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XVII.

Gilberte in Luvercy.

Fünfhundert Meter vom Dorf entfernt und dem Schlosse entgegengesetzt liegt der Friedhof von Luvercy. Die Gräfin drückte den Wunsch aus, einen Augenblick zu halten. Gilberte ging sofort auf den Wunsch ihrer Tante ein, im Innern bedauernd, daß ihr nicht zuerst dieser Gedanke gekommen war.

Das Auto stoppte, und Jean Mareuil begleitete die beiden Damen nach dem Grab, unter dessen Gruftdeckel die alten Lavals ruhten, die Eltern Guys und seiner schönen Frau, und seine eigenen, aus Afrika auf Staatskosten überführten sterblichen Überreste.

Nach kurzem Gebet umschritt die Gräfin das Monument mit musterndem Blick. Hier richtete sie eine Blume, dort ein etwas schief hängendes Kreuz aus Glasperlen. Dann wartete sie, bis ihre Nichte »zum Aufbruch blase«.

Gilberte raffte sich auf. Mit ihr schien Jean Mareuil von diesem ersten, traurigen Besuch bei den Eltern seiner Verlobten tief bewegt. Er sah bleich aus und dachte wohl daran, wie unter normalen Verhältnissen diese Begegnung die Quelle von Freude und schönen Erinnerungen gewesen wäre, und nun waren es zwei Tote, die sie empfingen, zwei in jungen Jahren unter dramatischen Umständen Dahingeschiedene, von denen der eine das Geheimnis seines Sterbens mit in das Jenseits hinübergenommen hatte.

Jean Mareuil sah wirklich recht blaß aus. Auch Gilbertes Wangen waren nicht gerade sehr rosig angehaucht. Aber mit größerer Erregung erfüllte sie begreiflicherweise der Gedanke, das Schloß wiedersehen zu müssen, wo das Gespenst des Grauens ihr aus allen Ecken und Winkeln entgegengrinsen sollte.

Beim Verlassen des Kirchhofs erklärte sie, den Weg bis zu dem Schloß zu Fuß zurücklegen zu wollen. Die Gräfin stimmte mit müdem Lächeln zu, sie fühlte, daß ihre Nichte den Augenblick möglichst hinausschieben wollte, durch das Parkgitter zu schreiten.

Was die meisten Psychologen vorausgesagt hätten, geschah. Gilberte fand in Luvercy nicht jenen furchtbaren Schrecken, den sie gefürchtet und den Jean Mareuil für sie gefürchtet hatte. Fünf Jahre waren im Strom der Zeit dahingegangen seit jenem Drama von Luvercy und seitdem Gilberte die ihr so teure Herrschaft verlassen hatte. Inzwischen war sie vom Kind zur Jungfrau herangewachsen und ihr Gedankengang ein anderer geworden. Schloß und Park erschienen ihr nicht mehr die gleichen. Alles kam ihr kleiner, beschränkter vor. Die imposanten majestätischen Formen, die ihre krankhafte Furcht noch vergrößert hatten, hatten ihr Finsteres, Unheimliches verloren. Das Proportionsverhältnis zwischen ihr und Luvercy war ein anderes.

Mit ihren Kleinmädchenerinnerungen, einer Unmasse kindlicher Vorstellungen war sie hingekommen, und sie staunte, bewegt und traurig zugleich, über die, wenn auch segensreiche, Enttäuschung, die sie jetzt empfand. Sie war wie aus den Wolken gefallen. Aus dem ungeschlachten Riesen, den sie wiederzusehen vermeint hatte, schien ihr ein kleines, verschrumpftes Männlein geworden zu sein.

Wo waren auch die vielen Blumen von einst? Wo die zahlreiche Dienerschaft? ... Dieser Heurtebois war ein Unbekannter.

Wie in ein Puppenhaus trat sie in das große Schloß ein. Der Park, der ihr ehedem wie ein unendlich weites Waldrevier vorgekommen, schien ihr jetzt nur mehr ein Garten zu sein.

Der Eindruck war ein so gewaltiger, daß sie fast ganz ihre Furcht vergaß, ihre kindische Furcht, dieses Überbleibsel von früher; auch sie schrumpfte auf das allgemeine Maß zusammen und glich sich dem übrigen an. Die Viper stellte gar nicht mehr die schreckliche Bedrohung dar, wie Gilberte sie sich eingebildet hatte, diese Unmenge von versteckt auf sie lauernden Gefahren. Die Viper war von ihr in Luvercy ebenso weit entfernt wie wo anders, vielleicht noch weiter! Und als sie all dies feststellte, schämte sich Gilberte ein wenig.

Nachdem die erste wehmütige Überraschung vorüber war – so etwa, wie wenn man ein hübsches Sommerkleid, das uns gut stand und das wir in glücklichen Tagen trugen, nun aber abgetragen und uns zu klein geworden ist, betrachtet –, erfüllte Gilberte das Gefühl großer Freude. Sie faßte Mareuil bei der Hand und schleppte ihn mit sich, um ihm die Stätte ihrer Kindheit zu zeigen.

Entzückt über diesen Stimmungswechsel, begleiteten die Gräfin und ihr Sohn die Verlobten. Mareuil konnte aber nur schlecht seine Besorgnis maskieren, beziehungsweise jenes innere Gefühl, das einen in Verbindung mit manch andern unklaren Ahnungen oder Befürchtungen in wirre und ungute Laune versetzt.

»Sind Sie schlecht aufgelegt?« fragte Gilberte.

»Ich? Wie können Sie denken?« protestierte Mareuil.

Sie schaute ihn an. Er biß die Lippen aufeinander, blickte unstet herum und zwang sich zu einem verlegenen Lächeln. Aber in ihrem jugendlichen, freudigen Ungestüm achtete sie nicht allzusehr darauf und zog ihn mit sich.

Zuerst besichtigte man das Schloß und durchschritt die Räume des Hochparterres. Salon, Speisezimmer und Rauchzimmer enthielten verschiedene Gemälde, die Mareuil interessierten. Besonders lange blieb er jedoch im Billardsaal vor einer über einer Konsole hängenden kleinen Leinwand stehen. Er nahm das Bild herab, trat an das Fenster und betrachtete die Malerei durch die Lupe, die er als Kunstliebhaber stets bei sich trug.

»Hat das vielleicht irgendeinen Wert?« fragte die Gräfin. »Ich hab' das Ding auf dem Speicher gefunden und es da hingehängt, als wir Luvercy verließen, als Ersatz für einen Meissonier, den ich in meinem Zimmer zu Neuilly unterbringen wollte.«

»Der Wert dieses Bildes ist überhaupt gar nicht abzuschätzen, Gräfin!« rief Mareuil. »Es ist ein Manet, eine kleine Studie des Modells für die ›Olympia‹ ... Wundervoll! Sie besitzen da einen Schatz, von dem Sie keine Ahnung hatten.«

Mareuil befestigte das Bild wieder an der Wand und betrachtete es mit einem Wohlbehagen, das anscheinend seine schwarzen Gedanken verscheuchte.

»Was sagen Sie zu dem Rahmen?« meinte Lionel mit leichtem spöttischen Unterton.

»Der Rahmen ist scheußlich,« erwiderte Mareuil, »viel zu goldüberladen und überhaupt geschmacklos.«

Dann vertiefte er sich, weiterschreitend, wieder in sein finsteres Nachgrübeln.

Die Appartements des Hochparterres standen alle durch Türen miteinander in Verbindung, nicht aber das Schlafzimmer der verstorbenen Frau Laval, das nur vom Gang her einen direkten Eingang hatte. Der kreuzgangartig rings um den Ehrenhof sich hinziehende Korridor wies große Fenster auf und Doppeltüren nach den einzelnen Salons und Sälen.

Die Herrschaften durchschritten den mit Marmor gepflasterten Korridor und betraten jetzt das Schlafzimmer der Frau Guy Laval.

Gilberte heuchelte eine gewisse Gleichgültigkeit, doch konnte sie nicht umhin, ängstliche Blicke unter die Möbel zu werfen und sich mehr in der Mitte des Zimmer zu halten, in respektvoller Entfernung vom Bette und den mit Überzügen versehenen Polstermöbeln, die dunkle Verstecke darstellten.

»Kommen Sie«, drehte sie sich zu Mareuil um. »Mamas Zimmer!«

»Ah!« erwiderte Mareuil tonlos.

Er blieb auf der Schwelle stehen und begnügte sich, den Raum von weitem zu betrachten. Als die Gräfin dann die zweite Korridortür, die in das Ankleidekabinett mündete, öffnete, drehte er sich um und schaute auch in dieses Zimmer, das ihm aber nicht ebenso großen Respekt einzuflößen schien.

Gilberte hatte inzwischen das Ankleidezimmer schon durchschritten und betrat ihr eigenes Zimmer, dessen Enge und Schlichtheit ihr einen kleinen Ausruf des Staunens entlockten.

»Wenn du dich wieder im Schloß installieren willst, kannst du ja das Zimmer deiner Mama nehmen«, meinte die Gräfin.

Das junge Mädchen erhob keinen Widerspruch.

»Welcher Stimmungsumschwung!« wunderte sich Mareuil.

»Ich verstehe es selber nicht«, entgegnete Gilberte lustig. »Wenn mir einer das heute morgen gesagt hätte. Mir scheint, ich bin jetzt von meiner Wahnidee geheilt.«

»Geheilt ist etwas viel behauptet!«

»Unken Sie nicht, Jean! Kommen Sie, setzen wir unsern Rundgang fort, ja?«

Nun besichtigte man die Räume der oberen Stockwerke, dann die Orangerie und die Nebengebäude und verfügte sich hierauf in den Park hinab, dessen alte Bäume in jungem, saftigem Grün prangten. Befehlsgewärtig schritt der greise Heurtebois hinter der Gräfin her.

Sie schlenderten selbander längs einer Rasenfläche eine Allee hinab, als Gilberte auf den Gedanken kam, zur Erinnerung an ihre Brautzeit und den ersten Besuch Jean Mareuils in Luvercy neben einer steinernen Bank, die sie besonders liebte und auf der sie als junges Mädchen oft von der Zukunft geträumt, einen Baum zu pflanzen. Ganz nahe stand eine riesige Platane, die mit ihrem Blätterdach junge, aus dem Boden aufgeschossene Triebe überschattete. Es war unschwer, einen dieser Schößlinge zu verpflanzen. Man wählte einen besonders kräftigen, gerade wie eine Reitpeitsche gewachsenen Trieb, den vier Blätter schmückten. Nun bedurfte man aber einer Schaufel, um das Loch in die Erde zu graben, das seine Wurzeln aufnehmen sollte.

»Eine Sekunde!« rief Lionel. »Ich weiß, wo das Gartenwerkzeug sich befindet, und werde eine Schaufel holen.«

Der Graf lief nach dem Schloß; Heurtebois rief ihm nach: »In dem Pavillon neben der Weinpresse, Herr Graf, befinden sich Spaten und Hacken.«

»Weiß schon, weiß schon!«

»Der Herr Graf hat ein gutes Gedächtnis«, schmunzelte der alte Schnauzbart augendienerisch.

»Früher arbeiteten wir zusammen im Garten«, sagte Gilberte. »Jean, schauen Sie doch die schönen Rosen!«

Diese Rosenstöcke und wundervollen Boskette, die rings die Luft mit balsamischem Dufte erfüllten, stammten noch aus den Tagen Frau Lavals, die Rosen ungemein liebte. Mitten in dem Rasenplatze stand ein solcher reichblühender Strauch. Zuerst betrachtete ihn Gilberte in stummer Bewunderung eine ganze Weile, dann vermochte sie der Verlockung nicht zu widerstehen und schritt durch das Gras auf den Rosenstock zu, und während Lionel mit geschwungenem Spaten herbeieilte, begann sie einen Strauß zu binden, wobei ihr die Gräfin behilflich war, während Mareuil neben Lionel stand, dem Heurtebois schüchtern Ratschläge zu geben wagte.

Die beiden Damen gaben sich lachend ihrer graziösen Tätigkeit hin, als plötzlich ein schwacher Schmerzensschrei ertönte.

Gilberte hatte ihn ausgestoßen. Jäh wandte sich Mareuil um. Alle Farbe war aus seinem Antlitz gewichen, und sein Auge hatte einen harten, drohenden Ausdruck. Er erblickte Gilberte auf dem Boden ausgestreckt und die Gräfin, die sich in höchster Aufregung über sie beugte.

Man ließ Schößling Schößling sein, und die drei Männer, Heurtebois als letzter, stürzten herbei.

Totenbleich und am ganzen Leibe zitternd, kniete sich Mareuil neben das junge Mädchen nieder.

Ratloses Nichtverstehen sprach aus den Mienen aller.

»Sie hat sich gestochen!« stammelte Mareuil, die schlaffe Hand seiner Verlobten aufhebend. »Bitte, hier in den Finger hat sie sich mit einem Dorn gestochen.«

»Und hat sich eingebildet, eine Schlange habe sie gebissen«, fügte Lionel hinzu. »Aber es war doch wohl nichts als ein Rosendorn?«

»Sicherlich!« Mareuil atmete sichtlich auf.

Gilberte war aber immer noch ohnmächtig. Sie schlief den unheimlichen Halbschlaf einer Scheintoten. Ihre Haut war wachsfarben, ihre zusammengezogenen Nasenflügel ängstigten einen. Mareuil verspürte von neuem Unruhe. Mit einem Satz sprang er auf, rannte davon und verschwand hinter einem buschigen Boskett.

»Was gibt's? Was hat er?« rief die Gräfin.

»Weiß der Teufel!« knurrte Lionel.

Doch schon erschien Mareuil wieder, in der Hand einen Krug frischen Wassers.

Gilberte seufzte auf!

Rasch benetzte er mittels seines eingetauchten Taschentuches Schläfen und Stirn des jungen Mädchens mit dem erfrischenden Naß. Da öffnete sie die Lider!

»Die Ohnmacht ist vorbei!« erklärte Mareuil.

Gräfin Prase und Lionel wechselten hinter seinem Rücken fragende Blicke. Wieso wußte Mareuil, der nie in Luvercy gewesen, daß sich hinter jenem Boskett eine Grotte mit klarer Quelle befand?

Gilberte kam wieder langsam zu sich, aber ihre Augen schienen noch zu schlafen, ihre Seele von unsichtbaren Lidern geschlossen zu sein. Nun kehrte etwas Leben in die Pupillen und Farbe in ihre Wangen zurück. Doch kein Lächeln spielte um ihre Lippen.

»Werde ich sterben?« hauchte sie. »Ich bin gestochen worden.«

»Nein, Gilberte«, tröstete sie Mareuil sanft. »Sie werden nicht sterben, Sie haben sich nur an einem Rosendorn verletzt.«

Er richtete sie in sitzende Stellung auf dem Rasen auf und betrachtete die Spitze ihres Daumens, an dem eine Blutperle hing.

»Seien Sie ganz beruhigt! Es ist gar nichts ... nicht der Mühe wert, davon zu reden.«

»Gott, wie ich dumm bin!« lächelte sie jetzt. »Was hab' ich für Ängste ausgestanden. Aber wissen Sie, Mama ist genau an der gleichen Stelle gestochen worden, und da befiel mich plötzlich wieder die alte Furcht.«

Als Mareuil sich umwandte, sah er, daß die Blicke der Gräfin erstaunt, fragend auf ihm ruhten. Sofort veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Man sah es ihm an, daß er angestrengt darüber nachdachte, warum sie ihn so sonderbar anstarrte? Und plötzlich verfinsterte sich seine Stirn in dumpfem Schrecken.

»Wieso kannte ich die Quelle?« murmelte er betroffen.

»Was sagen Sie?« fragte Gilberte.

Er antwortete nicht. Sein Geist war auf der Suche nach seinem eigenen »Ich«.

»Aha, mein Freund,« meinte Gilberte lustig, »man schwebt wieder einmal in höheren Sphären!«

Der Rundgang durch den Park nahm hiermit sein Ende. Nachdem die kleine Platane eingepflanzt worden war, kehrten die Herrschaften nach dem Schloß zurück und nahmen im Billardzimmer den Tee.

Die Gräfin und Lionel ließen sich Mareuil gegenüber nicht das geringste anmerken, als habe sein Benehmen irgendwelche Veranlassung zur Verwunderung gegeben. Und auch er wahrte »das Gesicht«, obwohl man fühlte, daß er etwas verlegen und befangen war.

»Ich bin so müde ... so schrecklich müde!« meinte Gilberte.

Ihre Tante schlug ihr vor, sich auszuruhen und in Luvercy zu übernachten, in der Hoffnung, das junge Mädchen zu bestimmen, sich ganz zu installieren. Aber Mareuil lehnte sich energisch dagegen auf.

»Das leide ich unter gar keinen Umständen, Gilberte«, erklärte er kategorisch. »Sie sehen selbst, daß nichts übereilt werden darf. In einem Tage werden Sie Ihre Wahnidee nicht los. Kehren Sie getrost nach Paris zurück. Nach und nach werden Sie sich schon an Luvercy wieder gewöhnen.«

»Offenbar beunruhigt Sie Luvercy gewaltig?« versetzte Lionel sarkastisch.

Mareuil schien betroffen. Er senkte den Blick und schwieg.

»Wenn wir also nicht hier nächtigen wollen, ist es Zeit, aufzubrechen!« erklärte die Gräfin.

Man erhob sich.

Ehe er den Saal verließ, trat Mareuil nochmals an den kleinen »Manet« heran. Seine Sammlerpassion schien über seine rätselhafte Angst den Sieg davongetragen zu haben.

»Wirklich ein Juwel!« sagte er.

»Wovon ich keine Ahnung hatte«, erwiderte die Gräfin, ihre Handschuhe anziehend.

Lionel und Gilberte traten auf den Gang hinaus, Mareuil begegnete dem Blick der Gräfin und beeilte sich, nachzukommen.


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