Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Weißt du, kleine Gilberte, es ist nicht mehr wie zur Zeit meiner Jugend«, hatte die Gräfin zu ihrer Nichte gesagt. »Ich finde daher die Einladung Herrn Mareuils nicht ungehörig. Niemand nimmt heutzutage daran Anstoß, wenn er dich zu einer Tasse Tee einladet. Sein Haus wird ja bald das deine werden. Aber ebenso selbstverständlich ist es, daß ich dich begleite. Hoffentlich ist dir das nicht unangenehm?«
Gilberte verbarg ihre schlechte Laune hinter einem gezwungenen Lächeln.
»Durchaus nicht, Tante. Immerhin kommst du mir etwas antiquiert vor.«
Und unwillkürlich wandte sie den Kopf zur Seite, als die Gräfin ihr die Wange streichelte und seufzend und mit wohlwollendem Vorwurf meinte: »Ich hab' dich wirklich schlecht erzogen, Gilberte!«
Jetzt saßen beide Damen in dem kleinen, sehr modern eingerichteten Empfangssalon Jean Mareuils, der sich die Ehre gegeben hatte, sie zum Tee einzuladen. Gilberte vermochte ihrer schlechten Laune nicht Herr zu werden. Sie machte ihren Gefühlen dadurch Luft, daß sie sich äußerst ausgelassen benahm und in einem Übermaße volkstümlicher Redensarten und Worte schwelgte. Auf und ab spazierend, wiegte sie sich in den Hüften und mimte einen drolligen, entzückenden Gassenjungen.
Die Gräfin verhielt sich sehr reserviert. Sie schien beleidigt, aß ihren kleinen Kuchen und ließ, Gleichgültigkeit heuchelnd, die Blicke eifrig umherschweifen.
»Haben Sie eine Zigarette?« fragte Gilberte Herrn Mareuil.
Er betrat das angrenzende Rauchkabinett. Gilberte schnitt der Tante hinter deren Rücken eines ihrer spitzbübischsten Gesichter und folgte Mareuil, was die Gräfin ungemein chokierte.
»Was haben Sie eigentlich?« fragte Mareuil zärtlich.
»Die Alte ödet mich an – deshalb bin ich knurrig.«
»Aber! ...« lächelte Mareuil nachsichtig und sanft.
»Verstehen Sie, Jean, sie ödet mich an, denn sie kam nicht her, um mich zu behüten, sondern um zu sehen, zu beobachten. Ich hab's satt!«
»Und doch ist die Gräfin in ihrem Rechte, Gilberte! Versetzen Sie sich in ihre Lage! Jetzt aber, liebe kleine Freundin, werden Sie wieder Sie selbst ... ohne Dialekt habe ich Sie lieber.«
Angsterfüllt blickte Gilberte ihn an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Hände vereinigten sich.
»Jean«, stammelte sie. »Behalten Sie mich lieb! Ich werd's nicht mehr tun, wenn Sie es nicht mögen. Nicht wahr, Sie lieben mich und werden nie aufhören, mich zu lieben? Sagen Sie es, Jean! Sagen Sie es mir!«
Da schaute er sie so ernst und zugleich innig an, daß es ihr vor seligem Glück ganz weich ums Herz wurde und all ihr Trotz sich legte. Fast kleinlaut, bemerkte sie: »Sie dürfen nicht glauben, Jean, daß ich meine Tante nicht gern habe. Ich bin ihr unendlich zugetan.«
»Wirklich?« – »Ja, wirklich!«
»Kommen Sie, man darf die Gräfin nicht allein dasitzen lassen, mindestens ich nicht. Was ist's mit der Zigarette? ... Bitte, suchen Sie sich eine aus!«
»Danke, ich mag keine mehr. Ihnen ist es doch auch lieber, wenn ich nicht rauche? Gestehen Sie es ruhig ein, Jean! Es macht mir so viel Freude, Ihnen Freude zu machen.«
Mareuil lächelte so seltsam und selig, daß Gilberte von diesem Lächern ganz bezaubert ward.
»Nun ja«, nickte er. »Ich ziehe es vor, daß Sie nicht rauchen.«
»Wie nett von Ihnen!«
»Ich liebe Sie!« fügte er, plötzlich ernst werdend, hinzu, aber mit zärtlicher, glücklicher Stimme.
Sie wollte etwas erwidern, daß auch sie seine Gefühle teile, doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Nur ein befreiendes Schluchzen entrang sich ihrer Brust. »Kommen Sie, Gilberte!« sagte er sanft.
Sie kehrten zu der Gräfin zurück, die durch ihr Lorgnon die wundervollen Gemälde des kleinen Salons bewunderte.
»Wollen Sie noch andere sehen?« fragte Mareuil. »Ich wäre glücklich, Ihnen meine neueste Erwerbung zeigen zu dürfen, einen Corot, wenn Sie diesen Meister lieben.«
Sie betraten einen großen Prunkraum mit herrlichen Skulpturen und Meistergemälden von unerhörtem Werte. Jean Mareuil machte den Cicerone. Die Gräfin lernte da manches über Kunst, wovon sie früher keine blasse Ahnung hatte, und Gilberte ließ sich, von Bewunderung erfüllt für so viel Geschmack und so reiches Wissen, von der klingenden Stimme Mareuils selig einlullen.
»Und was bergen diese Vitrinen?« fragte sie.
»O, das ist mein kleines Privatmuseum!« lächelte der Hausherr. »Jeder Mensch hat sein Steckenpferd.«
»Schlüssel ... alte Schlüssel!« bemerkte die Gräfin.
»Und antike Lämpchen!« fügte Gilberte hinzu.
»Nun ja«, meinte Mareuil, als wollte er um Entschuldigung bitten. »Schlüssel und Lampen. Schon als Kind fing ich an, diese Dinge zu sammeln. Sie übten auf mich stets eine ganz besondere Anziehungskraft aus. Komisch, nicht wahr?«
»Ein Symbol vielleicht!« bemerkte die Gräfin. »Aufmachen ... klaren Einblick gewinnen ... das lieben Sie jedenfalls.«
»Warum nicht?« erwiderte Mareuil leichthin.
»Eigentlich sollten Sie für die lange Zeit weit mehr Schlüssel und Lampen besitzen«, warf Gilberte ein. »Oder interessiert Sie dieser Sammelzweig nicht mehr?«
»Doch, aber zwischen mir und meinen Vitrinen besteht ein kleines Geheimnis.«
»Ach, lassen Sie doch hören!« lächelte die Gräfin mit der Liebenswürdigkeit und Höflichkeit der vollendeten Weltdame.
»Warum nicht, gnädigste Gräfin? Ich kaufe nämlich nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen einen Schlüssel oder eine Lampe, sozusagen, um mich fallweise aufzumuntern oder selbst zu belohnen.«
»Ich verstehe Sie nicht ganz. Verraten Sie uns der dunklen Rede Sinn«, bat Gilberte.
»Mein Gott, der Sinn ist nicht schwer zu erraten, nicht wahr, Gräfin? Jeder einzelne dieser Schlüssel oder jede einzelne dieser Lampen stellt den Lohn dar irgendeiner geglückten Studie, irgendeiner gut zu Ende geführten Nachforschung. Es mag das kindisch klingen. Bitte, erzählen Sie es auch nicht weiter. Man könnte mich auslachen.«
»Schau dir einmal dieses entzückende Lämpchen mit dem goldenen Henkel an, Tante!« rief Gilberte.
»Bronze mit Gold, römische Arbeit!« erklärte Jean, ohne mit der Wimper zu zucken. »Gefällt sie Ihnen, Gilberte? Bitte, machen Sie mir das Vergnügen, es als bescheidenes Geschenk von mir anzunehmen.«
Verwirrt nahm das junge Mädchen die Lampe in die Hand, hob sie gegen das Licht und stellte sie plötzlich wieder erschauernd an Ort und Stelle.
»Was gibt es?« erkundigte sich Mareuil. »O, was ist Ihnen?«
Bleich, nicht mehr Herrin ihrer Nerven, stand Gilberte unbeweglich da und bedeckte die Augen mit den Händen, während die Gräfin das Lämpchen aufnahm.
»Eine Schlange, wette ich! ... Richtig! Der Henkel stellt eine Viper dar!«
»Wie, gnädigste Gräfin, diese aus Gold ziselierte Natter flößt Gilberte eine derartige Angst ein?«
Gilberte nickte.
»Verzeihen Sie«, lächelte sie gezwungen. »Es ist töricht von mir, aber ich fürchte mich.«
»Seit dem Tode meiner armen Schwester graut es Gilberte vor Schlangen. Sie wissen doch ...«
»Ich weiß, Gräfin«, Mareuil verbeugte sich und faßte Gilberte bei der Hand.
Das junge Mädchen gewann wieder nach und nach ihre blühenden Farben.
»Wie dumm von mir, nicht?«
»Gewiß nicht!« entgegnete Mareuil nachdenklich. »Sie müssen einen furchtbaren Schreck erlebt haben.«
»Und was für einen!« erklärte die Gräfin. »Obwohl seitdem schon fünf Jahre verstrichen sind, leidet Gilberte noch immer an dieser Wahnidee. Doch reden wir von etwas anderem. Es ist für meine Nichte besser. Auch ich denke nur mit Gruseln an jenes Drama zurück.«
»Und doch möchte ich, daß Jean es weiß, Tante. Dann sprechen wir nicht mehr darüber. Ich will, verstehe mich wohl, daß Jean alles über meine Mama erfährt.«
Noch sehr müde, nahm Gilberte auf einem Sofa Platz und preßte die Hand ihrer Tante gegen die Schläfe.
»Erzähle Jean die Geschichte.«
Die alte Dame zögerte, sie fürchtete, die Gespenster der Vergangenheit heraufzubeschwören.
»Warum wollen Sie ihr nicht den Willen tun, Gräfin?« meinte Mareuil.
»Sie fordern von mir, daß ich furchtbare Wunden des Herzens wieder aufreiße. Als ob das Gräßliche erst gestern geschehen wäre, so deutlich sehe ich noch alles vor mir.«
Tief aufatmend begann sie sodann: »Zu Luvercy war es, im August. Anfangs Juli waren meine Schwester, Gilberte, ich und Lionel eingetroffen.«
»Lionel hatte gerade sein Abiturientenexamen hinter sich!« sagte Gilberte.
Die alte Dame fuhr fort: »Nach mehrmonatiger Abwesenheit hatte mein Schwager, Guy Laval, seine Rückkehr für den 10. August angekündigt. Wir freuten uns schon wie die Kinder darauf, ihn am Bahnhof in Paris abzuholen. Da mußte sich leider meine Schwester am Abend vorher zu Bett legen. Ein vernachlässigter Schnupfen hatte sich zu einer nicht ganz harmlosen Bronchitis entwickelt. Als mein Schwager in Luvercy eintraf, fand er seine Gattin zwar nicht in Lebensgefahr, immerhin aber recht krank zu Bett.«
»Vergiß nicht die Schlangen, Tante!«
»Nein, mein Kind! Mein Schwager hatte aus Afrika eine Unmenge Dinge mitgebracht, darunter auch Tiere. Sein ganzes Gepäck war ihm nach Luvercy gefolgt. Da er seine Frau während ihrer Krankheit nicht verlassen wollte, behielt er länger, als es ursprünglich in seiner Absicht gelegen, etwa fünfzehn Schlangen da, die er dem ›Jardin des Plantes‹ überweisen wollte.
Unter diesen Schlangen befand sich eine etwa ein Meter lange, weiß geringelte, schwarze Viper, eine unschätzbare Seltenheit. Noch nie hatte man ein Exemplar dieser Gattung gefunden. Mein Schwager war auf die Entdeckung dieser Schlange ungeheuer stolz. Unterdessen wurden die scheußlichen Reptile in der Orangerie untergebracht. Die Viper bekam eine eigene, vorn vergitterte Kiste. Guy Laval zeigte gern Freunden und Gästen seine Menagerie, und waghalsig, wie er war, und immer bereit, mit der Gefahr zu spielen, machte es ihm Spaß, die spitzen, feinen Giftzähne der Schlange zu zeigen.«
»Ich besinne mich noch sehr gut auf diese Schaustellungen«, sagte Gilberte. »Niemals versäumten wir, Lionel und ich, diese Vorführungen. Papa besaß eine kleine Gabel, mit der er die Schlange niederhielt. Um uns den Giftmechanismus zu erklären, drückte er dann auf einen der Giftzähne. Dann sah man, wie der Zahn auf die Giftdrüse wirkte, und es rann die tödliche Flüssigkeit aus dem Zahne wie der Eiter aus einem Abszeß oder der Inhalt einer Injektionsspritze aus der Hohlnadel.«
»Hierbei zerbrach einmal dein Vater einen der Giftzähne«, fuhr die Gräfin fort. »Worüber er gewaltig ergrimmte, so daß er fortab die Vorführungen einstellte.«
Mein Schwager hatte uns erzählt, wie die Viper gefangen wurde und daß sie einen Neger biß, der innerhalb weniger Sekunden den Geist aufgab. Es war uns daher bekannt, mit welch furchtbarer Geschwindigkeit das tödliche Gift dieser Schlange wirkte. Sobald der ›Jardin des Plantes‹ von dem Reptil Besitz genommen haben würde, wollten die Gelehrten das bisher noch völlig unerforschte Gift dieser Vipernart analysieren. Hören Sie, wieso es zu unserem entsetzlichen Unglück nicht dazu kam.«
»Du mußt erst die Lage der Zimmer beschreiben, Tante!«
»Sofort, Gilberte. Das Zimmer meiner Schwester lag im Hochparterre des Schlosses, anschließend daran befand sich ein in Verbindung mit dem Schlafzimmer stehendes, ziemlich geräumiges Ankleidekabinett. Mein Schwager und Lionel wohnten im ersten Stock, wo auch für gewöhnlich mein Zimmer war. Die Dienerschaft hatte man im Mansardenstockwerk untergebracht.
Tagsüber hielt ich mich bei meiner Schwester auf und nachts hatte ich mir im Ankleidekabinett ein Feldbett aufstellen lassen, um sofort bei der Hand zu sein, falls mich die Kranke rufen sollte.
Da ich nun von frühmorgens bis spät abends meine Schwester pflegte, wünschte sie, daß ich mindestens nachts Ruhe fände und daß zu diesem Zweck die Tür zwischen ihrem Zimmer und dem Ankleidekabinett geschlossen werde. Es war dies sehr zartfühlend und rücksichtsvoll von seiten der Patientin, denn es verging keine Nacht, in der sie nicht von heftigem Durst gequält wurde. Da ihr kalte Getränke verboten waren, läutete sie stets ihrer Jungfer, die ihr dann einen Kamillenaufguß brachte. Wenn dieser Dienst auch noch so leise verrichtet wurde, verursachte er doch einiges Geräusch, und dies sollte durch Schließen der Verbindungstür gedämpft werden. In Wirklichkeit wachte ich jedoch immer auf, lauschte ich doch, auch wenn ich schlief, auf alles, was nebenan vorging. Ich hörte daher jede Nacht, wie die Jungfer über den Gang ging und das Krankenzimmer betrat.
Am 19. August stieg gegen Abend Jeannes Fieber. Es herrschte eine drückende Schwüle, die naturgemäß auf den Zustand der Patientin nachteilig wirken mußte. Ich beunruhigte mich daher nicht sonderlich und zog mich wie jeden Abend in das Ankleidekabinett zurück.
Da Jeanne über etwas Atemnot klagte, öffnete ich zuvor eines der Fenster, ließ aber die Läden geschlossen. Der Arzt hatte diese Art von Lüftung gutgeheißen. Immerhin trug ich der Jungfer auf, das Fenster zuzumachen, wenn sie nachts mit dem Tee käme. Marie, so hieß die Zofe, zog sich zu gleicher Zeit wie ich zurück.
Im Ankleidekabinett traf ich die kleine Gilberte im Nachthemd.«
»Ich konnte nicht einschlafen«, sagte Fräulein Laval.
»Ich mußte Mama noch einmal umarmen. Ach, niemals werde ich diesen letzten Kuß vergessen! Arme Mama, lang, lang hielt ich sie mit meinen Armen umfangen. Als ich in das Ankleidekabinett zurückkehrte, lag Tante bereits im Bett. Erzähle jetzt weiter, Tante.«
»Die Kleine war ungeheuer aufgeregt«, fuhr die Gräfin fort. »Sie bat mich, dableiben zu dürfen. Ich nahm sie also zu mir in mein Bett und schlief bald darauf ein.«
»Ich aber machte während der ganzen Nacht kein Auge zu«, unterbrach Gilberte ihre Tante. »Das Bett war zu schmal, und ich erstickte fast, auch quälte mich eine Art Vorahnung. Zudem wagte ich nicht, mich zu rühren, um dich nicht zu genieren, Tante. Bis zum Morgengrauen starrte ich mit weit offenen Augen ins Dunkel, das nur von einem dünnen Lichtstreifen der Nachtlampe in Mamas Zimmer unterbrochen wurde, der sich unter der Tür in das Ankleidekabinett hereinstahl. Gehört habe ich nicht das geringste.«
»Auch mich weckte nicht das mindeste Geräusch auf«, fügte die Gräfin bei. »Beim ersten Tagesschein fuhr ich jedoch empor, denn es fiel mir ein, daß die Jungfer heute nacht nicht gekommen war. Jeanne hatte sie also nicht benötigt. Ging es der Kranken besser oder schlechter? – Meine arme Schwester war nachts verschieden.
Ich rief sofort meinen Schwager.
Wie irrsinnig stürzte er herbei und vermochte vorerst nur den Eintritt der Katastrophe, nicht aber deren unmittelbare Veranlassung festzustellen, denn der erste Mensch, den er an einem sofort tötenden Schlangengift hatte sterben sehen, war ein Neger gewesen. Sie werden mich verstehen, ohne daß ich mich weiter darüber zu äußern brauche.
Erst zwei Stunden später entdeckte man das Verschwinden der Viper. Ihr Käfig war leer. Sie war durch eine Spalte d«r Kiste, die unbeachtet geblieben, entkommen. Es hatte sich ja nur um eine provisorische Unterbringung des Reptils gehandelt. Guy Laval hatte an so etwas nicht gedacht.
Ein furchtbarer Verdacht stieg in ihm auf. Er untersuchte genau die Arme und Hände meiner unglücklichen Schwester und entdeckte schließlich an der linken Hand der Toten einen kaum wahrnehmbaren Stich wie von einer feinen Nadel – den Mörderbiß der schwarzweiß geringelten Natter.
Es war, als hätte sich die Schlange für alle Leiden und die Verstümmelung ihrer Zähne durch meinen Schwager an ihm rächen wollen.
Wir weinten uns die Augen fast blind, und ein unbeschreibliches Entsetzen durchschauerte uns, wenn wir an das scheußliche Tier dachten, dessen Schlupfwinkel niemand kannte. Wo hielt sich die Viper auf? Im Park? Im Schloß selbst? Zunächst suchte man sie natürlich im Schlafzimmer Jeannes. Man fand sie nicht, konnte aber die Öffnung entdecken, durch die sie in das Zimmer gedrungen war und es wieder verlassen hatte. Sie war ...«
»Durch das Fenster gekommen?« fragte Mareuil. »Durch das geöffnete Fenster?«
Gilberte nickte. »Ja, das heißt durch die festen Außenläden, eiserne Läden, die nur einen herzförmigen, kleinen Ausschnitt haben. Die Viper kann nur durch eine dieser Lichtluken eingedrungen sein. Das Licht der Nachtlampe erhellte die Luftlöcher und hatte die Schlange angelockt.«
»Aber wie konnte das Tier zu den Lädenausschnitten emporgelangen, Gräfin?«
»Leider war dies nicht schwer für die Schlange, Herr Mareuil. Die Mauern des Schlosses sind mit dichtem Efeu bewachsen, und dicke Äste des Efeus umranken das in Frage stehende Fenster. Einer dieser Äste ist kaum zwanzig Zentimeter von dem herzförmigen Luftloch entfernt. Da die Länge der Schlange ein Meter betrug, konnte sie mit dem halben Körper um den Ast gewickelt bleiben und mit dem Kopf und einem dreißig Zentimeter langen Stück ihres Leibes in das Zimmer hereinreichen.«
»Und wie gelangte sie im das Innere des Schlafzimmers?«
»Sie glitt ganz einfach am Laden entlang, fußte auf dem Querriegel des Fensters auf, den ich vorgeschoben hatte, damit die Flügel nicht klappten, kroch von da auf einen Stuhl, ließ sich auf den Teppich fallen und unternahm dann einen Angriff auf die weiß schimmernde, jedenfalls über den Rand des Bettes herabhängende Hand.«
»Soweit leuchtet mir die Sache ein«, meinte Jean Mareuil. »Gab es aber nicht auch noch andere Öffnungen, durch welche die Schlange in das Zimmer eindringen konnte?« – »Keine!« erwiderte Gilberte.
»Keine Ventilationsklappe?« – »Doch, die ist aber fest vergittert.«
»Vielleicht kam sie durch den Kamin herein?« – »Unmöglich, er ist durch seinen eisernen Vorhang fest verschlossen.«
»Vielleicht durch ein Rattenloch?« – »Nicht einmal ein Mauseloch ist im Zimmer.«
»Und wie verhielt es sich mit den Türverschlüssen?«
»Obwohl Mama durchaus nicht furchtsam war«, entgegnete Gilberte, »wollte sie doch in dem Hochparterrezimmer, das sie sehr gern hatte, etwas gesichert sein, daher die eisernen Außenläden und ihre einbruchsicheren Riegel. Beide Türen hatten ebenfalls feste Riegel, sowohl die auf den Gang mündende Tür des Schlafzimmers wie die Verbindungstür des Ankleidekabinetts. Seitdem ich unten schlief, nur durch das Ankleidekabinett von Mama getrennt, blieb natürlich die Verbindungstür unverriegelt. Was den Verschluß der Gangtür anbelangt, so konnte meine Mama ihn vom Bette aus, ohne aufstehen zu müssen, durch eine Zugvorrichtung in Tätigkeit setzen. An jenem Abend nun schob ich selber den Riegel vor, und ich besinne mich sehr genau darauf, daß ihn Tante am anderen Morgen, als sie Papa rief, erst zurückschieben mußte. Da Mama der Jungfer nachts nicht geläutet hatte, war auch der Riegelverschluß der Tür nicht in Bewegung gesetzt worden, und die Schlange konnte sich nicht hier eingeschlichen haben. Die Tür war ganz bestimmt während der ganzen Nacht nicht geöffnet worden.«
»Warum sollte sich aber die Schlange nicht schon, ehe die Türen geschlossen wurden, eingeschlichen haben? Vielleicht lag sie zusammengerollt unter dem Bette?« wandte Mareuil ein.
»Selbstverständlich wurde auch diese Möglichkeit ventiliert«, erwiderte Gräfin Prase. »Nun, Gilberte und ich zogen uns um neun Uhr zurück, und als der Schloßwart um zehn Uhr wie gewöhnlich die Runde machte, sah er noch die Viper in ihrer Kiste.«
»Daraus folgt mit absoluter Wahrscheinlichkeit, daß die Schlange nach einhalb elf nachts und vor ein Uhr früh entkam«, bemerkte Gilberte.
»Warum vor ein Uhr früh?«
»Weil Mama für gewöhnlich zu dieser Stunde aufwachte und ihren Tee verlangte. In jener Nacht verlangte sie ihn aber nicht, weil ... weil, sie eben nicht mehr lebte.«
»Das ist alles nur Annahme! ... Um das Zimmer wieder zu verlassen, kann doch wohl meiner Ansicht nach die Schlange nicht gut zu dem herzförmigen Ladenausschnitt emporgelangt sein.«
»Sie haben vollkommen recht. Man stellte fest, daß dies, wenn auch nicht ganz unmöglich, so doch höchst unwahrscheinlich war. Sie muß während der zwei Stunden, die zwischen unserem furchtbaren Erwachen und dem Beginn der Suche nach der Mörderschlange verstrichen, entweder durch die Gangtür oder die Tür des Ankleidekabinetts entkommen sein. Als Tante und ich Mamas Schlafzimmer betraten, befand sich somit die Viper in unserer unmittelbaren Nähe, entweder unter dem Bett oder hinter dem Spiegelschrank, oder Gott weiß wo ... Noch heute zittere ich bei diesem Gedanken.
Trotz unseres entsetzlichen Schmerzes kam uns immer wieder der furchtbare Gedanke, wo die Viper wohl stecken könnte? Die folgende Zeit tat man Tag und Nacht das Menschenmögliche, um sie zu entdecken. Kein Möbelstück blieb an seinem Platz stehen, sämtliche Vertäfelungen wurden abgenommen, die Wasserleitungsröhren und Kamine untersucht, die Zentralheizungsleitung ausgeschwefelt und auch die kleinsten Ritzen und Löcher auszementiert. Schritt für Schritt durchsuchte man den Park, die Boskette, Gebüsche, selbst die Felder und angrenzenden Waldungen durchstöberte man nach allen Richtungen hin – nichts fand sich. Allerdings will das wenig bedeuten, denn es gab eine Unmasse Kaninchenbaue, hohle Bäume, Erdlöcher, hohes Gras und tausend Schlupfwinkel verschiedenster Art, wo eine scheckige Schlange sich verkriechen konnte, die, wenn sie sich steif macht, kaum vom Erdboden und ihrer Umgebung zu unterscheiden ist und deren Gewandtheit und Schnelligkeit jeder Fangtaktik spottet.
Ich zählte damals erst dreizehn Jahre. Die Sache hatte auf mich einen derartigen Eindruck gemacht, daß man mich fortbringen mußte. Luvercy erschien mir eine Hölle. Überall sah ich Schlangen. Und heute noch ... Sie wissen es ja selbst ...«
Jean Mareuil hatte mit gespanntester Aufmerksamkeit zugehört. Er war über seine bereits legendäre Zerstreutheit und Indolenz Herr geworden und vollkommen mit seinem Geist bei der Sache geblieben.
Voll Interesse fragte er: »Und seitdem? ...«
»Seitdem hat niemand die Schlange je zu Gesicht bekommen«, gab Gilberte zur Antwort. »Doch was beweist dies? Nichts! Diese Tiere werden hundert Jahre alt. Jedenfalls würde ich nicht für alles Gold in der Welt nach Luvercy zurückkehren.«
»Wie? Sie waren niemals mehr dort?«
»Nie! Ich fürchte mich zu sehr. Höchstens wenn man mir den Kadaver der Schlange zeigte, denn wiedererkennen würde ich sie, mein Wort darauf. Man könnte mich nicht hinters Licht führen, denn es existiert keine zweite, die ihr gliche. Und doch weine ich Luvercy manche Träne nach, knüpfen sich doch für mich an den Besitz so viele teils traurige, teils heitere Erinnerungen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Jean, wie ich das alte Schloß mit seinen mächtigen Bäumen liebe. Wenn ich an Luvercy zurückdenke, ist es mir, als hätte ich dort noch einen grundgütigen greisen Großpapa. Und da wird mir das Herz schwer ... ich möchte hineilen.«
»Sie wären also selig, wenn Ihnen jemand die Mörderschlange von Luvercy tot oder lebendig brächte?«
Gilberte zuckte traurig die Schultern. »Die Hoffnung gab ich längst auf.« Den Blick zu Jean erhebend, las sie in seinen Augen so viel Trost und Liebe, daß sie ihm beide Hände hinstreckte. Die Finger ineinander verschränkt, schauten sie sich tief in die Augen und verlebten Sekunden unaussprechlichen Glückes, während die Gräfin von Prase, innerlich gelb vor Neid und Mißgunst, äußerlich aber gütig lächelnd, den Liebenden zusah. Aber Jean Mareuil wußte ja, wie ihr dies gegen den Strich ging, und erstaunte daher keineswegs, als die Gräfin sich beeilte, das zärtliche Duo zu unterbrechen, indem sie das Gesprächsthema wieder auf Luvercy und die Viper überleitete.
Eine wohlwollende und besorgte Miene aufsetzend, sagte sie zu ihrer Nichte: »Liebste Kleine, du solltest endlich dich etwas bemeistern und deine Furcht ablegen. Es wäre höchste Zeit. Schon seit über fünf Jahren hat die Viper nicht das geringste Lebenszeichen von sich gegeben, sie ist ganz bestimmt tot. Meine Ansicht war stets die, daß man sie in einem der vermauerten Löcher mit einzementiert hat. Es besteht jetzt nicht mehr die geringste Gefahr. Und wenn du mir folgtest, würden wir dieses Jahr statt nach Deauville, wie in der letzten Saison, oder Aix-les-Bains, wie im vorvorigen Sommer, nach Luvercy gehen!«
»Niemals! Das ist doch nicht dein Ernst, Tante?« rief Gilberte entsetzt.
»Nehmen Sie sie ein wenig ins Gebet, Herr Mareuil«, lächelte die Gräfin. »Ihnen folgt sie vielleicht eher. Luvercy ist eine wundervolle Herrschaft. Nirgends auf Erden ist es besser.«
»Das weiß ich selbst nur zu gut, Tante. Doch ... ich kann nicht. Ich würde vor Todesangst umkommen.«
Jean Mareuil und die Gräfin betrachteten beide das junge Mädchen mit dem gleichen mitfühlenden und liebevollen Lächeln.
»Man darf nichts überstürzen!« meinte Jean.
Zum Henker, dachte die Gräfin, die beiden werden immer an dem gleichen Strick ziehen!
»Und – was weiß man?« fuhr Mareuil fort. »Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, Gilberte, daß Sie von Ihrer Furcht befreit würden, brächte Ihnen jemand die Mörderschlange von Luvercy tot oder lebendig.«
Unbekümmert um Gilbertes und ihrer Tante Anwesenheit versank er in Träumerei. Die Damen merkten, wie er sich immer weiter von ihnen im Geiste entfernte und seine Gedanken in geheimnisvolle Regionen, »in die Wolken«, wie Aubry sich ausdrückte, entschwebten. Aber er schien sich in seiner Verlorenheit intensiv mit irgendeinem Gegenstand zu beschäftigen. Die gerunzelte Stirn verriet die leichte Unruhe scharfer Innenkonzentration.
»Steigen Sie wieder zur Erde herab!« meinte Gilberte heiter.
Mareuils Miene klärte sich auf. Er erriet ihre Gedanken.
»Wissen Sie, Gilberte,« sagte er, »komisch ist es, daß mich Schlangen niemals abstießen. Im Gegenteil! Ich hielt mich ziemlich lang in Indien auf, und nichts interessierte mich dort so sehr wie die Schlangenbeschwörer. Ich schloß mich sogar einigen näher an und fand Vergnügen daran, mich in ihrer Kunst zu versuchen. Ich spielte auf der indischen Flöte, und es gelang mir nach und nach, die Schlangen zum Tanzen zu bewegen, ja ich erreichte darin eine gewisse Meisterschaft.«
»Tatsächlich?« rief Gilberte, von staunender Bewunderung erfüllt. »Nun, Ihr Mut und meine Furcht halten sich die Wage. Sagen Sie, war es das, worüber Sie eben nachgrübelten?«
»Nein, nicht gerade. Es ging mir irgend etwas durch den Kopf ... Schlangen betreffend ... irgendeine dunkle Erinnerung, der ich aber keine Gestalt mehr zu geben vermochte. Etwas absolut Unwichtiges.«
»Man kann also Schlangen zum Tanzen bringen?« fragte Gilberte, angezogen von dem Gegenstand ihrer Furcht.
»Gewiß, wenn man auf der Rohrpfeife flötet. Doch lassen wir jetzt das Schlangenthema; es ist nicht gut für Sie, mein gnädigstes Fräulein, diesen heiklen Gesprächsstoff weiterzuspinnen.«
»Doch, doch, reden wir weiter darüber.«
»Sie spielen hier mit Ihrer Furcht, weil Sie wissen, daß Sie nichts zu besorgen brauchen ...«
»Die Schlangen tanzen also?«
»Ja, sie richten sich auf und wiegen sich im Takt hin und her. Man kann sie auch rufen, so daß sie herkommen.«
»O! Es könnte somit jemand eine in einem Gebäude befindliche Schlange zu sich herausrufen ... zum Beispiel eine Viper, die sich in ein Zimmer einschlich?«
Mareuil erschrak etwas über Gilbertes Erregung.
»Ist so etwas wahrhaftig möglich?« rief die Gräfin verblüfft.
»Durchaus!« nickte Jean. »Doch wir wollen uns jetzt wirklich mit anderen Dingen beschäftigen als mit Schlangen und Schlangenbeschwörern. Sie sehen ja selbst, Gilberte, wie dieses Thema Sie aufregt.«
Gilberte saß mit schmerzlich verzogener Miene und geistesabwesend da. Als spräche sie zu sich selbst, sagte sie: »Nein ... ich hätte sonst in jener Nacht den lockenden Ton der Flöte vernommen. Nein, es ist unmöglich ... ich habe nichts gehört ... auch fand man nicht die geringsten verdächtigen Fußspuren.«
»Das beweist nichts«, versetzte die Gräfin. »Wenn du dich besinnst, sind die Wege in Luvercy alle gepflastert. Rings um das Schloß, Herr Mareuil, ist weder Sand noch Kies. Daher fanden wir auch weder Fußspuren, noch – was wesentlicher gewesen wäre – Kriechspuren.«
»Warum meinen Sie, daß letzteres wesentlicher gewesen wäre, Gräfin?«
»Ja, warum, Tante?«
»Weil an dem Tode deiner armen Mama nicht ein Mensch, sondern erwiesenermaßen eine Viper die Schuld trug!«
»Das ist richtig«, erwiderte Jean und Gilberte wie aus einem Munde.
»Nun aber Schluß damit!« erklärte die Gräfin, einen heiteren Ton anstimmend. »Liebste Gilberte, ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns verabschieden. Fühlst du dich wieder vollkommen wohl?«
»O ja, Tante, ich kann ganz gut mit dir gehen.«
»Wie gern möchte ich, Gilberte, daß Sie ein kleines Andenken an diesen Ihren ersten Besuch in Ihrem künftigen Heim mitnehmen!« bat Mareuil. »Die kleine Lampe kommt natürlich nicht mehr in Frage, aber bitte, wählen Sie sich irgend etwas anderes aus, was Ihnen Spaß macht.«
Alle drei hatten sich erhoben und standen neben den Vitrinen.
Gilberte näherte sich den Schlüsseln. Etwas unendlich Reizvolles und Spitzbübisches lag in ihren Gesten und ihrem Augenaufschlag. Mit melodramatischem Unterton in der Stimme sagte sie ein wenig befangen: »Nun, Jean, wo befindet sich unter all diesen Schlüsseln der zu Ihrem Herzen?«
»Hier bitte!« Er zeigte lustig auf ein riesiges mittelalterliches Schloß.
»Spaß beiseite«, lachte Gilberte und gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Mir scheint, dieses Schloß gehört eher zum Tor Ihrer Schatzkammer, in der Gold und Edelsteine sich häufen. Tante, was meinst du? Kannst du dich mit diesem Schlüssel im Mieder vorstellen?«
Unwillkürlich machte die Gräfin eine Bewegung.
»Ich nicht!« meinte ihre Nichte und trällerte vor sich hin, um ihre Gefühle niederzukämpfen und Haltung zu bewahren, während sie die Schlüsselsammlung in Augenschein nahm. »Wo ist also der Schlüssel zum Herzen Jeans ... wo ist er, der geheimnisvolle Schlüssel?«
»Bitte, hier ist er, diesmal aber wirklich«, sagte der junge Mann. »Nehmen Sie!«
Er reichte ihr einen kleinen, antiken, von irgendeinem Benvenuto ziselierten Spiegel, dessen Umrahmung kleine Perlen bildeten und dessen vom Alter kaum getrübtes Metall Gilbertes Lächeln in Reinheit widerstrahlte.