Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX.

Die Bar.

Frau Gräfin Prase hatte mit ihrem Sohn verabredet, Mareuil zu Tisch zu bitten. Bei seiner Rückkehr aus dem »Bois« fand er die Einladung zu dem Souper am gleichen Abend daheim vor. Der Tag verging, ohne daß sich Bemerkenswertes ereignete, und ebenso ereignislos verlief das Souper. Es hatte nur den Zweck, dem Manne, den man verderben wollte, noch ein wenig genauer auf den Zahn zu fühlen.

Mareuil erschien in tadellos gebautem Smoking und war – abgesehen von seiner ihn kennzeichnenden zeitweisen Geistesabwesenheit – den ganzen Abend entzückend, liebenswürdig und heiter. Schwache Versuche von Seiten der Gräfin und ihres Sohnes, aus ihm etwas herauszubekommen, scheiterten restlos. Als zum Beispiel Lionel in dem gewissen Album zu blättern anfing, trat Mareuil nicht näher, um nochmals die Photographien der verstorbenen Frau Laval zu betrachten. Und als man das Gespräch auf das »zweite Ich« lenkte – im Odeon gab man wieder den »Staatsanwalt Hallers« –, bekundete Mareuil für dieses psychologische Problem ein nur ganz oberflächliches Interesse. Im Laufe einer Debatte über Kriminalität erklärte er, die Apachenwelt sei ihm völlig gleichgültig. Als dann schließlich die Stunde des Aufbruches schlug, schien er absolut nicht pressiert und verabschiedete sich erst um Mitternacht und unter Ausdrücken größten Bedauerns, ohne durch irgendein Zeichen von Unruhe zu verraten, daß er nun einem geheimnisvollen Rufe folgen mußte. Doch bedeutete dies alles nichts, wie Lionel aus der Lektüre der einschlägigen Werke wußte.

Der Graf begleitete Herrn Mareuil ein Stück Weges und empfahl sich dann, indem er bemerkte, er wolle dem »Caveau géorgien« noch einen Besuch abstatten.

Das sagte er aber nur, um den andern irrezuführen; denn kaum hatte sich hinter Mareuil die Tür seines Heimes geschlossen, schlüpfte auch schon Lionel in das Gebüsch auf seinen Späherposten.

Diesmal war er allein, denn Aubry lag befehlsgemäß auf der andern Seite der Avenue im Hinterhalt.

Gut versteckt im Schatten des Buschwerkes, beobachtete Aubry jenseits der Reitallee Lionels Stand, wo dieser ungesehen der Ereignisse harrte, die da kommen sollten. So war es ausgemacht worden.

Etwas nach ein Uhr morgens flammte in Lionels Boskett ein kleines Licht auf. Aubry verstand das Zeichen der elektrischen Taschenlampe des Grafen. Es bedeutete: Jean Mareuil verläßt das Haus.

Das Sternlein erlosch, um gleich darauf abermals zweimal aufzublinken. Signal: Mareuil schlägt den nämlichen Weg wie das letztemal ein.

Tatsächlich gewahrte auch Aubry eine menschliche Gestalt und pirschte sofort seinem Wilde nach. Der Apache schritt rasch und anscheinend nichtsahnend dahin. Er drehte nicht einmal den Kopf um. Falls die Verfolgung nicht allzulange dauerte, war sie leicht ins Werk zu setzen. Aubry, dessen Schuhe Gummisohlen hatten, machte sich auf, wobei er gar nicht versuchte, längs der Mauern hinzuschleichen. Denn es hätte Jean Mareuils Verdacht wachrufen können, falls er sich, durch irgendein Geräusch aufmerksam gemacht oder einem innern Gefühle nachgebend, umgedreht hätte.

Diesmal wickelte sich alles zur vollsten Zufriedenheit der Gräfin Prase und ihres Sohnes ab. Zwei Schutzleute kreuzten auf ihrem Patrouillengange zufällig Mareuils und seines Verfolgers Weg. Mareuil achtete nicht auf sie. Er blieb sogar stehen und zündete sich in der hohlen Hand eine Zigarette an. Durch die Avenue Malakoff gelangte er jetzt auf die Avenue de la Grande Armée, überschritt sie und begab sich nach dem Spielhöllenviertel, das dem Befestigungsgürtel angrenzt.

An der Ecke einer Sackgasse stand eine Weibsperson unter einer Laterne. Sie spähte in das Dunkel und ging dann leuchtenden Blickes Jean Mareuil entgegen.

Aubry drückte sich etwas zur Seite. Im Scheine der Straßenlampe hatte er Zeit gehabt, die charakteristischen Züge der Nachtschönen zu betrachten: ein hübsches, niedliches Vorstadtgesicht, das blauschwarze Haar mit funkelnden Straßkämmen und ihr einfaches, schwarzes Kleid mit roter Verbrämung.

Einen Augenblick schien das Paar in seiner stürmischen Liebesumschlingung nur ein einziges Wesen zu bilden. Dann trennte es sich wieder und ging zusammen weiter, indem die Frau ihren Arm um die Taille des Mannes legte.

»Famos, famos!« grinste Aubry. »Nur weiter so! Weiter so!«

Und das Gesicht zu einer lächelnden Fratze verzerrend, folgte er den Liebenden.

Unterwegs wälzte Aubry in seinem Hirn Gedanken, die ihn sehr verwirrten. – Lionel hatte ihm in großen Zügen das Geheimnis des »Doppelbewußtseins« erklärt. Der schlaue ehemalige Haushofmeister war ein pfiffiger Bursche; er hatte daher die Erklärung wohl begriffen und wußte vollkommen, mit wem er es zu tun hatte, wenn er Mareuil beobachtete, und nötigenfalls hätte er ohne Zaudern und Mißgriff gehandelt. Immerhin verfehlte das seltsame Abenteuer und Neuartige der Lage nicht, auf ihn einen gewissen Eindruck zu machen. Die Tatsache, daß er einem anormalen Menschen auf den Fersen sei, erfüllte ihn mit Unbehagen, mit vager Besorgnis. Hätte man ihn zur Verfolgung eines ganz neuen Wesens, zum Beispiel eines Mondbewohners, angesetzt, würde es auf seinen primitiven Verstand, der nichts von den Extravaganzen der Mutter Natur wußte, keinen stärkeren Eindruck als jetzt gemacht haben. Es ist daher verständlich, daß er mit dem Höchstmaß seines Könnens und seiner Kräfte seinem Beobachtungsdienst nachkam. Im Banne eines der unbegreiflichsten Mysterien, mißtraute er bis zur Übertreibung dem Manne, dem nachzuspüren man ihm befohlen hatte und der sich so gewaltig von anderen Menschen unterschied. Geister wie er erklären sich derartige Fälle nicht auf Grund wissenschaftlicher und medizinischer Erfahrungen, auf Grund der Psychiatrie, deren Namen er eben erst gehört und nicht verstanden hatte, sondern sie glauben an ein Wunder. Auch Aubry schwebte so etwas Ähnliches dunkel vor Augen, als ob der Schicksalszufall seines Lebens ihn mitten in ein Märchen versetzt hätte, wo seine Rolle eine ebenso übernatürliche wie delikate war. Seine chronische Verblüffung, aber auch seine Aufmerksamkeit hätten nicht größer sein können, wäre er hinter einem Einhorn, Zentauren oder, wie schon erwähnt, Mondkalb hergewesen. Denken wir uns an seine Stelle, so müssen wir selbst eingestehen, so wissenschaftlich gebildet und kultiviert wir auch sein mögen, daß es etwas ganz Eigenes sein muß, wenn man nachts aufs Geratewohl einem Menschen nachspüren muß, der ein ganz anderer ist. Und man könnte wirklich das Gruseln lernen, wenn man bedenkt, daß es sich hier nicht um ein Märchen aus »Tausendundeiner Nacht« handelt, sondern um ein tatsächlich existierendes unheimliches Phänomen, das von den ernstesten Männern der Wissenschaft ausführlich behandelt wird.

Mareuil und seine Begleiterin waren inzwischen in ein niedriges kleines Haus eingetreten, dessen Tür sich sofort hinter ihnen schloß.

Aubry sah sich das Äußere an. Eine Weinhandlung. Rechts und links von der Eingangspforte befand sich hinter geschlossenen Holzläden die Auslage, und oberhalb der Tür stand in großen gelben Buchstaben zu lesen: »Bar der Kumpanei«.

Aubry überlegte. Sollte er ohne weiteres dieses verdächtige Nachtlokal betreten, das ihm völlig unbekannt war? Denn eine verdächtige Bude war es. Um das zu sehen, brauchte man nur an die vorgerückte Stunde zu denken. Auch der Lichtschein, der durch die Ritzen der Holzläden fiel, und das Gemurmel, das nach außen drang, legten Zeugnis davon ab.

Aufmerksam spitzte der Hausbesorger die Ohren, aber er vermochte sich nicht darüber klar zu werden, was für eine Gesellschaft da drinnen beisammenhocke. Soweit er feststellen konnte, mußte sie ziemlich gemischt sein, denn er vernahm bald friedliche, bald drohendere Töne und Laute.

Da öffnete sich die Tür, und drei ganz ordentlich aussehende, ruhige Männer in guten, wenn auch abgetragenen Anzügen, so wie Aubry selbst gekleidet, Sportmützen auf dem Kopfe, traten heraus. Gleichzeitig traten ein Mann und eine Frau, die gleichfalls einen recht soliden Eindruck machten, in die Bar ein. Ohne lange zu zögern, schloß sich Aubry diesem Paare an.

Er durchschritt erst einen schwach beleuchteten Vorsaal mit hufeisenförmigem Schanktisch, dessen Seiten nur einen schmalen Durchgang gewährten. Dieser Raum war typisch für die Pariser Volksbars und zur Zeit leer.

Im nächsten Raum ging es belebter, wenn auch nicht außergewöhnlich zu. Aubry faßte wieder Mut. Es handelte sich hier nicht um eine Verbrecherspelunke, es schien vielmehr ein kleines Café, eines der ordinärsten und anspruchslosesten unter seinesgleichen, zu sein. Ausgestattet war es mit runden Marmortischchen, Wandspiegeln und verschossenen Wandbespannungen. In einer Ecke stand ein müdes Klavier. In dem stark mit Tabakrauch geschwängerten Raum saß eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft von Nachtschwärmern aus den unteren Volksschichten beisammen, und zwar aus der niedrigsten Klasse, die um die »Porte Maillot« herum haust und zu der Welt des »Velodroms« gehört.

Die »Bar der Kumpanei« bildete bei Tag und Nacht das Stammlokal aller jener, die vom Zweirad ihr mageres Dasein fristen. Auch Stallknechte traf man hier und den ganzen Auswurf von kleinen Angestellten, Anfängern und Schnellaufkandidaten, den die Radfahrgeschäfte, der »Velo« und die Läuferbahn ausspien. Unter diese mischten sich noch etwas fragwürdigere, verächtlich tuende »Kavaliere« von »Buffalo« oder dem »Parc des Princes«, die aus alter Überlieferung hierher kamen, obwohl die nahen Wälle diese Tradition längst nicht mehr rechtfertigten.

Das Erscheinen Aubrys blieb dank dem ihm vorausschreitenden Paar unbemerkt. Zudem wandte die Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit Mareuil und seiner Begleiterin zu, die einen schwarzen, mit einem grünen Kopfputz geschmückten Pudel liebkoste. Vor Zärtlichkeit wie närrisch, japste und heulte der Hund, wich aber nicht von einer gelbledernen Reisetasche, die unter einer Bank stand.

»Ruhe, mein liebes Tierchen! ... Schon genug! ... Banko, sei still! ... Ruhe, sage ich!«

Stimmen erhoben sich.

»Die Schlangen, Java! Zeig deine Schlangen!«

Das Mädchen schien wenig aufgelegt zu sein, der Aufforderung nachzukommen. Sie runzelte die Stirn und brummte unverständliche Worte, während ihr Freund sie spöttisch anblickte.

Aubry nahm an einem Tisch Platz, wo bereits drei lustige Brüder saßen, die den Anschein großen Anschlußbedürfnisses erregten und aus denen er manches Wissenswerte herauszubekommen hoffte.

Gleichzeitig horchte er auf Javas und Mareuils Zwiegespräch.

»So geh halt zu deinen Schlangen!« sagte Mareuil.

Sie schmollte. Verliebt und wütend zugleich sah sie ihn mit heißen und tückischen Blicken an. Aubry hörte sie murmeln:

»Sag mir erst die Wahrheit, Freddy! Du weißt, ich hab dich gesehen, jawohl, ich hab dich gesehen, heute früh zu Pferde. Närrisch, aber wahr, ich bin nicht blind! Mit wem bist du so schick ausgeritten? Mit wem? Ich will's wissen! Das andere ist mir schnuppe. Wer war das hübsche Ding? Ich rief dich an. Warum hast du mich geschnitten?«

Mareuils Züge nahmen einen ungewöhnlich harten Ausdruck an. Sein Auge verlor jeden Glanz, und schneidend gab er zur Antwort: »Hast Hirngespinste! Wirst mir lästig! Weiß nicht, was du meinst.«

Java bezwang sich, um nicht in Tränen auszubrechen. Man beobachtete sie und wurde neugierig.

»Willst du vielleicht zu heulen anfangen, eine Szene machen?« zischte der Mann zwischen den Zähnen hervor.

Mit düsterer, verzweifelter Miene senkte Java den Kopf.

Alles rief jetzt in der Melodie eines Gassenhauers: »Schlangen, Schlangen, Schlangen her! Schlangen her, Schlangen her!«

»Tu's doch, Freddy!« bat jemand. »Einmal nur zeig' deine Kunst. Die Schlangen her, Freddy!«

»Das wäre zu lustig!« bemerkte ein Nachbar Aubrys.

Nun legte sich der Wirt, ein dicker Kerl mit aufgeschlagenen Hemdsärmeln, ins Mittel. Ohne den Schanktisch zu verlassen, wo er Gläser ausspülte, forderte er Freddy seinerseits auf, etwas zum besten zu geben.

»Los, Freddy!« brummte er behäbig. »Damit Leben in die Bude kommt. Man hat dich schon lange nicht mehr arbeiten sehen, kleiner Faulpelz. Meine Damen und Herren, wenn Sie es geschickt anfangen, werden Sie Freddy, ›die Natter‹, sich in seinen waghalsigen Kunststücken produzieren sehen!«

»Freddy! Freddy!« tönte es jetzt von allen Seiten.

»Gib mir die Tasche her!« wandte sich Jean Mareuil an Java. »Man wird den Leuten zeigen, was man kann.«

Liebenswürdig lächelnd, entledigte er sich des Rockes und krempelte die weißgestreiften rosa Hemdärmel bis zu den Ellbogen auf. Da wurde auf seinem Vorderarm eine Natter in blauer Tätowierung sichtbar.

Die Ledertasche wurde geöffnet und vor ihn auf den Tisch gestellt. Nun hockte er nach Art der Orientalen mit untergeschlagenen Beinen auf der Bank nieder und führte eine kleine Flöte zu den Lippen.

»Ruhe!« gebot der Wirt.

Aubrys Nachbar war ein untersetzter, dürrer, aber kräftig gebauter dunkelhaariger Bursche, dessen gewölbter Rücken den professionellen Radfahrer verriet. Mit seinen zwei Kameraden, die nicht so mager waren wie er, schien er irgendeinen »Sieg« zu feiern oder ein gutes Training, jedenfalls hatten alle drei wacker getrunken.

»Ein hübscher Name ›Freddy, die Natter‹!« bemerkte Aubry.

»Und er paßt gut auf ihn!« brummte sein Tischgenosse, die Wadenstrümpfe in die Höhe ziehend. »Denn es gibt keinen trägeren Kerl als diesen Burschen.«

»Halt's Maul!« meinte der zweite des feuchten Kleeblattes. »Man nennt ihn ›die Natter‹, weil er ein ganz geriebenes Aas ist!«

»Glaubst du, ich weiß das nicht, Dummkopf? Ich war schon Stammgast zu einer Zeit, als er noch nicht mit Java zusammen arbeitete.«

Aubry fragte sich, welcher »Arbeit« sich wohl Jean Mareuil in der Person »Freddys, der Natter« hingeben mochte, als die Flöte eine unendlich süße, getragene und eintönige Weise anstimmte.

Mit untergeschlagenen Beinen auf der Bank hockend, blies Freddy, den ledernen Reisehandkoffer vor sich, das Instrument und wiegte sich in lässigem Rhythmus hin und her. Auf der anderen Seite saß Banko, der schwarze Pudel, auf einem Stuhl, hörte aufmerksam zu und neigte seinen frisierten Kopf bald nach rechts, bald nach links, was mit seinem großen grünen Seidenputz, der sich wie ein Schmetterling hin und her bewegte, urdrollig aussah.

Erwartungsvolle Stille trat ein.

Ganz einzigartig und hypnotisierend war der Klang der Flöte.

Zuerst tönte es längere Zeit wie das Säuseln des heißen Windes durch die Bambusdickichte der Dschungeln, dann vernahm man langgedehnte, kaum musikalisch zu nennende Noten, die aber etwas unendlich Einschmeichelndes hatten und so leise widerhallten, daß man im Innern der Tasche ein leichtes Sich-aneinander-Wetzen und Schieben hören konnte.

Aubry erschrak. Wie bei den bekannten Juxschachteln plötzlich ein Teufel herausspringt, fuhr jetzt eine Schlange einige Zoll hoch jäh aus der Ledertasche hervor. In regelmäßigen Abständen die gespaltene, glatte Zunge hervorreckend, richtete sie den plattgedrückten Kopf nach dem Flötenbläser.

Eine zweite folgte, eine dritte und noch eine. Nun ward die Tasche zu einem scheußlichen Behälter, aus dem ein ganzes Bukett greulicher Reptile emporstieg. Man wähnte das Schlangenhaar einer Gorgo zu schauen und war sich darüber im Zweifel, ob nicht diese gräßliche Tasche am Ende gar in ihrem geheimnisvollen Bauche das abgeschlagene Haupt einer zweiten Medusa berge.

Der Rhythmus der Flötenmelodie wurde jetzt weniger getragen, die Weise erklang härter, verwandelte sich in Pfeifen, und das Hin- und Herwiegen des Schlangenbeschwörers in einen Tanz der Brust und Schultern auf unbeweglichem Unterkörper. Dem Takte der Flöte folgend, begannen die Nattern zu schwingen und schwankten hin und wider gleich Blumenstengeln im Winde.

Dann folgte ein langgezogener Pfiff, und jäh brachen Tanz und Bewegung ab. In seiner Reinheit und Gedehntheit stellte er in Wahrheit klanglich den Begriff der Ewigkeit dar, die unendliche klare Grenzlinie des Weltalls, und endete schließlich mit einer Serie von Akkorden und Modulationen, die eine andere Sprache auszudrücken begannen. Mit unerschütterlicher Ruhe und ernst wie die indischen Fakire entlockte Freddy, »die Natter«, seiner Flöte so süße und leichtbeschwingte Töne, daß man glaubte ein zartes Lüftchen durch lispelnde Schilfrohre hinstreichen zu hören. Die Schlangen fingen an sich zu krümmen und in wellenförmigen Bewegungen herumzukriechen, und Freddy eiferte sie an, indem er mit Schultern und Hüften sich drehte und wand und ihren Kriechtanz begleitete.

Die Schlangen krochen herum, überdeckten den Tisch, verknoteten sich ineinander und lösten sich wieder los und kamen an Freddys Knie. Und eine richtete sich empor, sprang in jähem Satze an ihm hinauf und ringelte sich um seinen Hals.

Bald war er mit Schlangen behangen wie ein Baum in den Waldungen von Sumatra. Seine Arme, Beine, Brust, Stirn und Handgelenke wimmelten von kleinen, spitzwinkeligen Köpfen, die mit ihren bösen, funkelnden Äuglein nach der Zauberflöte starrten und mit ihren gespaltenen, flinken Zungen wie mit kleinen Wurfspießen ihr Spiel trieben. Selbst die blaue, auf dem Arme Freddys eintätowierte Natter schien Leben zu bekommen und ihren Schuppenleib hin und her zu winden und das trefflich wiedergegebene Haupt aus dem Fleische des Armes, das sie gefangen hielt, erheben zu wollen.

Diesen Moment benutzte Java, um mit dem Teller absammeln zu gehen.

Als sie mit der Schale voller Papiergeld zurückkehrte, legte Freddy die Flöte beiseite, entledigte sich der Schlangen und beförderte die Tiere wieder zurück in die Ledertasche.

Laute Bravos erschallten. Sogar der würdige Wirt trat hinter dem Schanktisch hervor, um für Freddy eine Flasche Schaumwein zu entkorken.

»Wenn du wolltest, könntest du dein Glück machen«, sagt er.

»Java versteht ihr Handwerk famos, aber du – du bist geradezu verblüffend. Pass' auf, für eine einzige allabendliche Vorstellung biete ich dir ...«

»Scher' dich zum Teufel!« grunzte Freddy.

Der Wirt zuckte bedauernd die Achseln, stieß dann mit Freddy an und leerte das Glas auf einen Zug.

Aubry spendierte seinen drei Tischgenossen eine Flasche »Saumur« und begann ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen. Aber als Leute einer Welt, in der das Mißtrauen oberste Regel ist, wichen sie seinen Fragen aus. Aubry merkte, daß er sie damit kopfscheu machen könnte. Schlau und pfiffig wie er war, legte er sich eine andere Taktik zurecht, und es gelang ihm dann auch unter tausend Schwierigkeiten, das Wesentliche, was er wissen wollte, zu erfahren.

Von dem Dreigespann hatte der älteste Stammgast der »Bar der Kumpanei« Freddy, »die Natter«, bereits hier vorgefunden. Das war zwei Jahre her, und damals führte er noch selbst seine Schlangen vor, denn Java tauchte erst später in seinem Leben auf. Man wußte eigentlich nicht recht, was Freddy trieb. Das ging auch niemand etwas an, und kein Mensch scherte sich darum. Die Kollegen sahen ihn nur nachts. Vielleicht arbeitete er untertags in irgendeiner Werkstatt, vielleicht tat er auch nichts. Das war seine Sache. Jedenfalls gehörte er nicht zum »Velo« wie die drei, denn die Habitués des Velo erkannte man auf den ersten Blick.

Da Aubry wahrnahm, daß seine Gewährsleute wieder Verdacht zu schöpfen schienen, schwieg er und stellte keine weiteren Fragen. Es wurde spät, die Gäste verliefen sich. Auch die drei Tischgenossen Aubrys erhoben sich, dankten ihrem liebenswürdigen »Amphitrion«, dessen feuchtfröhliche Gastfreundschaft sie übrigens erwidert hatten, und verabschiedeten sich von ihm.

Es blieben in der Bar nunmehr etwa zwanzig Gäste sitzen, von denen die einen sich lebhaft unterhielten, die andern in trunkener oder sorgenvoller Verblödung stumpf und stumm vor sich hinstierten.

Dicht aneinander geschmiegt hockten Freddy und Java in einem Winkel. Die Ellbogen auf dem Tisch, die Beine lang ausgestreckt, rauchte er faul und gelassen eine Zigarette nach der andern und blickte müßig und gleichgültig ins Leere, während sie ihren hübschen Kopf an seine Schulter lehnte und halblaut in ihn hineinredete, wobei sie ihn mit großen, kummervollen Augen ansah.

Aubry konnte sie durch die Schwaden des Tabakrauches beobachten, nicht aber Javas Worte verstehen. Sie schien Freddy anzuflehen, zu beschwören. Das Schweigen ihres Freundes brachte sie offensichtlich zur Verzweiflung, machte sie nervös. Er rührte sich nicht, zuckte mit keiner Wimper. Sie packte ihn an der Schulter. Er ließ es ruhig geschehen. Da wurde sie dreister und setzte ihm stärker zu. Jetzt wandte Jean Mareuil, das heißt also Freddy, »die Natter«, – denn Jean Mareuil war momentan ein aus der Liste der Menschen gestrichenes Individuum – seinen Kopf der Dirne zu, blickte sie grausam an und sagte ihr irgendeine kurze Grobheit, wobei er den Kopf schüttelte und die Faust hob. Die Folge war, daß ihm Java reumütig um den Hals fiel und vor Demut und Anbetung schier verging.

Immer wieder warf Freddy einen Blick auf die runde Wanduhr. Sie hing zwischen zwei Plakaten an der Mauer, die in abgeschmackten, hochtrabenden Ausdrücken die Appetit reizenden und Gesundheit fördernden Eigenschaften irgendeines geistigen Getränkes anpriesen. Aber deutlicher als der Uhrzeiger verkündete die fahle Beleuchtung, die durch das Glasdach des Saales in den Raum drang, das Schwinden der Nacht.

Freddy stand auf. Java nahm die Ledertasche und folgte ihm rasch. Banko schüttelte sich und trollte schlaftrunken hinter ihnen drein.

Schlauerweise war Aubry schon vorher gegangen und wartete auf sie in der dämmerigen Straße. Er sah, wie Java ihren Begleiter leidenschaftlich umarmte und ihm dann nachblickte, bis sie ihn aus den Augen verlor.

Freddy nachzugehen, hatte keinen Sinn. Aubry wußte ja, was es mit dem »Zweiten Ich« für eine Bewandtnis hatte. Dafür interessierte ihn Java um so mehr, er wollte erfahren, was mit ihr los sei – und er erfuhr es.

In düstere Gedanken versunken, schritt Java traurig und mit gesenktem Kopf ihres Weges und kümmerte sich wenig darum, ob ihr jemand nachging oder nicht. Da die Frauen heutzutage, namentlich in Paris, die begehrte Beute so vieler mehr oder weniger heimlicher Verfolger sind, haben sich die armen Dinger schon daran gewöhnt, hinter sich einen schmachtenden Anbeter zu wissen, so daß es sehr leicht ist, ihnen nachzusteigen, ohne sie zu beunruhigen. Sie halten den Spion für einen Liebhaber und damit basta.

Aber nicht einmal diese Ehre wurde Aubry zuteil, denn sie bemerkte ihn überhaupt nicht. So sah er denn, wie sie an der Ecke der Rue Daniel Riche und der Sackgasse Malakoff ein Hotel-Garni betrat, das lediglich die Aufschrift trug: »Möblierte Zimmer«.

Befriedigt machte Aubry kehrt. Die Nacht hatte sich bezahlt gemacht. Jetzt blieb ihm nur noch übrig, sich Rechenschaft zu geben über alles, was sie ihm enthüllt hatte, und seinem Auftraggeber Meldung zu erstatten.

Dies geschah um zehn Uhr vormittags. Lionel kam nach der Rue de Tournon, hörte den Rapport des Hausbesorgers an und teilte ihm mit, daß Jean Mareuil beim Grauen des Morgens nach Hause gekommen sei. So lange hatte der junge Graf die Geduld gehabt, auf seinem Späherposten in der Avenue des Bois auszuharren.

Wenn Aubrys Bericht auch sicherlich interessant war, so hätte sich doch der Hausbesorger nicht im entferntesten gedacht, daß sein Bericht auf Graf Prase einen derart großen Eindruck machen würde. Die Szene mit den Schlangen mußte er dem Grafen mehrmals schildern, und Freddys Beiname »die Natter« erregte Lionel so, daß Aubry nicht umhin konnte, den Grafen um die Ursache zu befragen.

»Wegen des Albums«, erwiderte Lionel zerstreut.

»Wollen der Herr Graf nicht die Gnade haben, mir zu erklären ...«

Aber Lionel war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, die nach und nach immer prägnantere Gestalten annahmen. Statt Aubry zu antworten, fragte er ihn vielmehr: »Sagen Sie, mein Lieber, wie lange stehen Sie schon im Dienste meiner Mutter?«

»Ich bitte, Herr Graf, als die gnädige Frau Laval starb, bei der ich ein paar Monate erst die Stelle eines Haushofmeisters bekleidete, übernahm mich die Frau Gräfin in ihren Dienst.«

»Somit weilten Sie, wohlverstanden, vor fünf Jahren in Luvercy, als meine Tante starb?«

»Sehr wohl, Herr Graf.«

»Nun, sind Sie in jener Zeit niemals Jean Mareuil begegnet? Oder kam Ihnen niemals Freddy, ›die Natter‹, was auf das gleiche hinausläuft, unter? Strengen Sie Ihr Gedächtnis an, Aubry! Denken Sie scharf nach! Ihr Dienst brachte es mit sich, daß Sie ständig im Schloß weilten, wenn meine Tante dort war, während ich nur in den Ferien hinkam. Nun? Erinnern Sie sich? ... Besinnen Sie sich vielleicht auf irgendeinen Bettler oder Strolch ...«

Der Detektiv-Hausbesorger erbleichte, denn er erriet den furchtbaren Verdacht, den sein Herr im Herzen nährte. Einen Augenblick schauten sie sich fragend an, als ob eine ganz neue Atmosphäre alle Dinge in ein verbrecherisches Licht rücke.

Dann faßte sich Aubry und versenkte sich, seine Gedanken sammelnd, zurück in den Schoß seines Erinnerungsvermögens.

Endlich sagte er, noch immer nachdenklich: »Nein, Herr Graf, ich kann mich nicht eines solchen Mannes entsinnen. Nein. Als ich Herrn Jean Mareuil vor wenigen Tagen zum ersten Male sah und ihn Herr Graf mir zeigten und mir befahlen, ihm nachzuspüren, weckte sein Anblick keinerlei Erinnerungen in mir. Nicht die geringste.«

»Dennoch, Aubry, dennoch ... die schwarz-weiß geringelte Natter ... wissen Sie, daß gestern Jean Mareuil die Photographien meiner seligen Tante betrachtete wie ein Mensch, dem es nicht gelingt, Erinnerungen an frühere Ereignisse sich ins Gedächtnis zurückzurufen?«

»Halten zu Gnaden, Herr Graf, ich bin kein Backfisch, aber was Herr Graf da andeuten, verursacht mir eine Gänsehaut!«

Ehe sie sich voneinander trennten, grübelten sie noch eine ganze Weile schweigend über das Geheimnis nach, das sich hinter diesen Vorgängen verbarg.


 << zurück weiter >>