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Lionels Klub befand sich in einem äußerst vornehmen und komfortabel eingerichteten Palais. Überall herrschte die traditionelle, diskrete Stille, die noch dicke Teppiche und schwere, schalldämpfende Portieren unterstrichen.
»Graf Prase da? Ich bin die Gräfin Prase!«
Der Lakai in roten Kniehosen und grünem Galarock zögerte.
»Seine Mutter!« fügte die Gräfin trocken hinzu.
»Ich werde nachsehen, ob der Herr Graf da ist«, erwiderte der Lakai mit ehrerbietiger Verbeugung.
Er führte die alte Dame in einen kleinen Empfangssalon, der nach Herrengeschmack elegant möbliert war, jedoch einen nichtssagenden und kühlen Eindruck machte, wie alle Räume, die dem ausschließlichen Gebrauch der Herrenwelt dienen und wo keine Frauenhand das behaglich machende Zepter führt.
Wenige Minuten später erschien ein ganz schwarz gekleideter, livrierter und mit Brustkette geschmückter Türsteher und meldete der Gräfin untertänigst, Herr Graf Lionel befänden sich im Boxsaale und bäten seine Frau Mutter, dorthin zu kommen.
Von dem Türsteher gefolgt, durchschritt die Gräfin eine lange Flucht von Gängen und gelangte schließlich in einen mit braunem, elastischem Linoleum belegten und von oben bis unten getäfelten, nicbt allzu geräumigen Saal.
Aus einer gegenüberliegenden Tür trat Lionel. Er trug einen auffallenden, weitärmeligen, in schreienden Farben gehaltenen Kimono und um den Hals statt eines Tuches ein Frottierhandtuch. Seine nackten Füße staken in weiß verschnürten, leichten Sandalen, und an seinen Handgelenken baumelte ein Paar riesiger Boxhandschuhe. Sein zerstrubeltes Haar und die gerötete Gesichtsfarbe verrieten, daß er eine »schwere Kiste« hinter sich hatte. Er bemühte sich, die widerspenstige Schnur seines flatternden Kimonos um die Taille zu knoten.
»Verzeih', wenn ich dich in diesem Aufzug empfange. Mama. Aber dein Kommen irritiert mich. Ich dachte, dir pressiert's, mich zu sprechen. Was gibt es?«
Sie nahmen auf zwei Rohrsesseln Platz und blickten sich einen Moment an. In seinen dunklen Augen blitzte es neugierig und zugleich spöttisch auf, als ob er sich über die Frauen im allgemeinen und über seine Mutter im besonderen lustig mache, während sie einen scheuen, zaghaften Eindruck machte.
»Nun, so rede endlich!« sagte Lionel.
Die Gräfin schöpfte tief Atem.
»Vielleicht wirst du mich töricht schelten. Tatsächlich aber schien es mir vor allem dringend notwendig, dich, ohne eine Minute zu verlieren, aufzusuchen. Nun frage ich mich jedoch, ob ich nicht unter dem Eindruck ungerechtfertigter, jäher Furcht handelte ...«
»Zum Teufel, erkläre dich doch!«
»Du weißt, daß Jean Mareuil mich und Gilberte zu einer Tasse Tee einlud. Ich komme eben von dort und ließ Gilberte allein nach Neuilly fahren, um dich sofort aufzusuchen. Ich weiß nicht recht, wie ich mich dir verständlich machen soll, mich genau und präzis ausdrücken kann ... Stelle dir vor ... wegen einer kleinen Lampe kam plötzlich das Gespräch auf das Hinscheiden deiner Tante. Gilberte und ich erzählten Mareuil die schrecklichen Vorgänge der Nacht vom 19. August und das Spätere ... Was alles gesprochen wurde, kann ich dir nicht mehr genau wiedererzählen. Aber gewisse Bemerkungen und Worte, die fielen, machten mich stutzig. Eine unbestimmte Furcht fing an, sich meiner zu bemächtigen. Aber ich rede an der Sache vorbei. Hör' zu, Lionel, ich möchte dich etwas fragen. Du wirst vielleicht lachen, sogar sicher ... aber ... Im Institut hast du niemals einen Inder kennengelernt, nicht wahr? Du hast niemals mit Schlangenbeschwörern Verkehr gepflogen?«
Lionel war einen Moment baff. Dann platzte er heraus: »Da muß ich in der Tat lachen! Ich Verkehr gepflogen mit solchem Gesindel? Nie in meinem Leben bin ich einem derartigen Kerl begegnet. Das wüßtest du doch auch, Mama. Was heißt das überhaupt?«
»Das heißt, daß du mir damit einem großen Stein vom Herzen nimmst.«
»Wieso?«
»Weil man am Ende mit einer gewissen Berechtigung dich im Verdacht haben könnte, falls eine Untersuchung das Gegenteil von dem, was du mir jetzt versichert hast, ergeben würde.«
»Mich im Verdacht haben? ... Wessen im Verdacht haben?« rief Lionel, mehr und mehr aufgebracht.
»Die Schlange in das Zimmer deiner Tante gelockt zu haben oder haben locken lassen und sie wieder herausgelockt zu haben oder haben herauslocken lassen, nachdem die Tat in dem verschlossenen Zimmer geschehen war.«
»Bist du verrückt geworden, Mama? Träume ich? Wer, zum Kuckuck, hätte mich angeklagt oder dessen verdächtigt?«
»Vielleicht Jean Mareuil. Daher habe ich mich auch sofort beeilt, dich zu benachrichtigen, kaum daß mir diese Idee kam und ich Gefahr witterte. Mein einziger Gedanke war, dich aufmerksam zu machen und vorzubereiten, damit du auf eventuelle Fragen weißt, worauf sie abzielen, und du deine Antwort danach einrichten kannst.«
»Wer soll mich fragen?«
»Nein, man wird dich nicht ›vernehmen‹, aber so gesprächsweise kann man manches aus einem herausholen, ohne daß es der Betreffende merkt und eine Ahnung hat, um was es sich handelt. Übrigens fehlen mir jegliche Anhaltspunkte dafür, daß Mareuil die Absicht hat, dem Drama von Luvercy nachzuspüren. Allerdings äußerte er sich zweimal Gilberte gegenüber, ob sie nicht glücklich wäre, ›wenn ihr jemand die Mörderschlange von Luvercy tot oder lebendig brächte#8249;.«
»Nun, gut. Er soll sie suchen und finden. Nichts wäre mir willkommener, und ich will ihm sogar in dem Falle helfen.«
»Ich auch, und von Herzen gern.«
»Aber um Himmels willen, arme Mama, wie bist du nur auf den Gedanken gekommen, daß jemand die lächerliche Idee haben könnte, hinter dem Drama von Luvercy ein Verbrechen zu vermuten und mich dessen zu beschuldigen, ausgerechnet mich?«
»Alles hat dazu beigetragen, denn eine Mutter, weißt du, sieht überall Gefahren. Dieser Mareuil mit seinen Schlüsseln und Lampen machte vorhin auf mich einen ganz sonderbaren Eindruck. Die geheimnisvolle Seite seines Charakters schien unser Mißtrauen Lügen zu strafen. Aber ich habe mich geirrt, ich glaube, daß mein Verdacht doch begründet ist. Als er nämlich von Schlangenbeschwörern zu reden anfing, nachdem er kurz zuvor die Frage ventiliert hatte, ob vielleicht doch nicht bei dem Tode der Tante ein Verbrecher die Hand mit im Spiel gehabt haben könne ...«
»Weiter, weiter! Das interessiert mich ja, Mama!« knurrte Lionel. »Warum stockst du? ...«
» ... da ward es mir zum ersten Male seit jenem unseligen Ereignis klar, daß, wenn zufällig jemand der Ermordung deiner Tante angeklagt oder beschuldigt werden sollte, zunächst der Verdacht auf dich, mein armer Junge, fallen würde, auf dich, der du damals fast schon ein Mann warst und der du nach fünf Jahren nicht mehr in der Lage wärest, nachzuweisen, wo du während jener Nacht gewesen bist.«
Lionel blickte seine Mutter mitleidig an. »Arme Mama, welches Interesse hätte ich denn gehabt, so zu handeln, wie du glaubst?«
»Welches Interesse? Hast du denn vergessen, was man mir alles Schlechtes nachsagte anläßlich des Hinscheidens deines Onkels Laval? Ganz einfach das Interesse, Guy Laval zum Witwer zu machen, damit deine Mutter ihn, den mehrfachen Millionär, heiraten könne!«
Der junge Mann brach, die Hände zum Himmel erhebend, in ein so herzliches und aufrichtig klingendes Lachen aus, daß es noch ganz andere Leute als die Gräfin Prase gefangengenommen hätte.
»Es handelt sich nicht darum, ob der oder jener Verdacht berechtigt ist«, sagte sie. »Was mich betrifft, so weißt du, daß du vor meinen Augen rein und über jeden Verdacht erhaben dastehst. Auch besteht für mich kein Zweifel, daß die Viper ohne menschliche Beihilfe die Tat vollbrachte; ich wäre ja aufgewacht, oder Gilberte, die nicht schlief, hätte etwas gehört und mich sofort geweckt. Darum dreht es sich also nicht, sondern lediglich darum, einer etwaigen Beschuldigung die Spitze abzubrechen, einem Verdacht, der mir möglich schien, der aber, gottlob, nunmehr in sich selbst zusammenfällt ...«
» ... weil ich mich nie mit Schlangenbeschwörung abgab und auch mit keinem Radscha verkehrte? Hahaha, Mama, das gibst du gut!«
Die alte Dame betrachtete ihren Sohn. Stolz und Zärtlichkeit drückten sich in ihren fahlen Zügen aus. Den Kopf an die breite Brust Lionels lehnend, meinte sie schüchtern: »Du darfst es mir nicht verargen. Eine plötzliche Angst befiel mich. Ich hab' dich ja so lieb, mein großer Junge!«
»Ihr Frauen von heute seid merkwürdige Geschöpfe. Plötzlich geratet ihr in irgendeine Furcht. Du bist nervös, und wenn ich dich so anschaue und dir zuhöre, möchte ich wetten, daß du noch etwas auf dem Herzen hast. Sage es mir, komm!«
»Aber versprich mir, daß du dich nicht ärgerst.«
Furchtsam lächelte sie ihn an. Aus ihrem umflorten Blick sprach ihre heiße mütterliche Liebe und Nachsicht. Lionel runzelte die Brauen, mißtrauisch zuckte es ihm um die Mundwinkel.
»Du sagtest mir neulich über Gilberte etwas recht – Gefährliches!« begann die Gräfin. »Besinnst du dich nicht mehr? Ich war bei dir im Schlafzimmer, und da machtest du eine recht häßliche Anspielung auf ... die Grippe, der Gilberte fast erlag.«
»Ich gestehe dir, daß ich gar nichts mehr davon weiß.«
»Das ist es eben, was mich erschreckt. Du wirst dir über das Ungeheuerliche, das du manchmal vorbringst, nicht klar. Ich, deine Mutter, weiß ja, liebes Kind, daß es leere Worte sind, aber die Welt beurteilt uns nicht nur nach unseren Taten, sondern auch nach unseren Reden. Stelle dir vor, wie du es im Falle einer Anklage bereuen würdest, Dinge gesagt zu haben, die ein äußerst ungünstiges Licht auf dich zu werfen imstande sind.«
»Aber was sagte ich neulich?«
»Der Sinn deiner Worte war ungefähr der, daß, wenn Gilberte gestorben wäre, ich sie beerbt haben würde, und daß dies, alles in allem genommen, gut gewesen wäre. Warum sagst du so etwas, wenn es dir gar nicht ernst damit ist? Du könntest einmal in einen ähnlichen Fehler vor fremden Leuten verfallen, die sich von dir dann eine ganz falsche Meinung machen würden und dich wirklich ernst nähmen.«
Sie saßen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber und schauten sich in die Augen. Nachdenklich betrachtete Lionel seine Mutter, deren Blick die furchtbare Seelenfolter verriet, die sie ängstigte.
Sanfter, als es sonst seine Gewohnheit war, erwiderte er: »Ja, du hast vollkommen recht, Mama. Ich muß besser Obacht auf mich geben. Aber glaube mir, bitte, ich schwöre es dir bei der Ehre unseres Namens, mein – Zynismus drückte sich nur in Redensarten aus, niemals beging ich eine schlechte Tat.«
»Aber ich weiß es ja, Lionel!« rief die alte Dame voll Leidenschaft aus.
»Das hast du mir schon beteuert. Doch mit Frauen weiß man nie, wie man daran ist. Ich wiederhole dir, eine Tat ließ ich mir niemals zuschulden kommen ...« Und stirnrunzelnd fügte er mit düsterem Blick hinzu: » ... bis jetzt noch keine, und wahrscheinlich auch nie in der Zukunft. Es kommt darauf an ...«
»Was meinst du?«
»Daß es von dir und mir abhängt – ich rede zu dir, als würde ich mit mir selber sprechen –, denn ich bin fest entschlossen, Gilberte und deren Vermögen zu erobern, das heißt, besser gesagt, ihre Millionen mit ihr oder ohne sie.«
»Geschicklichkeit und Intrige werden genügen, um dich zum Ziele zu führen«, versicherte seine Mutter vorsichtig. »Laß mich dich leiten. Befolge meine Ratschläge Punkt für Punkt!«
»Das tue ich ja.«
»Wie steht es mit der nächtlichen Überwachung Mareuils?«
»Alles habe ich mit Aubry besprochen. Heute abend fangen wir an.«
»Viel Glück auf den Weg! Doch pass' auf dich auf, verstanden?«
»Auf Wiedersehen!« – Lionel erhob sich, ohne den Kuß der Mutter zurückzugeben. »Und halte deine Nerven im Zaum, zum Henker! Deine Redereien von den indischen Schlangenbeschwörern machen mir Sorge.«
Auf der Schwelle drehte sich die Gräfin noch einmal um. Ein armes, flehendes Lächeln umspielte ihren Mund, während Lionel achselzuckend in seinem buntscheckigen Kimono hinausschritt.