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XIV.

Im Odeon.

»Vergiß nicht den Fächer!« ermahnte Lionel seine Mutter und entfaltete die riesigen Straußenfedern. Wie »Hamlet, Prinz von Dänemark« auf vielen Bühnen der Welt seine Mutter und seinen ruchlosen Stiefvater zu betrachten pflegt, so schaute Lionel durch die Schildpattstangen des Fächers seine Mutter an.

Jetzt fuhr man in prächtigem Auto nach dem ziemlich weit entfernten Theater auf dem linken Seineufer.

Jean Mareuil war heute entschieden gesprächiger aufgelegt als damals bei dem »Beobachtungssouper«.

»Es sind mindestens fünf bis sechs Jahre her, seit ich mir den ›Staatsanwalt Hallers‹ zum ersten Male anschaute«, sagte er.

»Wie? Sie kennen bereits das Stück?« staunte die Gräfin. »Warum teilten Sie uns das neulich abend nicht mit?«

»O, man kann sich dies Bühnenwerk ganz gut zweimal ansehen«, wich Mareuil der direkten Beantwortung der Frage aus. »Es ist mir deshalb recht gut in Erinnerung geblieben, weil das Sujet sachlich und mit kaltem Realismus, ich möchte sagen künstlerisch-wissenschaftlich, behandelt wird. Allerdings folgt es in der Darstellung des ›Zweiten Ich‹ der damals unter den Psychiatern herrschenden Auffassung. Jetzt neigt man, wenn ich mich nicht irre, in ärztlichen Kreisen mehr zu der Ansicht hin, daß es sich bei dem Problem lediglich um eine bei Nervenkranken oft beobachtete Täuschung handelt. Man nimmt heute allgemein an, das ›Doppelte Bewußtsein‹ sei nichts als Simulation. Damit wird die Sache ihres entsetzlichen, unterminierenden Charakters entkleidet, wie er uns im ›Staatsanwalt Hallers‹ vor Augen geführt wird. Es wäre für einen Menschen wohl das fürchterlichste Unglück, das ihn treffen könnte, wenn es sich wirklich so verhielte, wie uns das von Lindau stammende Stück glauben machen will, und ich weiß noch sehr gut, welch gewaltigen Eindruck auf mich das Drama damals machte. Ich war noch sehr jung, und tagelang konnte ich mich nicht aus dem fürchterlichen Banne befreien. Noch heute ist es mir peinlich, mich daran zu erinnern. Ich muß mir sogar Gewalt antun, wenn ich darüber spreche. Noch niemanden gestand ich dies ein, und ich schäme mich.«

Lionel und seine Mutter wechselten einen verstohlenen Blick.

»Sie glauben somit nicht, daß eine Person zwei Naturen haben kann?« fragte die Gräfin.

»So, wie das Problem für gewöhnlich aufgefaßt wird, oder besser, wie es die Neurologen noch jüngst zu erklären suchten – nein. Sie vertraten einen viel zu kategorischen Standpunkt. Sie nahmen zu wenig Rücksicht auf die Simulation, die – scharf betrachtet – oft der Grundzug der Psychosen ist.«

»Sie leugnen also, daß ein Mensch zwei Leben führen kann, zum Beispiel ein Nacht- und ein Tagesleben wie der Staatsanwalt Hallers?«

»Jener Staatsanwalt, der niemals außerhalb der Theaterkulissen existierte!« vervollständigte Mareuil den Satz.

»Zugegeben«, nickte Lionel. »Aber der Bankier Williams existierte wirklich. Er lebte gleichzeitig zwei voneinander ganz verschiedene Leben.«

»Bei ihm handelte es sich nur um Gedächtnisschwäche, um nichts anderes.«

»Doch zitieren Taine, Ridot und andere eine Unmenge von ›Subjekten‹?«

»Antiquierte Irrtümer! Ihre Abhandlungen beruhen auf mangelhafter Beobachtung und sind höchst vorsichtig aufzunehmen.«

»Und doch ... und doch ... lieber Freund, mir ist ein Fall bekannt, der eine verfluchte Ähnlichkeit mit dem ›Staatsanwalt Hallers‹ hat, und in dem Grade, daß man vermuten könnte, das Stück habe unbewußt das ›Subjekt‹ dazu angetrieben, ein ›Zweites Ich‹ anzunehmen.«

»Das würde mich nicht wundern«, meinte Mareuil. »Nach dem Eindruck zu urteilen, den das Drama seinerzeit auf mich machte, begreife ich ganz gut, daß es Halbwahnsinn auszulösen vermag. Dies entkräftet aber in keiner Weise die aktuelle Theorie.«

»Der Betreffende, den ich meine«, fuhr Lionel fort, »benimmt sich genau so wie der Staatsanwalt Hallers, was ihn nicht daran hindert, dieselben Theorien wie Sie zu entwickeln, obwohl er das lebende Beispiel ihrer Unrichtigkeit ist.«

Jean Mareuil lachte.

»Sie lachen wie ein Mensch, der seiner Sache nicht ganz sicher ist«, bemerkte Graf Prase. »Leider kann ich Ihnen nicht den Namen des betreffenden ›Subjektes‹ nennen.«

»Was liegt daran? Ich versichere Ihnen, daß mich diese Fragen schon längst nicht mehr interessieren.«

Aber sein Gesichtsausdruck strafte ihn Lügen. Das Beklemmende fruchtlosen Suchens, sich etwas in das Gedächtnis zurückzurufen, verzerrte die Muskeln seines Antlitzes.

Es muß jedoch zugegeben werden, daß er den einzelnen Akten des Dramas folgte, ohne ein außergewöhnliches Interesse zu verraten. Gilberte und ihre Tante saßen auf den Vorderplätzen der Loge, während Lionel im Hintergrund jede Miene und jede Geste Mareuils belauerte.

Er nahm jedoch höchstens wahr, daß Mareuil seine Aufmerksamkeit verdoppelte, wenn Gémier, der die Rolle Hallers spielte, die Seelenqual und dumpfe Angst des Staatsanwaltes zum Ausdruck brachte, so oft diesen irgendeine unerklärliche, kaum angedeutete Offenbarung oder Entdeckung an das dunkle Geheimnis erinnerte, das ihn umschwebte.

Die Probe zeitigte somit keinerlei greifbares Resultat.

Dafür genossen die Gräfin und ihr Sohn, deren dunkle Pläne wir ja kennen, die Genugtuung, daß sich Gilberte über die Doppelnatur des Beamten-Banditen ungeheuer aufregte. Von derartigen traurigen und monströsen Erscheinungen hatte sie bisher keine Ahnung gehabt. Ihre leicht empfängliche Natur sträubte sich dagegen.

»Das ist ja entsetzlich!« rief sie, »grauenhaft!«

Der Gräfin und Lionel klangen diese Worte angenehm in den Ohren. Jean Mareuil, mein Junge – dachte sich der Graf –, mit dir ist's Schluß!

Da Lionel einsah, daß der Abend wohl kein weiteres Resultat zeitigen würde, verließ er während des letzten Zwischenaktes die Loge mit der Absicht, erst gegen Schluß zurückzukehren, wenn Hallers, durch ein mehr bühnenmäßiges als klinisches Verfahren geheilt, sein ›Zweites Ich‹ auf immer abstreifen würde, und begab sich nach der nur zwei Schritte von da entfernten Rue de Tournon zu der Nr. 47, um Aubry den machiavellischen Plan der Gräfin auseinanderzusetzen.

Zunächst teilte ihm der geriebene Hausbesorger mit, daß er bei Java nicht viel Glück gehabt habe.

Am Nachmittag hatte er sich nach dem Hotel begeben, wo die Gauklerin wohnte, und ad hoc einen ihm befreundeten Agenten der Geheimpolizei mitgenommen, der sich bereit erklärt hatte, ihm mit seinem Prestige und seiner Legitimationskarte als Polizeiinspektor hilfreich unter die Arme zu greifen.

Java unterhielt sich gerade mit der Zimmervermieterin. Aubrys Versuch, mit dem Mädchen ein Gespräch anzuknüpfen, scheiterte an der abweisenden Haltung der Schönen, und die Sache zu forcieren, schien Aubry nicht geraten. Fast unmittelbar darauf verließ die Schlangenbändigerin mit ihrem Pudel und ihrer Ledertasche das Haus. Im ganzen Viertel nannte man sie nicht anders, obwohl sie keinerlei begründeten Anspruch auf diesen Titel erheben konnte.

Die Hotelinhaberin zeigte sich, dank der Legitimationskarte des Polizisten, umgänglicher, aber sie wußte von Java und Freddy wenig, weil das Paar erst seit kurzem hier wohnte.

»Diese Art Leute bleiben nie lang in ein und demselben Hause«, sagte sie. »Sie zigeunern immer umher, ein bis zwei Monate bleiben die Menschen, und dann geht's wieder weiter, um später wiederzukommen. Die beiden benehmen sich tadellos. Sie bezahlen pünktlich und arbeiten. Mindestens sieht letzteres so aus. Die Frau führt ihre Schlangen vor, und den Mann sieht man niemals unter Tags.«

Nun zeigte sie den Besuchern ihr Fremdenbuch.

Aubry hatte sich Notizen gemacht. Er zog sie hervor und las dem Grafen den Namen vor, unter dem sich Jean Mareuil bei der Zimmerfrau angemeldet hatte.

»Bescard, Albert Léon, Gelegenheitsarbeiter.«

»Weiter!« sagte Lionel. »Falscher Name, ohne Interesse.«

»Java ist folgendermaßen gemeldet, Herr Graf: Arréguy, Marie-Louise Ernestine Adrienne ...«

»Interesselos, interesselos!«

»Mein Freund, der Polizist, legte mir nahe, durch die Wohnungspolizei Erkundigungen einzuziehen, ich sagte ihm, man würde ihm die Antwort mitteilen.«

Nach einer Weile Nachdenken entschied Lionel.

»Teilen Sie ihm im Gegenteil mit, Freddy und Java absolut ungeschoren zu lassen. Nichts darf in ihnen den Verdacht wecken, daß sie beobachtet werden. Das würde einen Plan durchkreuzen, den ich Ihnen jetzt auseinandersetzen werde.

Wir wünschen, daß Freddy einen Diebstahl, einen Einbruch begehe, und zwar in einer Weise, daß Fräulein Gilberte das Faktum nicht bezweifeln kann. Verstehen Sie, Aubry?«

»Durchaus, Herr Graf!« nickte der Hausbesorger, dessen Tierfratze vor Vergnügen strahlte.

»Wir zählen auf Sie!« bemerkte der Graf. »Sie müssen sich mit dem Manne anfreunden und ihn reif machen.«

»Verstehe«, erklärte Aubry funkelnden Auges. »Ich werde schon sein Gewissen gängeln, mehr brauche ich nicht zu sagen.«

Der Ausdruck »sein Gewissen gängeln« fiel Lionel auf. Er betrachtete den Hausbesorger schärfer, und konnte nicht umhin, eine Häßlichkeit anzustaunen, die verworfene Bosheit wie wollüstigen Schweiß ausschwitzte. Aubry hatte sich bereits entsprechend angezogen, um in der »Bar der Kumpanei« seines Spionenamtes zu walten, und er sah einem von Freddys Sippschaft ähnlich wie ein Ei dem andern. So, wie er daherkam, hätte man sich vor ihm bei Mondschein und in einer öden Gasse geradezu fürchten müssen. Zudem machte der Ausdruck hämischer Freude sein ohnehin abstoßendes Gesicht noch widerlicher.

»Aubry, Sie sind – glänzend!« grinste Lionel.

Der Hausbesorger stimmte ein derart vulgäres, schallendes Gelächter an, daß der Graf es als eine direkte Insulte empfand. Von oben herab erklärte er, halb fragend, halb wie im Selbstgespräche: »Es wird wohl nicht mehr notwendig sein, daß ich vor Jean Mareuils Palais Vorpaß halte?«

Aubry buckelte. »Durchaus nicht mehr notwendig, Herr Graf, denn Jean Mareuil begibt sich ja allnächtlich entweder nach der ›Bar der Kumpanei‹ oder dem Hôtel garni. Und da bin ich ja da! Herr Graf sind vollkommen frei.«

»Gut. Aber wir sind noch nicht zu Ende. Wir müssen auch noch herausbringen, wer der ›gute Geist‹ ist – Sie wissen doch? – der Unbekannte, der sich die Aufgabe gestellt hat, Jean Mareuil-Freddy auf dem Pfad der Tugend zu erhalten.«

»Sehr wohl, Herr Graf.«

»Sie können sich denken, daß er Sie beobachten wird, wenn Sie sich an Freddy heranmachen. Man wird Ihr Tun und Treiben ausspionieren und Ihre Pläne zu durchkreuzen trachten. Hüten Sie sich also, und vor allem heißt es, festzustellen, wer uns eventuell Knüppel zwischen die Beine wirft.«

»Ganz wohl, Herr Graf, bin ich im Bilde, zu dienen.«

»Also, adieu, Aubry, und viel Glück. Sie brauchen sich nicht zu beeilen, in die Bar zu kommen, Ihr ›Freddy‹ sitzt noch momentan im Odeon bei meiner Mutter in der Loge. Er wohnt gerade dem letzten Akt des ›Staatsanwaltes Hallers‹ bei.«

»Ich muß mir das Stück auch einmal, an einem Sonntag bei einer Matinee, ansehen«, sagte Aubry. »Mir scheint, es ist zum Wälzen.«

Als Lionel die Portierloge verlassen hatte, atmete er, sich erleichtert fühlend, die frische Nachtluft mit vollen Lungen ein und dachte nicht mehr in seiner Sorglosigkeit an den Menschen, von dem er eben gegangen war.

Fünf Minuten später stieg er im Odeon die nach dem ersten Rang führende Marmortreppe empor.

Rings im Theater schuf der Gegensatz von Licht und Stille jene geheimnisvolle, geruhsame Atmosphäre, die überall auf Gängen und Galerien und in den Logen herrscht, wenn bei verdunkeltem Saal die Masse der Zuschauer den Künstlern auf der Bühne lauscht.

Lionel war kein einfältiger Mensch. Er genoß den Reiz des stummen, glänzenden Schauspieles, das einem mitunter mehr inneres Wohlbehagen bereitet als jenes, das über die Bretter geht, für das man gekommen ist, seinen Sitz bezahlt hat und das von stolzeren Namen signiert ist als »Licht« und »Stille«.

Auf dem inneren Rundgang hörte man die Stimme der Schauspieler.

Lionel ließ sich die kleine Tür der Loge öffnen und traf im Halbdunkel wieder die drei »Akteure« an, die mit ihm in einem Drama mitwirkten, das gewiß nicht weniger packend war als das, welches sich hier bei Rampenbeleuchtung und auf Grund einer geistvollen Dichtung abwickelte.

Kurz darauf senkte sich der Vorhang. Im Tohuwabohu des allgemeinen Aufbruches gab Gilberte temperamentvoll ihr Urteil ab.

»Das reinste Alpdrücken! Ich bin noch ganz krank, Mareuil! Wissen Sie, solche Sachen sind greulich!«

»Regen Sie sich nicht auf, Gilberte. Es ist das Recht der Dichter und Bühnenschriftsteller, einzelne Züge und Geschehnisse aus der Masse, die unser Leben ausmacht, herauszunehmen, sie zu unterstreichen, zu nuancieren und hervorzuheben. Auch vereinigen sie in einem Stücke eine Unmenge von Wechselfällen und Konflikten, die sich in Wirklichkeit auf viele voneinander ganz verschiedene Begebenheiten verteilen. Sie dichten noch das ihnen Passende hinzu und legen es aus, wie es ihnen gerade zusagt. Ich kann Ihnen nur versichern, daß das ›Zweite Ich‹ niemals in dieser krassen und absoluten Art vorkommt und daß ...«

»Na, na, Mareuil!« klopfte ihm Lionel, während sie die Treppe hinabstiegen, auf die Schulter. »Sie glauben halt nicht daran, das ist alles. Ganz wie Hallers, haargenau wie Hallers, lieber Freund. Aber Sie müssen doch selbst zugeben, daß jeder Mensch zuweilen nebelhafte Erinnerungen hat, die ihn erstaunen und deren Ursprung er nicht zu ergründen vermag. Wenn man nun behaupten wollte ...«

»Gewiß, Sie haben ganz recht«, erwiderte Mareuil. »Was Sie da vorbringen, gibt es. Aber, um Himmels willen, zugestanden, daß jedem Menschen, wie Sie sagen, derartiges unterkommt, so kann doch nicht alle Welt ein doppeltes, dreifaches oder vierfaches Bewußtsein haben!«

»Ich bitte, schweigen Sie!« bat Gilberte. »Ich glaube noch immer den Staatsanwalt Hallers zu hören. Und das finde ich nicht sehr unterhaltsam, namentlich nicht, wenn Sie so reden, mein Freund!«

Lionel kaute an seiner Zigarette und verbarg ein hämisches Grinsen, während die Züge der Gräfin Prase nichtssagender denn je aussahen.


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