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Wenige Minuten nach Anrollen des mit Staub bedeckten Wagens fand sich Graf Lionel bei Mareuil ein. Er hatte bei diesem Besuch keinerlei Hintergedanken oder heimliche Absichten, denn Jean Mareuil interessierte ihn nur mehr unter der Maske »Freddy«. Den nächtlichen Jean Mareuil mußte man packen. Was ging einen das Tun und Treiben des »Tages-Mareuil« an? Der andere war tausendmal verwundbarer.
Der Livreediener, der dem Grafen öffnete, meldete, Herr Jean Mareuil sei eben erst in seinem Auto zurückgekehrt und ziehe sich um.
»Sagen Sie Ihrem Herrn, daß ich da bin«, erwiderte Lionel.
Der Diener führte den jungen Grafen in eine große, elegant eingerichtete Bibliothek, deren Fenster auf den Hof des Palais gingen. Gelangweilt blickte der Graf in den Hof hinab und schaute dem Wagenwäscher des Autos zu.
Wenige Minuten später trat Mareuil ein. Er trug einen weiten Schlafrock, dessen Schnur sich um die Taille des jungen Mannes knüpfte.
»Sie hätten sich nicht stören lassen sollen, lieber Freund«, entschuldigte sich Lionel. »Ich würde gern gewartet haben, bis Sie Ihre Toilette beendet hätten.«
»Was gibt's Neues?« fragte Mareuil, dem anderen kräftig die Hand schüttelnd.
»Gar nichts. Da ich gerade an Ihrem Hause vorüberging, wollte ich Sie mitnehmen. Sie wissen ja, bei uns zu Hause ist heute ein großer Tamtam los, Five-o'clock, von fünf bis acht, Musik, usw.«
»Ich würde mich schwer hüten, dies zu vergessen. Wenn es Ihnen nicht lästig fällt, ein Viertelstündchen zu warten? ...«
»Bitte, bitte!«
»Ich komme gerade von Meaux.«
»Ja, ja, Sie haben mir von Ihren Nachforschungen in den Archiven erzählt. Nun, schreitet das Werk fort?«
»Langsam!«
Lionel merkte, daß Mareuil wieder einen seiner verträumten Tage hatte, an denen es schwer fiel, ihn auf der irdischen Welt festzuhalten.
Seit der Graf das Phänomen des »Zweiten Bewußtseins« studierte, begründete er diese seltsamen Träumereien Mareuils mit jener allgemeinen peinlichen Unruhe, die zuweilen das »Subjekt« befällt und es mit einer unklaren, dumpfen Furcht erfüllt, die wiederum in unerklärlichen Entdeckungen oder in nicht klar zu präzisierenden Vorahnungen ihre Ursache hat. Wäre er Ohrenzeuge des Gespräches von heute morgen in dem Grünzeuggeschäft Lefebres gewesen, so hätte ihn dies und noch mehr, was nachfolgte, in seiner Ansicht bestärkt.
»Wir sind heute verstimmt?« meinte er. »Man sieht schwarz?«
»Na, wer hat keine Sorgen?«
»Fanden Sie denn in Meaux, was Sie suchten?«
»Ja und nein ... bitte, hier sind Zigaretten. Darf ich Ihnen ein Buch geben? Ich habe hier die sehr hübsch illustrierte ›Reitkunst‹ von Saint-Phal. Vielleicht interessiert Sie das Buch?«
»Gewiß!«
Jean Mareuil stellte sich auf die Fußspitzen, um das fast außer Reichweite in einem Bibliotheksfach steckende Werk herabzunehmen. Hierbei rutschte der sehr weite Ärmel seines Pyjamas zurück, und Lionel bemerkte auf seinem Unterarm eine in blauer Farbe eintätowierte Viper.
Mareuil sah, daß Lionel die Tätowierung nicht entgangen war, er suchte übrigens auch gar nicht, sie zu verbergen.
»Teufel, noch einmal!« lächelte er. »Jetzt sind Sie Mitwisser eines kleinen Geheimnisses!«
»Was macht das?« antwortete Lionel belustigt. »Ich bin doch nicht wie Gilberte, daß ich gleich vor Angst umkomme.«
»Diese Tätowierung ist das Werk eines japanischen Künstlers, als ich meine Weltreise machte.«
»Schon lang her?«
»Ich unternahm sie mit siebzehn Jahren. Es war damals Mode, sich tätowieren zu lassen. Heute finde ich diese Sitte idiotisch, und wenn ich hätte ahnen können, daß meine Verlobte einmal die Schlangen hassen würde, so ... ich werde Sie um eine kleine Gefälligkeit ersuchen.«
»Bitte!«
»Erwähnen Sie meiner Braut gegenüber nichts davon, mindestens nicht eher, als bis ich die Tätowierung wieder entfernt haben werde. Diese unbedeutende Operation macht man heute spielend.«
»Ich verspreche es Ihnen, ich werde reinen Mund halten. Aber worauf warten Sie, um die Operation vornehmen zu lassen, da sich doch Gilberte so vor Schlangen entsetzt?«
»Wissen Sie, ich hoffte, Gilberte von dieser Angstpsychose heilen zu können, ihr diese Art Furcht restlos zu nehmen, noch ehe vier Wochen verstreichen würden ...«
»Wieso? ...«
»Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, die Mörderschlange von Luvercy tot oder lebend zur Stelle zu schaffen, und nun ...«
»Und nun? ...« spornte Lionel ihn zum Weiterreden an.
»Und nun fühle ich mich doch außerstande, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Ich weiß nicht warum, aber die Geschichte langweilt mich, ist mir zuwider geworden, kurzum, obwohl ich weiß, daß die Viper tot ist, verzichte ich darauf, mir den Beweis dafür zu verschaffen – was übrigens nicht einmal so leicht wäre.«
»Daß die Viper tot ist, unterliegt keinem Zweifel«, nickte Lionel.
»Ich will versuchen, auch Gilberte davon zu überzeugen. Mehr aber darf man von mir nicht verlangen.«
Graf Prase gab sich alle Mühe, die Gedanken, die seinen Kopf durchstürmten, zu verbergen.
»Merkwürdig!« meinte er mit gut gespieltem Erstaunen. »Wirklich höchst merkwürdig! Sie, ›der Mann der Schlüssel und der Lampen‹!«
»Sie haben recht, auch ich kann mir das nicht erklären. Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich einen solchen Widerwillen gegen die Befriedigung meiner Geschmacksrichtung empfinde. Reden wir nicht mehr darüber.«
»Sie können sich auf meine Verschwiegenheit verlassen«, erklärte Lionel und fügte liebenswürdig hinzu: »Auch ich bedaure, daß die Geschichte von Luvercy für Gilberte, für Gilberte allein, ein steter Gegenstand des Entsetzens bleiben soll, denn, nicht wahr, Sie und wir alle, mit Ausnahme meiner Kusine, leben der festen Überzeugung, daß die Viper nicht mehr existiert, und ich glaube nicht, daß bei dem Drama mysteriöse Dinge mitspielten. Sie sind doch auch der Meinung?«
»Gewiß, ich bin derselben Ansicht«, sagte Mareuil in entschiedenem Tone.
»Gilberte hat sich über ein gewisses Gespräch sehr aufgeregt. Sie erzählten ihr etwas über Schlangenbeschwörer. Sie nahm einen Augenblick an, jemand hätte die Giftotter nach ... dem Zimmer meiner armen Tante hingelockt.«
»Diese Annahme ist natürlich völlig fehlgehend, und ich bemühte mich auch, ihr diesen Verdacht auszureden, denn alles, wohlgemerkt, alles beweist, daß niemand das verschlossene Schlafzimmer der Frau Guy Laval in jener Nacht betrat, das ja höchstens durch die kleinen, herzförmigen Ladenausschnitte zugänglich gewesen ist.«
»Sehr richtig!« entgegnete Lionel mit größter Gelassenheit. »Man müßte nur annehmen, daß ein Mensch von übernatürlicher Lautlosigkeit, ein Wesen, das die Fähigkeit besaß, noch weniger Geräusch zu machen als selbst die Natter, das Reptil auf sein Opfer dirigierte.«
»Warum die Geschichte noch komplizierter machen wollen? Die Sache ging jedenfalls viel einfacher zu.«
»Und doch erschreckt Sie diese ›Einfachheit‹!«, versetzte Lionel boshaft.
»O, nur nicht übertreiben! Sie flößt mir lediglich, wie allen Menschen, Grauen ein.«
Der Graf stutzte.
Dann fügte er laut hinzu: »Ich hörte, Sie hätten sich auf Ihrer Weltreise auch mit Schlangenbeschwörern abgegeben?«
»Das ist doch klar wie der liebe Tag!«
Ein Schweigen trat ein. In blaue, köstlich duftende Wolken englischen Tabaks eingehüllt, tat Lionel, als besichtige er die Bücher in den Bibliotheksschränken.
Im Ton größter Harmlosigkeit fragte er leichthin: »Waren Sie je in Luvercy?«
Da ihm keine Antwort gegeben wurde, drehte er sich erstaunt um.
»Heh, Mareuil!« rief er. »Schön wieder im Traumlande?«
Weil er jedoch nicht wünschte, daß es den Anschein errege, als lege er auf die Beantwortung der Frage großen Wert, wiederholte er sie nicht. Übrigens konnte er sich ja denken, daß sie ›Nein‹ lauten würde, denn wenn Jean Mareuil in ›Freddy‹, seinem ›Zweiten Ich‹, das Tal Chevreuse durchstreift hatte, so hatte dies in seiner Erinnerung wohl nur eine nebelhafte Spur zurückgelassen, so wie man am Morgen nicht mehr weiß, ob man geträumt oder sich die Geschichte nur eingebildet hat.
»Wir kommen zu spät! Können uns ja nachher weiter miteinander unterhalten«, mahnte Jean Mareuil. »Verzeihung, ich ziehe mich nur rasch an.«
»Lassen Sie sich nicht aufhalten, lieber Freund!«
Nachdenklich blickte Lionel dem anderen nach.