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Gilberte hatte zu ihrer Tante den lebhaften Wunsch geäußert, Herrn Jean Mareuil bei sich empfangen zu dürfen. Die Gräfin hütete sich, Einspruch zu erheben, denn erstens bildete es ihre Gepflogenheit, ihrer Nichte nichts zu verweigern – und an diesem Brauche wollte sie nicht rütteln –, und zweitens freute sie sich, bei dieser Gelegenheit den unliebsamen »Verführer« etwas mehr aus der Nähe studieren zu können.
Jean Mareuil wurde somit in den Kreis von Gilbertes engeren Bekannten aufgenommen. So weit es die kühle Höflichkeit Mareuils zuließ, suchte hierbei Lionel in die Lebensweise des jungen Mannes Einblick zu gewinnen. Er wußte es einzurichten, daß sie öfters auf gemeinsamem Terrain, bei Golf, Tennis oder im Fechtsaale, zusammenkamen.
Aber schon nach wenigen Tagen sah Lionel das Zwecklose, ja Lächerliche dieser Art von Spionage ein. Er entschloß sich, sie überhaupt gänzlich aufzugeben, um so mehr, als auch der ehemalige Haushofmeister Aubry, den er mit einer schärferen, sozusagen polizeilicheren Beobachtung Mareuils beauftragt hatte und der – letzterem vollkommen unbekannt – dem verhaßten Nebenbuhler auf Schritt und Tritt nachspürte, nicht das geringste Verdächtige festzustellen vermochte.
Lionel teilte seinen Entschluß der Gräfinmutter mit, stieß aber auf heftigen Widerstand.
»Bis jetzt sah ich Mareuil allerdings nur ab und zu«, meinte sie. »Seitdem ich aber Gelegenheit habe, ihn näher zu beobachten, bin ich über seine Persönlichkeit restlos im Bilde. Ich fühle, ja, ich bin dessen sicher: irgend etwas verbirgt er vor uns. Seine Geistesabwesenheit, sein träumerisches Wesen ist unnatürlich. In seinem Leben gibt es irgendein Geheimnis.«
»Wieso denn?« ärgerte sich Lionel. »Drücke dich etwas klarer aus. Wenn ich dir doch sage ...«
»Was es für ein Geheimnis ist, werden wir schon erfahren. Folge mir, mein Sohn, wirf die Flinte nicht ins Korn. Vorerst habe ich nur so ein Gefühl, aber du weißt, meine Gefühle täuschen mich selten.«
Das stimmte. Wiederholt hatte sich schon Lionel vor dem Scharfblick seiner Mutter gebeugt.
»Ich gebe ja zu, daß du eine gewisse ›Nase‹ hast«, meinte er. »Diesmal aber fürchte ich, daß bei dir der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Zum Henker, Mama, ich teile ganz deine Ansicht, auch ich möchte Gilberte zur Frau, denn das Mädel besitzt das dicke Portemonnaie.«
»Du mußt sie heiraten!« erklärte die Gräfin.
Lionel blickte seine Mutter nicht gerade sehr respektvoll an.
»Was heißt das: ›du mußt!‹? Ich sollte ... ja! Wenn wir außerstande sind, Gilberte von der Unwürdigkeit Jean Mareuils zu überzeugen, werden wir etwas anderes aushecken müssen, daß sie ihn nicht heiratet, daß sie überhaupt niemand heiratet. Das Richtige getraue ich mich schon zu finden!«
»Nein, nein! Das hätte keinen Sinn!« rief die Gräfin.
»Warum erschrickst du so, Mama? Du machst, als wolltest du mich beschwören, etwas nicht zu tun, was ich gar nicht gesagt habe.«
»Mein Gott, Lionel, was glaubst du denn? Ich habe dich doch in keinem häßlichen Verdacht, mein Kind?«
»Doch! Du blicktest mich so entsetzt an.«
»Nein, großer Junge, gewiß nicht!«
Und flehend suchte sie ihn an sich zu ziehen. Er aber verharrte wie aus Stein und sah sie fest an.
Da schlang sie ihre Arme um seinen Hals und schaute ihn aus ihren armen, farblosen Augen bittend an.
»Ärgere dich nicht«, sagte sie. »Du brauchst nichts zu ›finden‹, Liebling. Ich erkläre dir mit allergrößter Bestimmtheit, daß auf Mareuils Tun und Treiben ein Schatten lagert, daß er uns etwas verhehlt. Und in dem Moment, wo er etwas zu verbergen sucht, kann es nur etwas sein, was für ihn nachteilig, aber für dich äußerst vorteilhaft ist.«
Und als die Gräfin merkte, daß ihre Worte auf Lionel Eindruck machten, fuhr sie zärtlich fort, ihm zuzureden.
»Soll ich dir helfen? ... Ja? ... Ich möchte Aubry persönlich sprechen, mir klarwerden, wieweit ihr seid.«
»Bitte, wenn du willst?« brummte der Graf.
Noch am gleichen Abend fuhren die Gräfin von Prase und ihr Sohn nach der Rue de Tournon und ließen das Auto vor Nummer 47 stoppen. Zusammen verfügten sie sich dann in die Portierloge, wo Aubry sie bereits erwartete.
Der Hausbesorger erschöpfte sich in Bücklingen.
Er war ein kleiner, häßlicher, angegrauter Mensch mit falschen Fuchsaugen, hohen Schultern, langen Affenarmen und schiefem Gangwerk. Seines Zeichens Bedienter, hatte er die Gepflogenheit beibehalten, sich stets im Schatten und lautlos zu bewegen, unbemerkt zu bleiben und kein Geräusch zu verursachen.
Ein wohlerzogener Haushofmeister darf niemals die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Stumm hat er an der Tafel zu servieren, mit Samtpfoten Silber und Porzellan zu handhaben, beides von Natur zum Klingen und Klirren geneigte Objekte, und sich so unsichtbar zu machen, daß die Meister in ihrem Fache den Eindruck erwecken, als reiche überhaupt niemand die Schüsseln herum, sondern die Bedienung geschähe durch Geisterhände, und daß es nur ein vages Phantom sei, das einem beim Einschenken des Weines diskret ins Ohr flüstert: »Rüdesheimer Berg Auslese«, »Chambertin« oder »Grinzinger 1919«.
Solch ein Haushofmeister war Aubry gewesen. Dennoch hatte er nicht vermocht, seine Gorillahäßlichkeit vor Gilberte zu verbergen, deren Anblick schließlich dem jungen Mädchen zum Greuel wurde; denn zu dieser körperlichen Scheußlichkeit gesellten sich auch noch wüste moralische Defekte. Nichts widerte Gilberte mehr an als das kriechende Lächeln, das die ausrasierten Lippen dieses heimtückischen, duckmäuserischen Affenmenschen ständig umspielte.
Deshalb hatte sie ihre Tante gebeten, sie von dieser unangenehmen Persönlichkeit zu befreien – was ihr Aubry rachsüchtig nachtrug.
Die Gräfin hatte ihm dann den Portierposten in einem ihrer Nichte gehörenden Hause übertragen und betraute ihn ab und zu mit Geheimaufträgen, die er stets heimlich und verstohlen und als ergebener Geist erledigte. Währenddessen versah die würdige Frau Aubry, auf die es sich erübrigt, näher einzugehen, den verantwortungsvollen Dienst in der Portierloge.
»Mein lieber Aubry, unsere Angelegenheit kommt nicht vorwärts«, begann die Gräfin. »Erzählen Sie mir, was Sie bisher unternahmen! Aber setzen Sie sich doch, Aubry, setzen Sie sich!«
»Zu gütig, Frau Gräfin!« – Der Hausbesorger nahm linkisch-ehrerbietig auf einer Sesselkante Platz. »Nun denn, gnädigste Frau Gräfin, man kann Herrn Jean Mareuil nicht das mindeste nachsagen. Der Herr Graf befahlen mir, Herrn Mareuil nachzuspüren, und ich tat es auf das gewissenhafteste.«
»Stießen Sie auf Schwierigkeiten?«
»Nicht auf die geringste, Frau Gräfin. Dieser Herr ist zwar ein Träumer und schwebt sozusagen immer in den Wolken, aber dennoch ist er niemals untätig, mindestens sein Hirn arbeitet, wenn er sonst nichts tut. Das sieht man ihm auf den ersten Blick an, gnädigste Frau Gräfin.«
»Eben das finde ich auffallend. An was denkt er immer?«
»Du weißt doch, Mama, daß Mareuil Sammler, Künstler und überhaupt ein Arbeitsmensch ist!« meinte Lionel gewichtig.
Seine Mutter unterbrach ihn mit abwehrender Geste.
»Wie verbringt er seine Zeit, Aubry?«
»Herr Jean Mareuil erhebt sich zu sehr früher Stunde, Frau Gräfin. Zuerst reitet er im Bois spazieren.«
»Immer im Bois? Wissen Sie das bestimmt?«
»Das mußt du mich fragen, Mama«, sagte Lionel. »Ich weiß es bestimmt, denn ich begleitete ihn wiederholt, erkundigte mich auch darüber.«
Aubry fuhr fort: »Wenn er dann nach Hause zurückkommt, verläßt er bald wieder sein Heim, um bis zum Mittagessen sich andern sportlichen Übungen hinzugeben. Den Lunch nimmt er zuweilen in seinem Klub ein. Manchmal füllen Spaziergänge oder geschäftliche Besprechungen seinen Vormittag aus. Das übrige Leben Mareuils spielt sich dann, wie bereits der Herr Graf erwähnte, im Rahmen von Konzert-, Galerien-, Museumsbesuchen oder Rundgängen bei Antiquaren und Trödlern ab.
Anfangs schienen mir gelegentliche Autofahrten verdächtig. Ich schloß nun mit dem Chauffeur des Herrn Mareuil Bekanntschaft; denn sein Herr gibt ihm stets tags vorher bekannt, wohin am andern Tage gefahren wird, und so war ich in der Lage, mittels gemieteten Schnellwagens oder Motorrades immer vor der Ankunft des Herrn Mareuil an dem betreffenden Ort zu sein. Aber auch bei diesen Gelegenheiten, Frau Gräfin, entdeckte ich niemals etwas Anfechtbares.«
»Wohin fährt er in solchen Fällen?«
»Halten zu Gnaden, Frau Gräfin, entweder in die Umgebung, um alte Denkmäler oder geschichtliche Stätten zu besichtigen, oder auch wiederum zu Trödlern. Der Chauffeur ist ein großes Plappermaul; ich kann alles aus ihm herausziehen.«
»Können Sie dem Manne vertrauen?«
»Durchaus, Frau Gräfin«. Ich prüfte bereits verschiedene seiner Indiskretionen auf ihre Richtigkeit.«
»Hm! ... und abends? ... nach dem Souper?«
»Für einen Pariser seiner Gesellschaftsschicht geht Herr Mareuil abends nur selten aus, höchstens einmal ins Theater oder zu einem Vortrage oder in ein Konzert – in ein Tingeltangel nur ganz zufällig. Anscheinend besuchte Herr Mareuil früher auch, wie alle Welt, den Montmartre.«
»Somit, lieber Aubry, kehrt Herr Mareuil regelmäßig, oft zu sehr früher Stunde, abends nach Hause zurück. Was tut er dann daheim? Arbeitet er?«
»Sehr wohl, gnädigste Frau Gräfin.«
Lionel, der zum Fenster der Portierloge hinaussah, bemerkte: »Mareuil hat eine sehr beachtete Studie geschrieben, die den Titel trägt: »Die Frauen in den Werken von Delacroix«, und gegenwärtig vollendet er ein ziemlich umfangreiches Buch »Das Geckentum in England von Buckingham bis Brummel«. Mareuil ist nämlich selbst ein Dandy oder möchte es wenigstens sein, so wie der Marquis d'Orsay, oder ein bißchen wie d'Aurevilly: Sportsmann und Schriftsteller zugleich. Wann soll er schließlich arbeiten, Mama, wenn nicht bei Nacht? Wie stellst du dir das vor?«
»Haben Sie sich hierüber Gewißheit verschafft, Aubry?«
»Halten zu Gnaden, Frau Gräfin, in das Palais hinein kann ich doch nicht, vor allem nicht nachts.«
»Vielleicht hat er Komplizen, die man feststellen könnte?«
Aubry schwieg ablehnend, als wollte er sagen: das wäre ein gewagter Versuch, es herausbekommen zu wollen. Man könnte eine Menge Leute kompromittieren.
»Hm!« Die Gräfin überlegte.
Jetzt wandte sich Lionel an den Hausbesorger.
»Wissen Sie, Aubry, daß Mareuil den Spitznamen führt: ›Der Mann ohne Schlaf‹? Ich hörte, oft sei er beim Scheine der Studierlampe bis zum Morgengrauen wach. Ein ihm befreundeter Arzt sagte mir, daß Mareuils Augen eine gewisse Eigentümlichkeit aufweisen, die ein charakteristisches Merkmal aller großen Nachtwacher bilden.«
Die Gräfin kniff die Lippen zusammen.
»Unsere Beobachtungen«, murmelte sie ärgerlich, »deine, meine und Ihre, Aubry, zeitigten somit kein Resultat; allerdings erstreckten sie sich nur auf die Zeit vom Morgen bis zum Abend, nicht aber auf die Nachtstunden. Mein inneres Gefühl sagt mir ...«
»Schon wieder!« zuckte Lionel in mürrischer Ungeduld die Schultern.
»Ich brauche nur einem Menschen in die Augen zu blicken«, fuhr die Gräfin unbeirrt weiter, »so sagt mir mein inneres Gefühl, ob hinter der betreffenden Persönlichkeit ein Geheimnis steckt oder nicht. Lionel, Aubry, wir müssen unbedingt herausbekommen, ob Mareuil wirklich in der Nacht arbeitet.«
»Dies festzustellen, dürfte nicht ganz leicht fallen, Frau Gräfin.«
»Trachten Sie einmal zunächst auszukundschaften, ob niemand nachts ins Palais kommt und niemand es bei Morgengrauen verläßt?«
»Ein Weib?« lachte Lionel spöttisch.
»Vielleicht!« nickte die Gräfin.
»Das ist leicht festzustellen!« bemerkte Aubry mit vulgärem Lächeln.