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XV.

Der Schutzengel Fourcade.

Zeit ist Geld – das gilt nicht nur für Amerika und England, sondern auch anderswo.

Nun, Zeit blieb dem biedern Aubry nicht viel übrig, um Jean Mareuil-Freddy zu ködern, infolgedessen war ihm Geld hierzu um so nötiger. Er hatte denn auch durch Lionels Vermittlung die erforderlichen Beträge erhalten, um die Geschichte richtig und tüchtig anpacken zu können. Als der junge Graf Aubry verließ, öffnete dieser ein Portefeuille, das ihm Lionel mit anerkennenswerter Diskretion zugeschoben hatte, und fand darin einen restlos befriedigenden Betrag in verführerischen Banknoten enthalten. So kam es denn, daß die »Bar der Kumpanei« heute nacht der Schauplatz eines kleinen, höchst gelungenen Festes war.

Den Freudenrausch eines Menschen simulierend, dem irgend etwas geglückt ist, mimte Aubry den gutmütigen Bruder Leichtsinn, der sein Geld mit vollen Händen ausstreut und jedermann zu Gast ladet.

Auf diese Weise konnte er an dem nämlichen Tische wie Freddy, »die Natter«, Platz nehmen, ohne den Anschein zu erregen, als habe er ihn direkt aufgesucht.

Freddy schöpfte auch keinerlei Verdacht. Die Sache schien ihm höchst natürlich. Mit den andern, die da rauchten und tranken, rauchte und trank er auch, während Java in wortloser Seligkeit sich an seine Schulter lehnte und ihm mit den Fingern zärtlich durch die Haare strich. Sie erkannte zwar in Aubry den Menschen wieder, der sie vor dem Hôtel garni angesprochen hatte, fand aber nichts dahinter, ihm, der ein Stammgast der Bar zu werden schien, bereits in dem Viertel begegnet zu sein.

Aubry markierte den Unruhigen. Keinen Augenblick blieb er auf seinem Platze. Ständig erhob er sich, um bald da, bald dort an einem Tisch Platz zu nehmen. Diensteifrig füllten ihm seine Gäste immer wieder das hingestreckte Glas.

Er hatte sich gehütet, länger als unbedingt notwendig an dem Tische Freddys zu bleiben. Aber die wenigen Worte, die er zu ihm gesprochen, hatten genügt. Vertrauensseligkeit heuchelnd, machte er ihm gegenüber gewisse Anspielungen und Andeutungen, die man der Schwatzhaftigkeit eines angetrunkenen Menschen zugute halten konnte, die jedoch auch einige Zweifel zuließen über den rechtmäßigen Erwerb des Mammons, den Aubry so großmütig verausgabte.

Mit den unbeweglichen Physiognomien schöner, starker und schlauer Bestien hatten ihm Freddy und Java zugehört, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur ein nichtssagendes, wenig Vertrauen erweckendes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Batterien von Flaschen marschierten auf, ganze Reihen »englischer Platten«. Von allen Seiten rief man stets aufs neue nach Bier, Flaschenweinen, Senf, Gürkchen. Die einen droschen Karten, ohne sich viel um ihren »Amphitryon« mehr zu scheren, die andern umschmeichelten ihn auf plumpe Art, irgendein Geschäft oder Trinkgeld witternd.

Den Betrunkenen mimend, beobachtete Aubry hellhörig und scharf seine Umgebung, namentlich einen Gast, der ganz allein dasaß und den Eindruck eines kleinen Angestellten machte. Trotz seiner krampfhaften Versuche, den Anschein zu erwecken, als fühle er sich in diesem Kreise wohl, sah man es ihm an, daß er nicht hergehörte. Er trank wenig, rauchte gar nicht. Der verdächtige Gast hatte ganz in der Nähe von Freddy Platz genommen, schaute aber ständig anderswohin, was Aubrys Aufmerksamkeit nicht entging. Der Hausbesorger bedauerte es lebhaft, daß ein Ohr nicht wie ein Auge sei, das heißt, daß man nicht erkennen könne, ob es horcht, so wie man es dem Auge ansieht, ob es irgendwo hinblickt oder nicht.

Das Äußere eines Ohres hat in seiner Unbeweglichkeit und ausdruckslosen Form etwas Aufreizendes an sich. Man kann nicht erraten, ob es fein- oder schwerhörig, zerstreut oder aufmerksam ist, und weiß nie, was es tut. Schläft es? Lauscht es gleichgültig dem Lärm dieser Welt, oder strengt es sich an, ja kein Wörtchen, keine Silbe eines Gemurmels, eines leise geführten Zwiegespräches zu überhören? Da lobe ich mir das Tier! Bei den meisten kennt man das Ohrenspiel, die meisten vermögen die Ohren zu spitzen, zurückzulegen, die Schallseite zuzuwenden und mit den Ohren zu wackeln. Ihr Zuhören, ihr Lauschen ist sichtbar. Aber das menschliche Ohr? Zum Henker mit ihm, das den Blöden spielt!

Während nun der junge Angestellte es eifrig vermied, nach Freddy hinzublicken, war das eine seiner Ohren tückisch nach ihm gerichtet. Aubry sah überhaupt nichts mehr, keine Bar, keine Menschen, sondern nur dieses eine Ohr, dies Profil mit dem Ohr in der Mitte, das wegen dieses seines Ohres geradezu einen Empfänger, einen Beobachtungsspiegel von ungeheurer Gewichtigkeit darstellte.

Dem Menschen da mußte man die Würmer aus der Nase ziehen. Aubry erinnerte sich, ihn schon hier gesehen zu haben.

Aubry stand auf. Schwankenden Schrittes torkelte er nach dem Schanktische, kaufte sich ein paar Zigaretten, angelte sich auf dem Rückwege einen Stuhl und setzte sich schwerfällig zwischen einen gemütlichen dicken alten Kerl und den Mann mit dem verdächtigen Ohr, der sofort etwas zur Seite wich.

Dieses höfliche Platzmachen verriet den wohlerzogenen, rangierten jungen Mann.

Mit lärmender Jovialität klopfte ihm Aubry plumpvertraulich auf die Schulter und knüpfte ein Gespräch mit ihm an. Der junge Mann machte gute Miene zum bösen Spiel. Man sah es ihm an, daß ihm das Ganze gegen den Strich ging. Mit dem Eigensinn Alkoholisierter eiferte ihn Aubry zum Trinken an.

Endlich erwiderte der Geplagte: »Entschuldigen Sie. Sie sehen, daß ich es nicht gewohnt bin.«

»Zum Teufel, was hast du dann hier zu suchen?« lallte Aubry, schwere Zunge markierend.

»Ich bin Schriftsteller ... mache hier meine Studien. Verstehen Sie?«

»Oh, verflucht! Das ist mir das Wahre! ... He, ihr Saufgurgeln, hört zu! Unser Kumpan da ist Journalist!« – Aber niemand achtete auf ihn, schon längst hörte kein Mensch ihm mehr zu. Jeder vergnügte sich auf seine spezielle Art.

Freddy und Java trafen Anstalt, sich mit ihrem Pudel Benko zu entfernen.

»Ich ... geh' ... mi ... mit ... euch!« stotterte Aubry weinselig. »Ich be ... be ... gleite ... euch ...«

»Nein, Väterchen, mit uns wirst du nicht gehen!« erklärte Java. »Erstens können wir dich nicht brauchen, und zweitens bist du arg beschwipst!«

»Ihr seid mir schöne Genossen!« rülpste Aubry weinerlich.

»Freddy, sag, bist du mein Freund?«

Freddy zuckte die Achseln.

»Pf!« zischte er zwischen den Zähnen. »Machen wir, daß wir weiterkommen, Java. Das Aas ist besoffen!«

»Freddy!« heulte der Spion. »Gib mir die Hand. Du bist mein Freund!«

Der Apache Jean Mareuil berührte kühl Aubrys Hand mit den Fingerspitzen und entfernte sich dann in Begleitung seiner Geliebten und des Pudels.

Der Hausbesorger lachte sich ins Fäustchen. Er wußte, wie solid die bei einem Glase Wein geknüpften Verbindungen halten, wenn noch Liköre und starke Schnäpse ad maiorem Dei gloriam gratis fließen. Der Anfang schien vielversprechend.

Aubry hätte darauf Gift genommen, daß der angebliche Schriftsteller sich gleich nach Verschwinden Freddys gleichfalls drücken würde, und die Tatsache bestätigte seine Vermutung. Aber Aubry nahm sich vor, die Nachforschung auf später zu verschieben, wer eigentlich dieser Naseweis sei, der anscheinend auch Freddys Tun und Treiben beaufsichtigte. Das Auftreten des neuen Beobachters genierte Aubry, und er mußte sich für diese Nacht nolens volens mit dem zufriedengeben, was er herausgebracht hatte.


Als Aubry gegen neun Uhr früh erwachte, eilte er sofort nach dem nächsten Postamt, um der Gräfin von Prase zu telephonieren. Er hatte kein Geld mehr, aber das war nicht der Grund, daß er die Gräfin anrief, denn er hätte ihr mit Vergnügen sein ganzes Vermögen zur Verfügung gestellt; Aubry wollte sich vielmehr erkundigen, ob er diese kostspielige Art von Operationen fortsetzen solle oder nicht.

»Nur nicht sparen, lieber Aubry!« antwortete die Gräfin. »Alles hängt jetzt vom raschen Handeln ab. Geben Sie aus, so viel Sie wollen, ohne zu rechnen. Da ich aber nicht will, daß Sie aus Eigenem etwas drauflegen, begeben Sie sich, bitte, noch heute vormittag zu meinem Notar, dem ich sofort telephonieren werde, für Sie zehntausend Franken bereitzuhalten.«

Dann gab ihm die Gräfin die Adresse des Notars an und erkundigte sich unter Deckworten nach dem Ergebnis der Nacht.

Aubry verstand sie vollkommen, aber jemand anderer, selbst Lionel, hätte unmöglich den Sinn ihrer Rede entwirren können, so sehr verschleierte die Gräfin alles am Telephon. Nicht ein einziges verfängliches Wort entschlüpfte ihr, nicht ein einziger Eigenname. Aubry sah sie ordentlich vor ihrem Empireschreibtisch in dem unfreundlichen Arbeitskabinett sitzen und wie in einen Beichtstuhl in das Telephon hineinflüstern, jeden Satz reiflich überlegen und jede Wendung, die ebenso rätselhaft und unklar war wie ihr welkes, unergründliches Antlitz.

Mit »Habachtstellung« telephonierte Aubry und verbeugte sich jedesmal, wenn ihm dies die Höflichkeit zu erheischen schien, und als die Gräfin den Hörer wieder eingehängt hatte, blieb er noch ein paar Sekunden erwartungsvoll und respektvollst stehen.

Dann machte er sich nach dem Notariat auf den Weg, um die zehntausend Franken einzukassieren.

Aubry trat durch eine prächtige, mit blinkendem Kupfer beschlagene Toreinfahrt, stieg die Herrschaftstreppe hinauf und öffnete die Tür eines Saales, die in großen Lettern die Aufschrift »Bureau« trug, und wo ein Dutzend junger Leute, jeder an seinem Pult, mit der Abschrift, Durchsicht und Registrierung von Akten beschäftigt war.

Aubry teilte einem der Angestellten den Grund seines Kommens mit, der ihn einlud, etwas Platz zu nehmen. Der Hausbesorger zog eine Zeitung aus der Tasche und entfaltete sie.

Plötzlich wurde eine kleine Tür aufgerissen, und ein noch jugendlicher, sehr entschieden auftretender und tadellos angezogener Herr fragte herrisch, ob Herr Fourcade schon da sei.

»Herr Fourcade traf noch nicht ein«, erwiderte einer der Angestellten in ehrerbietigem Ton.

»Sagen Sie ihm, daß er mich sofort aufsuchen soll, wenn er kommt.«

»Jawohl ... doch ich höre jemand die Treppe heraufkommen, dem Gang nach dürfte er es sein.«

Gleich darauf trat Fourcade ein.

»Ah, das ist recht, Herr Fourcade!« rief der Notar.

Aubry hielt sich schleunigst die Zeitung als Maske vor das Gesicht. Er hatte in diesem Herrn Fourcade den »kleinen Angestellten«, den »Schriftsteller« wiedererkannt, der nicht »gewohnt war, zu trinken«.

Der Notar war an ihn herangetreten und fragte ihn leise: »Nun, Fourcade, was gibt es Neues? Was stellten Sie heute nacht fest?«

»Nichts besonders Interessantes, Herr Notar.«

»Sie sehen ermüdet aus, Fourcade.«

»Kein Wunder, Herr Notar, bei so einem Wirbel ...«

»Na, ruhen Sie sich aus. Machen Sie mir nur heute im Laufe des Vormittags noch ausführlich Meldung«, und leicht und gefällig kehrte der Notar in sein Privatbureau zurück, während sich Fourcade nach einem rückwärtigen Saal begab, wo ebenfalls Angestellte, die einander ähnlich sahen wie ein Ei dem andern, über Akten gebeugt herumsaßen. Auf diese Weise hatte Aubry das Glück, von Fourcade nicht erkannt zu werden.

Aubry wurde jetzt in das Bureau des Kanzleivorstandes zitiert, der ihm mitteilte, die Gräfin hätte ihm in Abwesenheit des Herrn Feuillard den telephonischen Auftrag erteilt, Aubry zehntausend Franken auszuzahlen.

Der Hausbesorger las überall auf den verschiedenen Akten und Faszikeln den nämlichen Namen »Feuillard«. Er befand sich also bei Herrn Feuillard, und dieser Herr ließ durch einen seiner Angestellten »Freddy, die Natter« beaufsichtigen. Und Aubry kannte diesen Beamten, kannte den Herrn Fourcade aus dem Effeff, letzterer kannte aber Aubry nicht so gut, und Herr Feuillard den Hausbesorger überhaupt nicht. Weder der eine noch der andere hatte ihn hinter seiner Zeitung wahrgenommen. Herr Feuillard würde zweifelsohne erfahren, daß ein gewisser Aubry im Auftrage der Gräfin Prase zehntausend Franken erhalten habe, aber das Gesicht und die Person dieses gewissen Aubry waren ihm unbekannt. Und was Fourcade anbetraf, würde er nie imstande sein, die Verbindung herzustellen zwischen dem Betrunkenen in der Bar und dem Manne, der Geld holen gekommen war.

Ein Glückszufall hatte Aubry in den Besitz des Geheimnisses gesetzt, das er zu ergründen den Befehl hatte. Seine Brust hob sich vor Freude. Allerdings war er nur der Nutznießer eines reinen Zufalles. Dennoch schmeichelte es seiner Eitelkeit ungemein. Es drängte ihn, die gute Neuigkeit der Gräfin mitzuteilen. Aber persönlich wollte er sich nicht nach Neuilly begeben, auch wäre es eine Unvorsichtigkeit sondergleichen gewesen, die man ihm nicht zutrauen konnte, hätte er seinen Namen der zweifelhaften Diskretion des Telephons preisgegeben. In Deckworten und Umschreibungen sich auszudrücken, dem fühlte er sich nicht gewachsen. Er schrieb daher dem Grafen Lionel mit verstellter Handschrift folgende Rohrpostkarte:

»Hochgeborener Herr Graf!

Die Person, von der Euer Hochgeboren gern wissen möchten, wer sie ist, und die sich mit dem beschäftigt, was Herrn Grafen bekannt ist, heißt Feuillard und ist der bekannte Notar.

Euer Hochgeboren untertänigster

Tournon.«

Und von Stolz gebläht, seinem Genie zugute schreibend, was er lediglich einem märchenhaften Zufall zu verdanken hatte, warf Aubry die Rohrpostkarte in die Öffnung des Briefkastens, wie man einem kleinen, armen Bettler einen köstlichen Leckerbissen in den Mund steckt.


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