem Kerl nachgehen, Herr Graf! Ich übernehme das. Bleiben Sie bitte hier, um das Palais zu beobachten. Ich werde bald zurück sein und Ihnen Meldung erstatten.«

»Gut, gehen Sie!« nickte Lionel.

Inzwischen hatte der Apache die Ecke an der Rue Spontini erreicht, überschritt die menschenleere Avenue und ging nach der Rue Pergolese. Aubry pirschte sich im Schatten der Bäume vor. Lionel verlor ihn aus den Augen, sah ihn aber bald darauf gleichfalls die Avenue überqueren.

Tiefste Stille lagerte über dem Viertel. Auch aus dem Palais vernahm man keinen Ton. Noch immer drang der Schein der beiden erleuchteten Fenster nach außen und verbreitete einen fahlen Schimmer. Lionel verglich seine gegenwärtige Lage mit der Mareuils, der jetzt gemütlich an seinem Schreibtisch vor seinen Büchern saß und sich dem behaglichen Studium des Dandysmus von jenseits des Kanals hingab. Er machte eine unmutige Bewegung, die eine wundervolle Angorakatze, deren Augen in der Dunkelheit grünlich schillerten, stillstehen und sich zusammenducken ließ.

Eine halbe Stunde später gewahrte Lionel eine männliche Gestalt, die quer über die Wiese auf ihn zuschritt. Es war Aubry.

»Hol's der Fuchs!« sagte der Hausbesorger. »Ich hab' den Burschen verloren. Nirgends entdeckte ich jenseits der Avenue eine Spur von ihm. Sehr ärgerlich!«

»Was glauben Sie?« flüsterte Lionel. »War der Kerl ein Dieb oder ...«

»Was weiß man! Vielleicht ein Mörder, Herr Graf. Er sah übel aus.«

Lionel schwieg. Eine eigentümliche Besorgnis befiel ihn, doch scheute er sich aus Eigenliebe, sie in Worte zu kleiden. Der Apache trug keinen Pack mit sich. Wenn er etwas geraubt hatte, konnte es nur etwas leicht Versteckbares sein. Banknoten und Geschmeide nehmen allerdings wenig Platz in Anspruch, und es könnte jemand Hunderttausende von Franken bei sich haben, ohne daß man es ihm äußerlich anmerkte. Doch ob der Apache etwas gestohlen oder nicht, trat an Bedeutung hinter dem zurück, was er etwa während seines Verweilens in dem Palais begangen haben konnte. Angenommen, daß man am anderen Tag Herrn Mareuil, statt behaglich in seinem Arbeitskabinett sitzend, von einem unbekannten Täter ermordet auffinden würde? Konnte daraus nicht für Lionel und Aubry eine furchtbare Gefahr erwachsen, daß sie nachts hier in dem Gebüsch auf der Lauer gelegen, als hätten sie den günstigen Moment abwarten wollen, um in das Palais einzudringen? Der von Gras entblößte, unter ihren Füßen zusammengetrampelte Boden würde ihre längere Anwesenheit an dieser Stelle verraten. Auch wäre es unschwer, die Schuhe festzustellen, deren Sohlen die verräterischen Spuren unter den Bäumen hinterlassen hatten.

»Ach was,« sagte er sich dann, »Unsinn!«

Er tastete sich ab, ob er nicht irgend etwas verloren habe, das ihm am Ende einen Detektiv auf die Fährte hetzen könnte, und nahm sich vor, den Boden wieder in Ordnung zu bringen, ehe er das Gebüsch verlasse.

Gedämpften Schlages verkündete die Uhr im Palais den Ablauf der Stunden. Kein geheimnisvolles Wesen kam, um Jean Mareuils nächtliches Studium zu verschönen.

Übel gelaunt und abgespannt, beschlossen sie gegen vier Uhr früh, ihren Posten zu verlassen. Da vernahmen sie in der Ferne Hundegebell. Das Gekläff näherte sich, wurde wütender, angriffslustiger und verstummte dann jäh.

»Warten wir noch ein wenig!« meinte Aubry.

Sie warteten also und erblickten alsbald längs der Gebäude einen menschlichen Schatten einherschleichen. Im Scheine der Bogenlampen erkannten sie den Menschen, der um elf Uhr das Palais verlassen hatte. – »Schau, schau!« murmelte Aubry.

Der Mann näherte sich ihnen. Im Vertrauen auf die frühe Morgenstunde, in der ganz Paris in tiefem Schlaf lag, maskierte er sein Gesicht nicht mehr unter der Mütze und dem hochgeklappten Rockkragen. Mit jedem seiner wiegenden Schritte, die aber keineswegs einer gewissen kanaillenhaften Grazie entbehrten, wuchs seine Silhouette.

Die Blicke von vier scharf ausspähenden Augen bohrten sich durch das Blätterwerk des Gebüsches, um den Moment zu erhaschen, wo seine Gesichtszüge erkennbar wären. Dieser Moment kam zur nicht geringen Verblüffung Lionels und Aubrys; doch vermochten sie das Gesicht, nicht aber dessen Züge, zu unterscheiden.

Kein Zweifel, es war Jean Mareuil! Aber ein Jean Mareuil mit scheuen Blicken und gaunerhaften Allüren, ein Jean Mareuil, der in einem anderen, einem falschen Licht erschien.

Lionel und Aubry waren Zeugen seines verstohlenen Nachhausekommens. Sie sahen, wie das seltsame Individuum lautlos die Gittertür öffnete, die Schwelle überschritt, das kleine Tor wieder hinter sich schloß, und verschwand.

»Da hört doch alles auf!« entfuhr es Aubry.

Ein fahler Schein zog im Osten auf; der Boden verschluckte die nächtliche Finsternis. Noch immer waren die Fenster des Arbeitskabinetts droben erleuchtet. Jetzt öffnete sich das eine, die Jalousien wurden hochgezogen, und auf dem steinernen Vorbalkon erschien der Apache, eine Zigarette zwischen den Lippen. Er hielt sich nur einen Moment auf, zog dann seinen Rock aus und kehrte ins Zimmer zurück.

Wenige Augenblicke später trat der Apache, immer noch die brennende Zigarette im Munde, wieder heraus. Diesmal hatte er einen eleganten Schlafrock an, der seine schlanke Figur trefflich modellierte. Mit der vollendeten Geste des Klubmannes streifte er die Asche von seiner Zigarette, lehnte sich an die Mauer und blickte zu den verblassenden Sternen empor. Sein feines Profil umschmeichelte ein warmer Lichtstrahl. Das Häßliche von vorhin war aus seinem Antlitz getilgt. Jean Mareuil hatte sich wieder in Jean Mareuil verwandelt.

Nun zog er sich zurück. Das Licht erlosch.

Graf Lionel verließ mit seinem Begleiter das Versteck. Sie kamen sich wie vor den Kopf geschlagen vor. Wortlos schritten sie eine Strecke nebeneinander hin.

Aubry blieb stehen. »Halten zu Gnaden, Herr Graf, was soll das bedeuten?«

»Die Geschichte ist doch höchst einfach!« erwiderte Lionel mit unschönem, triumphierendem Lächeln.

»Höchst einfach?« ...

»Gewiß! Ein bekannter Vorgang! Man nennt das Verdoppelung der Person.«

»Ach so?« meinte Aubry ziemlich verständnislos.


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