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Joseph war ein Mann in den besten Jahren, hatte eine schöne Besoldung, Aussicht auf baldige Beförderung, er hatte noch dazu seine Frau beerbt; wäre es daher ein Wunder gewesen, wenn mancher Vater, der heiratsfähige Töchter hatte, auf diese annehmbare Partie, wie die Welt sagt, ein Auge geworfen hätte? Da und dort wurden Netze ausgeworfen; jedoch Joseph war stockblind, andere sahen die Netze gar gut, nur Joseph sah sie nicht, denn er lebte seinem inneren Schmerze; er hatte seiner Pepi selbst über das Grab Treue gelobt; denn wer sollte seine schlichte, fromme, gute Pepi ersetzen? und an ihrem Grabe frischte er sich täglich die Erinnerung an sie auf.
Tot ist tot, sagte man ihm, es ist recht, um teure Tote zu trauern, aber man soll sie doch einmal vergessen, man ist ja unter Lebenden; eine ewige Trauer ist Schwärmerei.
Man stellte ihm sogar die jungen Töchter zur Auswahl vor und meinte, daß diese denn doch imstande wären, seine verblichene Gattin zu ersetzen; es wurden vorteilhafte Bedingungen gestellt.
Wahr ist es, die Vorgestellten waren jünger und vielleicht schöner als Pepi, ein neuer Lebensfrühling winkte Joseph, aber sie waren keine Pepi – sie konnten in den Augen Josephs den Vergleich nicht aushalten – ja es tat ihm weh, daß er das Bild seiner Pepi aus der Seele verdrängen sollte. – Er wählte nicht, er schlug nicht ein! – Und wenn nochmal der Todesengel käme – und noch einmal ein solcher Schmerz der Trennung? Nein, nein, sagte Joseph, meine Hand hat Pepi mit ins Grab genommen.
Und wenn Joseph dann wieder an ihr Grab kam, so fühlte er, daß er daran wohlgetan habe.
Ein Jahr war über den Tod Pepis vorübergegangen, für Joseph so freudenlos, als ob die Welt für ihn gar keine Freude mehr zu bieten hätte. Selbst im Amte arbeitete er ganz interesselos.
Da bekommt er von Alois einen Brief, daß nun auch er das Familienglück versuchen werde; er kündigte seine vorhabende Verehelichung nicht mit Lieschen, sondern mit einem Bürgermädchen aus Innsbruck an und lud Joseph zur Hochzeit ein.
Was soll ich bei einer Hochzeit, schrieb Joseph dem Alois zurück, ich würde nur stören; denn wenn ich dich am Altare sehen würde, so dächte ich den ganzen Tag an den schönen Augenblick, in dem ich meine Pepi auch zur Trauung führte. Ich wünsche dir ein frommes Weib, wie ich hatte, dann wirst du glücklich sein!
Im Monat September des Jahres 1857, zur Zeit, wo Alois seine Hochzeit feierte, finden wir Joseph zu S. Michele de Pagani, sechs Meilen außerhalb Neapel, an dem Grabe des hl. Alfons Liguori knien, wohin er nach dem Tode seiner teuern Gemahlin eine Wallfahrt gelobt hatte. – Auch wollte er dadurch einer Bedrängnis zur zweiten Heirat ausweichen, die ihn bei des Alois Hochzeit sicher erwartet hätte.
In dem Lande der Heiligen und Heiligtümer bekam seine Lebensanschauung eine noch höhere Richtung, ihn ekelte das formelle, kalte Beamtenleben an; warum und für wen in der Welt sollte er sich noch plagen?
In Neapel, am Altare des Madonnabildes Maria della Mercede, wo St. Alphonsus als junger Advokat einst seinen Degen aufgehängt und der Welt Lebewohl gesagt hatte, reifte in Josephs Herzen ein ähnlicher Entschluß; in Rom, wo er die Tausende heiliger Leiber und Denkmäler der einfachen, tatkräftigen, christlichen Urzeit sah, wo er dem Nachfolger Petri, dem Dulder Pius IX., die Füße küssen und seine Huldigung darbringen konnte, wurde dieser Entschluß noch mehr bekräftigt.
Kaum in sein Vaterland zurückgekehrt, gab er zum Staunen aller Bekannten und unter dem Widerspruche der Verwandten, ja selbst des Vaters, seine Beamtenstelle auf.
Zum letzten Male noch besuchte er das ihm so bekannte und teure Grab, und im Oktober des Jahres 1857 saß er schon in den Schulbänken der theologischen Hauslehranstalt zu B.... mitten unter den jungen Zöglingen als Studierender der Theologie.
Großkirchen, den 12. Jänner 1858.
Lieber Joseph!
Unser Vater ist an der Gehirnentzündung erkrankt; er liegt im Delirium da und muß beständig von vier starken Männern gehalten werden. Die Doktoren haben Eisumschläge verordnet; die Krankheit scheint in etwas gewichen. Bete, daß Gott unseren teuren Vater uns noch lange erhalte. Dies in Eile.
Deine
tiefbetrübte
Mutter und
Geschwister.
Großkirchen, den 10. Februar 1858,
abends 4 Uhr.
Lieber Joseph!
Soeben ist unser Vater ruhig und sanft in das Jenseits hinübergegangen. Er litt als ein wahrer Märtyrer. Seine Besinnung kehrte nicht wieder, da infolge der Eisumschläge seine Gehirnnerven zu sehr angegriffen worden waren. In seinem Unverstande weigerte er sich, irgendeine Speise zu sich zu nehmen; er verschloß den Mund, und alles Zureden, ja selbst angewandte Gewalt half nichts; er blieb vom Mariä Lichtmeßtage bis heute ohne Speise und Trank, und so ist er im wahren Sinne des Wortes verhungert. Du kannst Dir denken, mit welch blutendem Herzen wir zusahen; er behauptete, alle Speisen seien vergiftet, seien höllisches Feuer. Angekleidet lag er im Bette, einem Skelette ähnlich, und ließ sich nur die Stiefel ausziehen, als man ihm die Letzte Ölung gab; er sagte, er müsse wandern, deswegen habe er die Stiefel an; dann aber löschte sein Lebenslicht aus wie der Docht einer kleinen Lampe. Wir haben keinen Vater mehr. – Er hat ausgelitten – unser guter, guter Vater! O wären wir bei ihm! Gott gebe ihm die ewige Ruhe! Bete für uns und für ihn, besonders für die Mutter, welche untröstlich ist. Beten wir Gottes unerforschliche Ratschlüsse an.
Deine
trauernden
Geschwister.
Als Joseph diesen Brief erhielt, da wäre er fast in die Klage ausgebrochen: Wie, o Gott, der du gesagt hast, es sei noch nie erhört worden, daß du den Gerechten habest verhungern lassen, wie hast du meinen Vater nicht als gerecht erfunden, ihn, den Mann, der sein ganzes Leben vor dir in Gerechtigkeit und Einfalt des Herzens wandelte, dem du schwer dein Kreuz auf die Schultern gedrückt hast, mußte dein Kreuz ihn ganz erdrücken? Doch ich kleinlicher, kurzsichtiger Erdenwurm, seufzte Joseph, was murre ich? Kann ich in dem Buche der ewigen Vergeltung lesen? Ja ich bete deine ewigen Ratschlüsse an, sie sind weise und gut, du bist der barmherzige, gütige Gott, du wirst meinem Vater alles Bittere auf der Welt zu belohnen wissen, er wird nun meine teure Pepi schon getroffen haben. Welch ein freudiges Wiedersehen!
In der Ferienzeit des Jahres 1858 besuchte Joseph seine Mutter in Großkirchen und das frisch aufgeworfene Grab seines Vaters. Der Nuiterbauer moderte also auch schon unter der Erde.
Einen großen Teil der Ferien brachte Joseph bei seinem Bruder Alois in F.... zu. Auch Alois hatte eine treffliche Wahl getroffen, nur verfolgte ihn das Schicksal, er machte als Notar sehr schlechte Geschäfte, alle seine Pläne mißlangen ihm. Seine einzige Hoffnung war noch eine Advokatenstelle in S...., um welche er beim Ministerium angesucht hatte, andere Gesuche um einträgliche Posten waren ihm fehlgeschlagen; er mußte fühlen, daß Protektion und die glatte Zunge weit mehr vermögen als gerade Rechtlichkeit und ausgezeichnete Kenntnisse.
I.
F...., den 3. Februar 1859.
Lieber Joseph!
Endlich, Gott sei tausendmal Dank gesagt, ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen, ich bin zum Advokaten in S.... ernannt. Meine Zukunft ist nun fest begründet. Bereits habe ich meine Möbel nach S.... vorausgesendet. Ich und meine Frau wohnen im Gasthause zur Post. – Übermorgen werden wir abreisen. – Das nächstemal ein mehreres. Nochmals sage ich: Danken wir Gott. Lebe wohl!
Dein
Bruder
Alois.
II.
Innsbruck, den 4. Februar 1859.
Lieber Schwager!
Ich muß Dir die Nachricht geben, daß Doktor Emil R.. in H....., welcher die Schwester Deiner Pepi zur Ehe hatte, am 25. v. M. plötzlich gestorben ist. Als er eben zu einem Kranken geholt wurde, traf ihn ein Schlagfluß, eine halbe Stunde später wurde er seiner Frau als Leiche in das Haus getragen. Du kannst Dir nun ihren Schrecken und ihr Herzeleid vorstellen. Ich bitte Dich, sei so gut und tröste sie!
Dein
Schwager
Johann.
Infolge dieses Briefes schrieb nun Joseph an seine Schwägerin Trostworte, so wie sie sein Herz, das in ähnlicher Lage gewesen war, und die Religion ihm eingaben, und erwartete von ihr täglich die Antwort.
Am 7. Februar erhält er einen Brief aus F.... Joseph meinte zuerst, daß er von seinem Bruder Alois sei, dessen Abreise sich vielleicht verzögert habe; jedoch die Schriftzüge sind nicht von der Hand des Alois, Joseph kennt sie nicht. Er liest:
III.
F...., den 5. Februar 1859.
Euer Wohlgeboren!
Sie werden sich wundern, aus meiner Hand einen Brief zu erhalten, aber ein gar trauriges Ereignis zwingt mich, an Sie zu schreiben. Erschrecken Sie nicht, wenn Sie dieses lesen, machen Sie sich auf alles – auf das Ärgste gefaßt; ich sage dies, weil ich weiß, wie sehr Sie ihren Bruder geliebt haben.
Ihr Bruder Alois ist nicht mehr – heute früh 3 Uhr ist er in den Armen seiner Gattin am Herzschlage verschieden.
Joseph las diese Worte drei- bis viermal, er traute seinen Augen nicht. – Kann das sein? – Da ist vielleicht eine Verwechslung mit dem Schwager Emil? – Aber nein – Ihr Bruder Alois heißt es! Joseph liest mit zitternder Hand und blutendem Herzen weiter:
Gestern war er noch mit uns munter bei dem Abschiedsmahle, das wir ihm zu Ehren gaben; danach ging er mit dem Postdirektor P... spazieren. Auf dem Wege befiel ihn ein Herzklopfen, er mußte nach Hause gehen. Der gerufene Arzt erklärte es als eine Sache von keiner Bedeutung. Alois fühlte sich auch bald wieder besser. Er schrieb, Zigarren rauchend, bis Mitternacht Briefe, dann legte er sich zu Bette.
Um 3 Uhr früh hörte seine Frau ihn aufstehen und zum Medizinglase gehen, darauf vernimmt sie ein Röcheln; rasch springt sie auf. – Alois war tot in das Bett zurückgesunken. – Die Frau läutete rasend an der Zimmerglocke, das ganze Haus lief zusammen; das Entsetzen war groß. Ihre Schwägerin liegt ob des plötzlichen Schlages schwer krank und fast wahnsinnig bei Herrn v. N. – Uns alle hat der Tod Ihres lieben Bruders tief, tief ergriffen. Doch trösten Sie sich, ich kann Sie versichern, er lebte hier durch und durch als ein guter Christ und von jeder Seite als ein Ehrenmann. Gott hat ihn gewiß gnädig aufgenommen.
Ihr aufrichtiger Freund D...,
Kreisgerichtsrat.
Also auch du, Alois, heimgegangen, auch du, und so schnell, rief Joseph in tiefstem Schmerze aus, du, noch mein bester Freund, mein mir teuerster Bruder! Das nächstemal mehr – hast du im letzten Briefe geschrieben; ist also dieses das Mehr? Du glaubtest nun am Rande deines bitteren Lebens, an der Pforte des irdischen Glückes angekommen zu sein, da hieß dich der Herr in die Pforte der Ewigkeit eintreten. – O mein Gott, gib, daß er für die vielen Leiden im Leben in das Land der ewigen Freuden eingehe! Vergängliches hast du vielleicht ihm genommen und Unvergängliches dafür gegeben.
Dieser Schlag traf Joseph hart, weil er so unerwartet war und es seinen liebsten und längsten Studienfreund und den Bruder betraf, der ihm aus allen Geschwistern zunächst am Herzen lag.
Nun kamen herzzerreißende Briefe von der Mutter und den Geschwistern in Großkirchen und der Witwe des Alois, die sich wieder erholt hatte und nach Innsbruck zu ihren Geschwistern abgereist war. Alle wollten von Joseph Trost, und er bedurfte dessen am meisten. – Doch Josephs Mut brach nicht; er nahm auch diesen Schlag aus Gottes Hand an.
IV.
B......, den 7. Februar 1859.
Lieber Bruder Joseph!
Du wirst den Tod des Alois schon von Hause aus erfahren haben, aber mich traf derselbe besonders hart. Wie Du weißt, war die Abreise des Alois nach S..... auf den 5. Februar früh festgesetzt, und ich fuhr daher von B...... mit Stellwagen nach F...., um von ihm Abschied zu nehmen; denn ich fürchtete, ihn lange nicht mehr zu sehen, da wir weit auseinanderkamen. Am 5. Februar um 8 Uhr früh kam ich in F.... an und ging zuerst in das ehemalige Quartier des Alois, weil ich nicht wußte, daß er schon ausgezogen und in das Gasthaus zur Post übergesiedelt war. Ich fragte nach dem Bruder Alois, niemand wollte mir antworten. Er sei nicht mehr da, hieß es endlich. Müssen Sie denn zu ihm? Ja freilich, antwortete ich, er reist ja heute ab, ich möchte von ihm Abschied nehmen. Er ist schon fort, sagte man mir. Fort, fort, sagte ich traurig, das kann nicht sein, er wußte, daß ich komme, er hat es versprochen, mich abzuwarten.
Er ist nicht mehr, sagte man, er ist heute früh gestorben.
Lieber Bruder, bei dieser Nachricht sank ich fast zusammen; es brauchte einige Minuten, bis ich wieder meiner selbst recht bewußt war. Ich eilte dann hin zur Post, ich wollte ihn doch wenigstens tot noch sehen.
Ach, da lag denn der Alois in seinem Sterbebette, den Mund wie zum sanften Lächeln verzogen, es schien, als ob er süß schlafe, das Totenlichtlein flimmerte so traurig neben ihm, daß ich es meiner Lebtag nicht mehr vergessen werde. Ach, war das ein Wiedersehen und ein Abschied! Und dazu noch das Elend seiner Frau anzusehen, die wie von Sinnen den Alois durch ihr Rufen wieder zum Leben erwecken wollte. O mein Gott, uns suchst du wohl sehr schwer heim! Nun kenn' ich keine andere Bitte mehr, als daß der Herr uns wenigstens Dich und die liebe gute Mutter erhalten möge. Die Welt ist halt ein Jammertal und nicht unsere Heimat! Schreibe mir bald; ein Brief von Dir wird mich wenigstens in etwas trösten.
Deine
Schwester
Josepha.
Ja, Joseph kannte das Zimmer, in dem Alois gestorben, ganz gut. Er hatte, als er den Alois nach dem Tode seiner Pepi besuchte, mit ihm dort geschlafen. Joseph wunderte sich damals, daß er sich ein Quartier im Gasthause nehme, da er doch selbst eine gut eingerichtete Wohnung hatte.
Es könnte mir einmal etwas passieren, erwiderte Alois, und in einem Quartiere allein zu sein, wenn einem etwas zustößt, ist nicht geheuer. Hier habe ich wenigstens die Schnur zur Zimmerglocke neben meinem Bette. Hatte Alois schon damals eine Ahnung, daß dieses Zimmer sein Sterbezimmer sein werde? Joseph dachte bei diesem Briefe seiner Schwester daran.
V.
Innsbruck, den 10. Mai 1859.
Lieber Schwager!
Ich habe Dir die traurige Nachricht zu geben, daß mein Bruder Anton, der Bruder Deiner Pepi, gestern auf dem Abendzuge der Innsbruck-Kufsteiner Eisenbahn jämmerlich verunglückt ist. Er befand sich etwas unwohl und setzte sich unglückseligerweise auf die Stufen der Plattform des Waggons. Er bekam den Schwindel und stürzte unter die Eisenräder, die ihn elend zermalmt hinter sich ließen. Er blieb augenblicklich tot. Denke Dir unseren Schmerz und den Schmerz seiner jungen Braut, die er in drei Wochen hätte zum Altare führen sollen! Wer hätte das geglaubt? Ein Mensch mit 30 Jahren, in der schönsten Blüte der Jahre! Bete für uns und für ihn!
Dein
Schwager
Franz.
Also auch das noch, Herr, rief Joseph händeringend aus, wie er diese Zeilen durchgelesen hatte, auch er mußte der Schwester, meiner lieben Pepi, folgen! Unerforschlich sind, o Herr, deine Ratschläge, dein Name sei gebenedeit!
Herr, das ist viel in einem Jahre! Was kommt etwa noch?
Am 24. Juli 1859 wurde Joseph zum Priester geweiht, also 5 Jahre und 3 Monate, nachdem er Pepi zum Altare geführt, und 3 Jahre, 10 Monate und 21 Tage, nachdem sie ihm der Tod von der Seite gerissen hatte.
Am 15. August 1859 feierte Joseph in der Pfarrkirche zu Großkirchen sein erstes heiliges Meßopfer; seine Mutter hatte diese Freude noch erlebt. Es war dies ein heiliges, schöntrauriges Fest, denn Freude und schmerzliche Erinnerungen reichten sich da traulich die Hände.
Habe ich nicht gesagt, behauptete des Joseph Mutter zu Joseph, daß du noch Geistlicher werden müßtest; ich habe dich im Traume am Altare gesehen; wie das noch geschehen sollte, konnte ich nicht begreifen, besonders da du eine Frau heimführtest; aber, daß es geschehen werde, das sagte mir meine innigste Überzeugung, unsere liebe Frau in der Totengruft hat es mir im Schlafe geoffenbart. Nun ist es wahr geworden, mein höchstes Glück auf Erden ist erreicht, nun, o Herr, laß deine Dienerin in Frieden fahren.
Des Joseph Mutter war bei des Joseph Primiz außerordentlich lustig und heiter. Ja, Joseph weckte in ihr noch die alten Jugendpassionen auf.
Mutter, sagte er einige Tage nach der Primiz, ich habe in den Gesträuchen, welche unser Feld umfassen, ein gar schönes Rotkröpfchen gesehen, möchtet Ihr es nicht fangen? Ihr seid ja eine alte Meisterin der Vogelstellerkunst.
Wo ist es? fragte Josephs Mutter, ich werde es bald haben, du bewegst mich noch, das Schlagnetz herauszusuchen.
Wirklich kam das Mütterchen bald mit dem Schlagnetze, fertigte kunstgerecht eine Spindel und Aufrichte an und legte dem Rotkehlchen an dem von Joseph bezeichneten Platze die Falle.
Das Hinaufsteigen über den Hügel ist mir schwer geworden, sagte das Mütterchen, ich bin zu diesem Geschäfte schon zu alt; ich muß nun abtreten, der Atem wollte nicht mehr herauf, das Vögelchen wird mir davonfliegen. – Sie hatte recht, das Vögelchen ist ihr davongeflogen.
Es waren noch nicht drei Wochen nach Josephs Primiz verflossen, fühlte sich Josephs Mutter unwohl, sie mußte die ganze Nacht im Bette aufrecht sitzen; der am Morgen gerufene Arzt erklärte die Krankheit als Herzwassersucht. Sie wurde mit den Sterbsakramenten versehen.
Meine einzige Freude ist, sprach die Mutter zu Joseph, daß du zu Hause bist, nun werde ich nicht ohne geistlichen Beistand sterben.
Josephs Mutter war im Leben entsetzlich skrupulant gewesen, und Joseph glaubte, er werde nun mit ihr die kreuzschwere Not haben und keinen Schritt von ihrer Seite weichen dürfen. Nur ein einziges Mal wurde Joseph von den Schwestern um Mitternacht aus dem Bette geholt; die Mutter, hieß es, habe eine entsetzliche Angst. Als jedoch Joseph erschien, sagte sie: Es ist nichts, ich sterbe noch nicht, lege dich nur wieder zu Bette.
Joseph sagte Zu ihr: Mutter, habt Ihr nichts mehr auf dem Herzen?
Ich wüßte nicht, was mich beängstigen würde, antwortete die Nuiterbäuerin, nur etwas war mir nie so ganz recht. Siehst du, mein liebes Kind, ich war immer die Erste in der Großkircher Pfarrkirche beim Gottesdienst, und wenn nun dann andere später kamen, schrie mir der Stolzteufel zu: Schaue, heute bist du wieder die Erste! Fast wollte mir das Ding gefallen, aber ich sagte dann immer: Weiche, Teufel, du abgeschliffener Geselle, ich kenne dich, ich bin eine arme Sünderin, Gott weiß es besser als ich, und du, packe dich, höllische Bestie! Ich sagte das dann immer dem Dekan, er aber sagte darüber nie ein Wort, und da glaubte ich, er sei mit mir zu gnädig und nachsichtig. Anderes drückt mich nicht.
Aber, erwiderte Joseph, auf jenes denkt Ihr nicht, daß Ihr uns Buben so manches durch die Finger gesehen habet?
Mit diesem, antwortete die Nuiterbäuerin, komme mir nicht, das habe ich gebeichtet und hat mir der liebe Herrgott schon lange durch die Finger gesehen.
Joseph schwieg nun still, denn er hätte geschworen, daß seine liebe Mutter in ihrem ganzen Leben keine Todsünde begangen habe, und daß sie noch in der Taufunschuld war.
Am 18. September war Sonntag, und Joseph hatte die Predigt in der Großkircher Pfarrkirche übernommen.
Die erste Predigt und noch dazu in seinem Heimatsorte ist für einen Neugeweihten die Feuerprobe. Natürlich will da alles den neugebackenen Prediger hören, und wer nur kann, eilt zeitlich zur Kirche, um ja nicht die Predigt zu versäumen. Auf Joseph war man schon erst gar recht gespannt, denn jedermann in Großkirchen kannte seine sonderbaren Lebensschicksale. Unter anderen Verhältnissen hätte dem Joseph das Herz auch gepocht, als er das erstemal die Kanzel bestieg und unter sich Kopf an Kopf sah, welche alle die Augen auf ihn hinaufhefteten und in gespannter Erwartung harrten, wie etwa der neue Prediger seine Feuerprobe bestehen werde, und dazu noch lauter gut bekannte Gesichter. Aber heute lag dem Joseph an diesem gar nichts; er dachte an seine Mutter, die zu Hause auf dem Sterbebette lag, und mit hohem Ernste begann er über den Text zu predigen: »Niemand kann zwei Herren dienen.« Er zeigte, was die Welt für ein harter, böser Herr sei, welch ein guter Herr dafür Jesus Christus, wie süß sein Joch und wie leicht seine Bürde sei.
Maria, die Schwester Josephs, welche während der Predigt bei der todkranken Mutter als Wächterin hätte bleiben sollen, schlüpfte, aus Neugierde getrieben, heimlich vom Lager der Mutter weg, um doch einen Teil der Rede ihres Bruders zu hören.
Die kranke Nuiterbäuerin hatte das wohl gemerkt, und als daher Maria zurückkam, sagte sie: Gelt, du hast wohl auch nicht deiner Neugierde widerstehen können, du bist heimlich in die Kirche hinabgeeilt! Ich allein bin hier angeheftet und kann den Joseph nicht hören! Wie und was hat er gepredigt? erzähle mir!
Am andern Tage früh um 8 Uhr las Joseph eine hl. Messe in der Totengruft für seine kranke Mutter und betete nach Beendigung derselben die Danksagung. Da kam die jüngste Schwester des Joseph und sagte, die Mutter verlange nach ihm. Joseph traf sie äußerst schwach, doch heiter. Um 11 Uhr mittags verlangte die Nuiterbäuerin, daß alle Kinder noch zu ihr ans Sterbebett kommen sollen, den mütterlichen Segen zu erhalten.
Unter lautem Schluchzen knieten alle nieder, und mit deutlicher Stimme flehte die Mutter den Segen Gottes über ihre Kinder herab; es war dieses eine ergreifende Szene. Dann aber sagte sie noch: Kinder, morgen um diese Zeit bin ich schon im Himmel, das hoffe ich fest, denn die Mutter Gottes wird kommen mich abzuholen.
Das waren ihre letzten Worte; sie griff dann in die Zügen, Joseph betete die kirchlichen Sterbegebete, er segnete seiner eigenen Mutter die Seele aus und drückte ihre Augen zu, und doch hatte sein Auge keine Träne, während alle um ihn jammerten und heulten, er stand am Sterbebette als Priester; er mußte andern Trost spenden, sein eigenes Herz, seine Gefühle mußten schweigen.
Am 21. September 1859 geleitete er seine Mutter zu Grabe hin an die Seite des Nuiterbauern, dessen Totentruhe zum Vorschein kam. Nimm, o Erde, was dein ist, Gott nehme, was sein! Gedenke, o Mensch, daß du Staub bist und zu Staub zurückkehren wirst! So sprach der Priester, als er das Schäufelein mit Erde über den Sarg der Nuiterbäuerin warf; dann setzte er das Kreuzlein über den lockeren Grabeshügel und sagte: Der Friede sei mit dir!
Ja, der Friede war gewiß mit ihr, denn die Nuiterbäuerin war noch eine jener einfältigen, frommen, strenggläubigen Seelen, von denen der Herr sagt, daß ihrer das Himmelreich ist. Und sonderbar, Joseph konnte über den Tod seiner Mutter nicht stark trauern, sie war ja eingegangen in ein besseres Leben.
Wir haben nun schon lange nichts mehr von dem Kanarienvogel gehört. Vor zwei Jahren hatte er den letzten Brief aus London geschrieben und gesagt, daß er wahrscheinlich als Regimentskaplan zu den irischen Truppen nach Ostindien gehen werde, die den dortigen Aufstand niederkämpfen mußten. Seit dieser Zeit hatte von Pater Brundusius niemand ein Wort mehr gehört.
Ist er vielleicht ein Opfer des ungewohnten Klimas geworden oder ist er unter den mörderischen Schwertern der Indier gefallen? so jammerte oft die Nuiterbäuerin, und als sie auf dem Sterbebette lag, hatte Joseph große Furcht, daß sie ein großes Verlangen äußern werde, noch einmal im Leben den Pater Brundusius zu sehen; doch wie dankte Joseph im Herzen, als sie nie davon eine Silbe erwähnte.
Acht Tage nach dem Tode der Mutter kam ein Brief von Wales, an der Westküste von England, aus der Hand des totgeglaubten Paters Brundusius, worin er sich beklagte, daß man ihm auf zwei Briefe keine Antwort gegeben habe, er müsse nur annehmen, daß sie verloren gegangen seien. Er sei nach Rom gegangen, um von dem Ordensgeneral die Erlaubnis zu erhalten, nach Indien zu ziehen; doch dort sei er erkrankt und nach seiner Genesung wieder nach England geschickt worden. Einen Brief habe er von Rom aus, den anderen aus Marseille nach Hause geschrieben.
Dieser Brief war datiert vom 19. September 1859, dem Todestage der Nuiterbäuerin. Hatte vielleicht ihre Seele auf der Wanderung in das andere Leben ihrem Sohne eine leise Ahnung von ihrem Hinscheiden ins Herz gelegt, daß er gerade an diesem Tage sich seiner Mutter und seiner Heimat erinnert, ist sie an ihm vorübergestreift? Fast scheint es so, denn wer kennt das geheimnisvolle Leben und Walten der Geister im Jenseits? – Daß es Ahnungen gibt, ist unbestritten.
Joseph berichtete nun dem Pater Brundusius ausführlich von dem Tod des Vaters, des Bruders Alois und der Mutter.
Wie sehr erschütterte diese dreifache Todesnachricht den Kanarienvogel! Seine Rückantwort lautete sehr wehmütig; denn wenn man auch mit dem Ordenskleide die ganze Welt ablegen und sein eigenes Fleisch und Blut verleugnen soll, so bleibt man am Ende doch Mensch und zollt der menschlichen Natur ihren Tribut. Hat ja auch der heilige Augustin bei dem Tode seiner Mutter geweint und hat gesagt, daß er sich dieser Tränen nicht schäme.
Joseph vollendete im dritten Jahre seine theologischen Studien und mußte nun hinaus in das Seelsorgeleben.
Fünfzehn volle Jahre hatte Joseph den Kanarienvogel nicht mehr gesehen, es entstand daher in ihm der Wunsch, mit ihm noch einmal zusammenzukommen. War er ja noch der einzige von allen in der Nuiterfamilie, welcher die schönen Jugendstudien und Vakanztage mit ihm geteilt hatte, und hatten sie ja einander so viel zu sagen und zu klagen, denn in 15 Jahren erlebt man gar viel, und beide Brüder hatten ein sehr bewegtes, ereignisvolles Leben. Joseph machte daher dem Kanarienvogel den Vorschlag, daß sie im Sommer des Jahres 1861 in Köln zusammentreffen sollten; jeder möge die Hälfte des Weges dem anderen entgegenkommen.
Der Kanarienvogel schrieb jedoch, daß es ihm bei dem Mangel an katholischen Priestern in England unmöglich sei, einen Ersatzmann für seine Seelsorgestation zu bekommen. Joseph möge nach London kommen, dann werde auch er sich dort von Wales her einfinden.
Joseph entschloß sich sohin des Bruders wegen zu dieser weiten Reise. Mittels Eisenbahn fuhr er von Innsbruck über München, Stuttgart, Straßburg, Paris und Dieppe und von da über den Kanal nach London.
Der Kanarienvogel hatte ihn an eine deutsche Familie in London angewiesen, sie sollte ihn von der Eisenbahnstation London-Bridge abholen und weiter versorgen, da der der englischen Sprache unkundige Joseph in der Millionenstadt leicht Betrügern in die Hände fallen könnte.
Um 10½ Uhr nachts kam Joseph in London an der Station an. Tausende von Menschen wogten da in dichtem Gewimmel hin und her; doch Joseph sah nicht ein befreundetes Gesicht, er sah niemand, der seiner Ankunft entgegengesehen hätte. Tausende von Kabmännern fuhren ab und zu, Tausende von Gasflammen blendeten Josephs Antlitz; er stand fremd mitten in der Stadt mit ihren 300 000 Häusern, konnte sich mit niemanden verständigen und hatte Nacht vor sich. Schon beschloß Joseph, hier den Anbruch des Tages abzuwarten, doch da erinnerte er sich an die ihm von Pater Brundusius geschriebene Adresse der deutschen Familie. Er schrieb mit einem Bleistift auf ein Stück Papier » Borough High-Street 66« und reichte das Zettelchen stumm einem Kabmann auf seinen hohen Sitz hinauf. Der Kabmann winkte ihm einzusteigen, Joseph tat es, und in fünf Minuten hielt der Kabmann vor dem Hause Nr. 66 High-Street.
Kaum hatte der Kabmann dort angehalten, kam eine schlanke, junge Missis aus einem Uhrengewölbe heraus, reichte dem Joseph wie einem alten Bekannten zum Gruße die Hand und sagte in sehr schönem Deutsch: Sie sind gewiß der Bruder des Pater Brundusius, Ihre Züge sagen es mir! Willkommen!
Dem Joseph tat diese Anrede wohl; von Straßburg her hatte er kein deutsches Wort mehr gehört, ausgenommen im Bayerischen Hotel zu Paris; er sah sich nun von sechs freundlichen Schwarzwäldern umgeben, die ihm alle die Hand schüttelten.
Nur die Dame, welche den Joseph empfangen hatte, war eine Engländerin, hatte aber einen der Schwarzwälder zur Ehe. Sie sagte dem Joseph, daß Pater Brundusius ihr von Wales heute geschrieben habe, daß er übermorgen früh mit dem Expreßzuge eintreffen werde, da er erst morgen abend abkomme, indem er früher den sonntäglichen Gottesdienst halten müsse.
Da die Schwarzwälder in ihrer Wohnung zu beschränkt waren, so wurde Joseph in dem Gasthause zum Half-Moon einquartiert, wo ein deutscher Kellner war und Joseph sich verständigen konnte. Den folgenden Sonntag nahmen ihn wieder die Schwarzwälder in Beschlag.
Joseph stand am Montag um 7 Uhr früh im Hotel Half-Moon auf und wollte zu den Schwarzwäldern gehen, um dort den Kanarienvogel zu erwarten. Wie klopfte vor Freude sein Herz!
Doch die Türe des Gasthauses war noch versperrt, kein Mensch war zu sehen, alles lag noch in den Federn, denn in London macht man die Nacht zum Tag und kennt den altdeutschen Spruch nicht: Die Morgenstunde hat Gold im Munde. Der größte Teil des Vormittags wird verschlafen, und solide Geschäfte werden erst um 10 Uhr vormittags geöffnet.
Joseph ging, über diese Sitte erzürnt, im Hofraume auf und ab. Endlich kam ein Hausknecht, der wahrscheinlich einen Dieb im Hause vermutete, in Schlafkleidern gähnend daher und fragte, was der Gentleman so früh auf den Füßen mache.
Joseph konnte auf die englische Frage keine Antwort geben; er deutete nach seinen Stiefeln und der Haustüre.
Die Nummer? fragte der Hausknecht.
Six, antwortete Joseph.
Der Hausknecht entfernte sich, wahrscheinlich um zu sehen, ob Numero 6 seine schuldige Zeche bezahlt habe. Bald aber kam er mit Stiefelwichse und Bürsten und begann des Joseph Stiefel an den Füßen zu glänzen.
Während der Hausknecht kunstgerecht mit der Bürste über Josephs Stiefeln auf- und abfuhr, läutete es heftig an der Hausglocke.
Der Hausknecht legte die Bürsten weg, stotterte auf französisch ein »Mit Erlaubnis« heraus und öffnete die Haustüre.
Ein junger, elegant gekleideter Herr im Reiseüberrocke trat ein, er hatte das Aussehen eines englischen Gentlemans.
Joseph wartete auf die Rückkunft des Hausknechtes und auf die Wiederaufnahme seines Stiefelputzgeschäftes. Da trat der fremde Herr an den Joseph heran, blickte ihm eine Zeitlang ins Antlitz, so daß Joseph über die Unverschämtheit und Neugierde des Fremden fast zornig geworden wäre.
Das ist ja gar der Joseph! rief auf einmal der fremde Herr aus und stürzte sich an Josephs Hals und küßte ihn. Der fremde Herr war der Kanarienvogel. – Joseph hätte ihn nicht mehr erkannt; nur als er des Kanarienvogels Stimme hörte, tönte sie in seinem Herzen wieder wie eine Stimme aus einer früheren, glücklichen Zeit, nun erst las er auch aus seinen Zügen seinen Bruder wieder heraus.
Als Joseph den Kanarienvogel das letztemal sah, zählte dieser 23 Jahre, er hatte damals ein blasses, abgemagertes Gesicht und war mit einer rauhen Kutte bedeckt; jetzt stand er als gereifter Mann in jugendlich blühender Gesichtsfarbe, als ein englischer Gentleman vor ihm. So hatte sich Joseph den Kanarienvogel nicht vorgestellt.
Staune nicht, sagte der Kanarienvogel nach den ersten brüderlichen Herzergießungen, mich so gekleidet und so umgewandelt vor dir zu sehen; so will es der Engländer, wenn der katholische Priester bei ihm Zutritt haben soll. Der Klerus fügt sich hier der strengen Etikette der Engländer.
Als ich zuerst in meiner rauhen, fuchsichten Kutte hieher kam, wäre ich von dem Londoner Pöbel beinahe in Stücke gerissen worden und von den Gassenbuben zu Tode gesteinigt worden; nur einem Franzosen habe ich es zu danken, daß ich nicht zertreten worden bin; er nahm mich schnell in seine Kutsche und führte mich in seine Wohnung, und erst seit jener Zeit habe ich mich umgekleidet, der Bischof befahl es mir.
Joseph verbrachte mit dem Kanarienvogel in London eine ganze Woche. Gab es ja von beiden Seiten gar viel zu erzählen und zu fragen. Wie schnell flogen diese paar Tage vorüber! Am Samstag morgen begleitete der Kanarienvogel den Joseph noch hinab zu den Docks der Themse auf das Dampfschiff, das den Joseph nach Ostende bringen sollte, und als das Schiff schon weit die Themse hinab gleitete, winkte von der London-Bridge herab noch immer ein weißes Tuch; es war dies das Lebewohl des Kanarienvogels an seinen scheidenden Bruder Joseph, der seiner Heimat, dem lieben Tirol, zuflog.
Noch einmal besuchte Joseph seinen Bruder Pater Brundusius in England. Es war im Jahre 1862, als zu Rom das Konzil gehalten wurde. Joseph hatte beschlossen, das große Fest der Heiligsprechung der japanesischen Märtyrer mitzumachen und noch einmal an den Schwellen der Apostelfürsten zu beten, und da er nun einmal schon auf einer weiteren Reise war, so gab er der Einladung seines Bruders nach, von Rom über Marseille sich nach England zu begeben.
Dieses Mal brachte Joseph zwei Wochen bei seinem Bruder in London zu, ja, er ging sogar mit ihm hinaus nach Wales, wo er eine weitere angenehme Woche in dem Pfarrhause des Paters Brundusius erlebte.
Die Jugendjahre wurden wieder heraufgezaubert, man lebte nicht auf englischem, sondern so ganz auf tirolischem Fuße; Pater Brundusius machte selbst den Koch und richtete dem Joseph Speisen her, wie sie die liebe, gute Mutter in Großkirchen gekocht hatten selbst die bekannten und beliebten Knödel wanderten zweimal auf den Tisch. Hätte Joseph so gut wie der Kanarienvogel das Englische gesprochen, so hätte er dieses liebliche, freundliche Pfarrhäuschen nimmer verlassen, er wäre bei dem Kanarienvogel geblieben; doch die Welt drängt uns zur ewigen Wanderschaft und zum ewigen Scheiden, es mußte geschieden sein.
Wieder war ein Jahr in das Meer der Vergangenheit hinabgesunken, man zählte das Jahr 1863, da sehen wir an einem Julitage zwei schwarzgekleidete Herren und eine in tiefe Trauer gehüllte Dame längs der Meeresküste von Westengland dahin wandeln. Sie steigen jetzt über einen schmalen Fußweg das mit Eichenwaldungen bedeckte Gebirge hinan und schauen von Zeit zu Zeit auf ein kleines Fabrikstädtchen zurück, das zu ihren Füßen an einer Meeresbucht liegt. Aus den hohen Kaminen steigt schwarzer Rauch auf, den der Nordwestwind vor sich herpeitscht, ihn immer mehr wie einen dunkelgefärbten Fächer ausbreitend. In der Ferne, am äußersten Horizont, erblickt man rechts den Hafen von Liverpool, links tun sich die schönen Gebirge von Wales auf.
Die drei Wanderer scheinen in der Gegend gut bekannt zu sein, denn sie verfolgen sicher ihr Ziel. Jetzt sind sie auf der Höhe des Gebirgsrückens angelangt. Nochmals blicken sie auf das Fabrikstädtchen hinab.
Erkennen Sie jenes Häuschen nahe an der Kapelle, mit einem lebenden Zaune umfriedet, am Ende des Städtchens? unterbrach jetzt die schwarze Dame das Stillschweigen, den Schleier zurückschlagend und sich eine Träne aus den Augen wischend.
Wie Sie fragen können, antwortete der jüngere der zwei Herren, ist ja noch kaum ein Jahr verflossen, habe ich in jenem Gärtchen mit Pater Brundusius Kartoffeln und gelbe Rüben ausgegraben. Ich soll des Pater Brundusius Pfarrhof nicht kennen, sein Bild kann mir die Zeit nie mehr aus dem Gedächtnisse wischen. Sehen Sie dort die anglikanische Kirche, wo ich täglich vorbeispazierte, und dort das alte Kastle, in dessen Ruinen ich mit Pater Brundusius herumstelzte, und dort den Meeresdamm, wo wir gemütlich den hereinstürzenden und brandenden Meereswogen zusahen.
Doch brechen wir auf nach Pantasaph, die Sonne steht schon hoch am Mittage, wir haben heute noch einen bedeutenden Marsch zurückzulegen. Sind Sie müde, Missis?
Ich fühle weder Müdigkeit noch Hunger noch Durst, und dennoch kommt es mir vor, als wäre ein Bleigewicht an meinen Füßen und allen meinen Gliedern; es ist fast, als erdrücke mich der Schmerz, je näher wir dem Klösterchen kommen.
Nun stieg man auf der Rückseite des Gebirgskammes hinab, ein einförmiges, mit Bäumen und Gesträuchen bewachsenes Kesseltal tat sich vor ihnen auf. Das Ganze hatte den Anblick einer öden Einsamkeit, nirgends erblickte das Auge eine Spur menschlicher Wohnungen oder Anpflanzung. Man ging abwärts in südlicher Richtung dem Kessel zu, da tauchte auf einmal ein schönes, aus gehauenen Steinen gebautes, gotisches Türmchen, dann eine Kirche, ein Kloster und Ökonomiegebäude auf. Das Ganze war reizend an den Hügel angelehnt und von Waldung umgrenzt. Es war dies ein katholisches Kloster; ein Lord hatte belgischen Mönchen in dieser Certosa das schöne Asyl gebaut und die umliegenden Gründe ihnen geschenkt. Eine Mauer umgab die eigentlichen Klostergebäude; durch ein Eisengitter trat man zuerst in den katholischen Friedhof, der durch die über die Grabeshügel aufgepflanzten Kreuze erkennbar war. Der Friedhof lehnte sich an die Mauern der gotischen Kirche an und schaute einem schönen Blumengarten gleich, da in England die Liebe selbst noch über die Gräber der Toten frisches Leben pflanzt.
Die drei Wanderer wandeln über die weißen Kieswege des Friedhofes hin und suchen nach einer Grabstätte. Wahrscheinlich liegt hier ein ihren Herzen nahe stehender Toter, den zu beweinen sie aus der Ferne hierhergekommen sind; denn das sagt ihr niedergeschlagenes Wesen, das sagen ihre Trauerkleider.
Überall, wo ein frisch aufgeworfener Hügel ist, bleiben sie stehen und lesen an den Kreuzlein oder der Marmorplatte, wer unter diesem Hügel ruhe. Noch immer scheinen sie den nicht gefunden zu haben, den sie suchen. Jetzt sind sie an einem frisch aufgeworfenen Hügel an der Kirchenmauer. O mein Gott, da ruht er, der teure, unvergeßliche Pater Brundusius! ruft die schwarze Dame, auf die Knie sinkend und laut schluchzend, aus. Unter dieser Hülle also sind seine teuren Überreste! O guter, guter Pater Brundusius!
Stumm knieten sich die zwei Männer neben die trauernde Dame hin, ihre Tränen flossen vereint auf die lockere Erde hinab. Der jüngere der zwei Männer war Joseph, der ältere ein inniger Freund des Pater Brundusius, ein Schwarzwälder, die Dame war seine Frau, jene junge, englische Dame, die einst den Joseph begrüßt hatte, als er das erstemal nach London kam. Dieses Ehepaar hatte an Pater Brundusius ihren teuren Seelenführer und Joseph seinen letzten Freund, Bruder, Jugend- und Studiengefährten verloren. Die letzte Stütze, an die sich Joseph in diesem Leben noch lehnen konnte, war zusammengebrochen.
Pater Brundusius moderte hier schon drei Monate; er war weit, fern von seiner Heimat am 7. Mai 1863 nach neuntägiger Krankheit einer Lungenentzündung in den Jahren des schönsten Mannesalters erlegen.
Befremdend schaute eine Gruppe von guten Irländern auf die drei am Grabe des Pater Brundusius schluchzenden Fremdlinge. Sie kamen eben aus der Klosterkirche von ihrem sonntäglichen Nachmittagsgottesdienste und wollten für ihren einstigen geliebten Seelenhirten auch ein Vaterunser beten, und als sie den Bruder des Pater Brundusius erkannten, der vor einem Jahre in ihrer Kapelle Messe gelesen hatte, da eilten sie alle hin und küßten voll Ehrerbietung dessen Kleider; denn auch er war ja katholischer Priester, er war der Bruder des teuren Pater Brundusius, ihn konnten sie nimmermehr vergessen, und das gute Völkchen weinte mit Joseph. Dann aber kehrten die drei Fremdlinge wieder heim. Die Dame nahm sich ein blühendes Pelargonienstöckchen vom Grabe des Pater Brundusius mit, um es als lebendiges Andenken zu hegen, bis es endlich auch sterbe.
So wären nun die Flegeljahre zu Ende, und Joseph steht noch allein auf der elenden Welt als eine Eiche, deren grünende Äste der Sturmwind des Herrn alle weggenommen hat; er wartet nur noch, bis auch ihn der Herr hinüber-, dorthin ruft, wo keine Träne, keine Trennung und kein Tod mehr ist.
Diese Geschichte scheint zwar ein Roman zu sein, und doch ist es kein Roman, es hat sich alles so zugetragen, wie es geschrieben ist. Viele noch Lebende könnten es bezeugen. Joseph selbst hat dem Verfasser diese Geschichte in die Feder diktiert. Seine Absicht dabei war, daß vielleicht einer oder der andere etwas Gutes daraus lerne.