Paul, Hermann
Prinzipien der Sprachgeschichte.
Paul, Hermann

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251 Vierzehntes Kapitel.

Bedeutungsdifferenzierung.

§ 173. Es ist, wie wir gesehen haben, im Wesen der Sprachentwickelung begründet, dass sich in einem fort eine Mehrheit von gleichbedeutenden Wörtern, Formen, Konstruktionen herausbildet. Als die eine Ursache dieser Erscheinung haben wir die Analogiebildung kennen gelernt, als eine zweite konvergierende Bedeutungsentwickelung von verschiedenen Seiten her; wir können als dritte hinzufügen die Aufnahme eines Fremdwortes für einen Begriff, der schon durch ein heimisches Wort vertreten ist (vgl. Vetter - Cousin, Base - Cousine), unter welche Kategorie natürlich auch die Entlehnung aus einem verwandten Dialekte zu stellen ist.

So unvermeidlich aber die Entstehung eines solchen Überflusses ist, so wenig ist er imstande, sich auf die Dauer zu erhalten. Die Sprache ist allem Luxus abhold. Man darf mir nicht entgegenhalten, dass sie dann auch die Entstehung des Luxus vermeiden würde. Es gibt in der Sprache überhaupt keine Präkaution gegen etwa eintretende Übelstände, sondern nur Reaktion gegen schon vorhandene. Die Individuen, welche das Neue zu dem Alten gleichbedeutenden hinzuschaffen, nehmen in dem Augenblicke, wo sie dieses tun, auf das letztere keine Rücksicht, indem es ihnen entweder unbekannt ist, oder wenigstens in dem betreffenden Augenblicke nicht ins Bewusstsein tritt. In der Regel sind es dann erst andere, die, indem sie das Neue von diesem, das Alte von jenem Sprachgenossen hören, beides untermischt gebrauchen.

Unsere Behauptung trifft wenigstens durchaus für die gewöhnliche Umgangssprache zu. Etwas anders verhält es sich mit der Literatursprache, und zwar mit der poetischen noch mehr als der prosaischen. Aber die Abweichung bestätigt nur unsere Grundanschauung, dass Bedürfnis und Mittel zur Befriedigung sich immer in das gehörige Ver- 252 hältnis zu einander zu setzen suchen, wozu ebensowohl gehört, dass das Unnütze ausgestossen wird, wie dass die Lücken nach Möglichkeit ausgefüllt werden. Man darf den Begriff des Bedürfnisses nur nicht so eng fassen, als ob es sich dabei nur um Verständigung über die zum gemeinsamen Leben unumgänglich notwendigen Dinge handle. Vielmehr ist dabei auch die ganze Summe des geistigen Interesses, aller poetischen und rhetorischen Triebe zu berücksichtigen. Ein durchgebildeter Stil, zu dessen Gesetzen es gehört, nicht den gleichen Ausdruck zu häufig zu wiederholen, verlangt natürlich, dass womöglich mehrere Ausdrucksweisen für den gleichen Gedanken zu Gebote stehen. In noch viel höherem Grade verlangen Versmass, Reim, Alliteration oder ähnliche Kunstmittel die Möglichkeit einer Auswahl aus mehreren gleichbedeutenden Lautgestaltungen, wenn anders ihr Zwang nicht sehr unangenehm empfunden werden soll. Die Folge davon ist, dass die poetische Sprache sich die gleichwertigen Mehrheiten, welche sich zufällig gebildet haben, zu Nutze macht, sie beliebig wechselnd gebraucht, wo die Umgangssprache den Gebrauch einer jeden an bestimmte Bedingungen knüpft, sie beibehält, wo die Umgangssprache sich allmählich wieder auf Einfachheit einschränkt. Dies ist ja eben eins der wesentlichsten Momente in der Differenzierung des poetischen von dem prosaischen Ausdrucke. Es lässt sich leicht an der poetischen Sprache eines jeden Volkes und Zeitalters im einzelnen der Nachweis führen, wie ihr Luxus im engsten Zusammenhange mit der geltenden poetischen Technik steht, am leichtesten vielleicht an der Sprache der altgermanischen alliterierenden Dichtungen, die sich durch einen besonderen Reichtum an Synonymen für die geläufigsten Begriffe auszeichnet, z.B. für Mann, Weib, Kind, Herr, Untergebener, Kampf, Pferd, Schwert. Die Möglichkeit der Auswahl dient sehr zur Erleichterung der Alliteration.

Auch bei der volkstümlichen Rede muss als Bedürfnis mit in Anschlag gebracht werden die Neigung zu kräftiger, oft übertreibender, zu anschaulicher und bildlicher Ausdrucksweise. Wo aber etwas Derartiges nicht in Frage kommt, ist die Annahme eines viele Jahrhunderte langen Nebeneinanderbestehens von gleichbedeutenden Doppelformen oder Doppelwörtern aller Erfahrung zuwiderlaufend und muss mit Entschiedenheit als ein methodologischer Fehler bezeichnet werden, ein Fehler, der allerdings bei der Konstruktion der indogermanischen Grundformen früher häufig begangen und neuerdings wieder recht Mode geworden ist.

Bei der Beseitigung des Luxus müssen wir uns natürlich wieder jede bewusste Absicht ausgeschlossen denken. In der unnützen Überbürdung des Gedächtnisses liegt auch schon das Heilmittel dafür. 253

§ 174. Die einfachste Art der Beseitigung ist der Untergang der mehrfachen Formen und Ausdrucksweisen bis auf eine. Man kann leicht die Beobachtung machen, dass der Luxus der Sprache nur in beschränktem Masse auch ein Luxus des einzelnen ist. Auf einem gewissen Gleichmasse in der Auswahl aus den möglichen Ausdrucksformen beruht am meisten die charakteristische Eigentümlichkeit der individuellen Sprache. Denn ist einmal das eine aus irgend welchem Grunde geläufiger geworden als das andere, d. h. ist seine Befähigung sich unter gegebenen Umständen in das Bewusstsein zu drängen eine grössere, so ist auch die Tendenz vorhanden, dass, wo nicht besondere Einflüsse nach der entgegengesetzten Seite treiben, dies Übergewicht bei einer jeden neuen Gelegenheit eine Verstärkung erhält. Sobald nun die überwiegende Majorität einer engeren Verkehrsgemeinschaft in der Auswahl aus irgend einer Mehrheit zusammentrifft, so ist wieder die natürliche Folge, dass sich die Übereinstimmung mehr und mehr befestigt und nach dem Absterben einiger Generationen eine vollständige wird. So bilden denn die verschiedenen Möglichkeiten der Auswahl auch eine Hauptrolle für die Entstehung dialektischer Unterschiede. Natürlich kommt es auch vor, dass die Auswahl auf dem ganzen Sprachgebiete zu dem gleichen Resultate führt, namentlich da, wo besonders günstige oder besonders ungünstige Bedingungen für die eine Form vorhanden sind. So sind z. B. Wörter, die keinen bedeutenden Lautkörper haben, wenn sie durch die Sprachentwickelung noch weiter reduziert werden, im Nachteil gegen solche mit grösserer Lautmasse; vgl. z. B. in den romanischen Sprachen das Zurückweichen von dare gegen donare, verus gegen veracus, (franz. vrai), dies gegen diurnum (franz. jour), avis gegen avicellus (franz. oiseau), apis gegen apicula (franz abeille).

§ 175. Neben dieser bloss negativen Entlastung der Sprache gibt es aber auch eine positive Nutzbarmachung des Luxus vermittelst einer Bedeutungsdifferenzierung des Gleichwertigen. Auch diesen Vorgang dürfen wir uns durchaus nicht als einen absichtlichen denken. Wir haben gesehen, dass die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes, einer Flexionsform, einer Satzfügung etc. jede für sich und eine nach der andern erlernt werden. Wo nun eine Mehrheit von gleichwertigen Ausdrücken im Gebrauche ist, deren jeder mehrere Bedeutungen und Verwendungsarten in sich schliesst, da ergibt es sich ganz von selbst, dass nicht jedem einzelnen im Verkehre die verschiedenen Bedeutungen gleichmässig auf die verschiedenen Ausdrücke verteilt erscheinen. Vielmehr wird es sich häufig treffen, dass er diesen Ausdruck früher oder öfter mit dieser, jenen früher oder öfter mit jener Bedeutung verbunden hört. Sind ihm aber die verschiedenen Ausdrücke jeder mit einer 254 besonderen Bedeutung geläufig geworden, so wird er auch dabei beharren, falls er nicht durch besonders starke Einflüsse nach der entgegengesetzten Seite getrieben wird.

Wo die einzelnen Momente der Entwickelung nicht historisch zu verfolgen sind, sondern nur das Gesamtresultat vorliegt, da entsteht häufig der Schein, als sei eine Lautdifferenzierung zum Zwecke der Bedeutungsunterscheidung eingetreten. Und noch immer scheuen sich viele Sprachforscher nicht, etwas Derartiges anzunehmen. Schon um solche Aufstellungen definitiv zu beseitigen, ist es von Wichtigkeit, die hierher gehörigen Fälle aus den modernen Sprachen in möglichster Reichlichkeit zu sammeln.

§ 176. Zusammenstellungen von Doppelformen, die auf die gleiche Grundlage zurückgehen, sind schon in früher Zeit versucht und neuerdings reichlich veranstaltet.Vgl. Nicolas Catherinot, Les Doublets de la Langue Françoise 1683. A. Brachet, Dictionnaire des Doublets de la langue française, Paris 1868, Supplément, Paris 1871. Thomsen, Bedeutungsentwickelung der Scheidewörter des Französischen, Diss. Kiel 1890. Caroline Michaelis, Romanische Wortschöpfung, Leipzig 1876 (darin vorzugsweise Beispiele aus dem Spanischen zusammengestellt, theorethische Erörterungen namentlich S. 41ff.). Coelho, Formes divergentes de mots portugais (Romania II, 281ff.). Canello, Gli allotropi italiani (Arch. glott. ital. III, 285). O. Behaghel, Die neuhochdeutschen Zwillingswörter (Germania 23, 257ff.). Andresen, Wortspaltungen auf dem Gebiete der neuhochdeutschen Schrift- und Verkehrssprache (Zschr. f. deutsche Phil. 23, 265). Mätzner, Englische Grammatik² I, 221ff. Warnke, Die neuenglischen Scheideformen, Progr. Coburg 1882. Skeat, Principles of English Etymology, S. 417. Edw. Allen, English Doublets (Publications of the Modern Language Association of America 23, 184). Axel Erdmann, Dubbelformer i den moderna engelskan (Upsala Universitets Årsskrift 1886). Noreen, Om orddubletter i nysvenskan (ib.). Western, Om Norske Dobbelformer (Arkiv f. nordisk filologie IV, 1). Bréal, Les doublets latins (Mémoires de la société de linguistique de Paris I, 162ff., 1868). Ders. La Sémantique, p. 29ff.. Dieselben beschäftigen sich allerdings nur teilweise eingehender mit der Bedeutungsentwickelung. Auch fällt das in ihnen Zusammengestellte bei weitem nicht alles unter die Kategorie, mit der wir es hier zu tun haben. Selbstverständlich müssen alle Fälle ausgeschlossen werden, in denen ein Lehnwort von Anfang an in einer andern Bedeutung aufgenommen ist als ein altheimisches oder ein in früherer Zeit oder aus anderer Quelle entlehntes Wort, gleichviel ob die Wörter, wenn man weit genug zurückgeht, auf den gleichen Ursprung führen. Französisch chose und cause stammen beide aus lat. causa, aber ihre Bedeutungsverschiedenheit ist nicht aus einer Differenzierung auf französischem Boden entstanden, sondern cause ist als gerichtlicher Terminus entlehnt zu einer Zeit, als chose sich schon zu der allgemeinen Bedeutung `Sache' entwickelt hatte. So verhält es sich bei weitem mit den meisten Doppelwörtern der romanischen 255 Sprachen, die uns deshalb hier gar nichts angehen,C. Michaelis ist gewiss im allgemeinen im Irrtume, wenn sie (S. 42ff.) auch die dem Lateinischen näherstehende Bedeutung der dem Lateinischen näherstehenden Form als Ergebnis einer Differenzierung auffasst. so verhält es sich auch mit neuhochdeutschen Wörtern wie legal - loyal, Pfalz - Palast, Pulver - Puder, Spital - Hôtel etc. Die Zusammenstellung solcher Wörter hat eigentlich keinen wissenschaftlichen Zweck, wenn sie auch der Kuriosität halber interessieren mag. Weiter müssen wir aber auch alle diejenigen Fälle ausschliessen, in welchen die Bedeutungsdifferenzierung die Folge einer grammatischen Isolierung ist. Wenn z. B. das alte Partizipium bescheiden noch als Adj. in der Bedeutung modestus gebraucht wird, dagegen als eigentliches Part. beschieden, so sind zwar in der letzteren Verwendung eine Zeit lang bescheiden und beschieden neben einander hergegangen, aber niemals ist beschieden = modestus gebraucht.

Auf der andern Seite ist in den angeführten Arbeiten unsere zweite Klasse, in der die Bedeutungsgleichheit erst auf sekundärer Entwickelung beruht, gar nicht berücksichtigt. An einer gesichteten Zusammenstellung von Fällen, die als unzweifelhafte Differenzierung gleichbedeutender Ausdrücke zu betrachten sind, fehlt es also dennoch, es wird sich daher empfehlen mit Beispielen zur Erläuterung des Vorganges nicht sparsam zu sein. Ich wähle dieselben grösstenteils aus dem Neuhochdeutschen.

§ 177. Die Formen Knabe und Knappe sind im Mhd. vollständig gleichbedeutend und vereinigen beide die verschiedenen neuhochdeutschen Bedeutungen in sich. Ebenso werden Raben (= nhd. Rabe) und Rappe beide zur Bezeichnung des Vogels verwendet, während jetzt in der Schriftsprache Rappe auf die metaphorische Verwendung für ein schwarzes Pferd beschränkt ist.Allerdings vermag ich Rabe in der übertragenen Bedeutung nicht nachzuweisen. Eine dritte Form, Rappen mit einem aus den obliquen Kasus in den Nom. gedrungenen n hat sich für die Münze (ursprünglich mit einem schwarzen Vogelkopf) festgesetzt, die anfänglich auch Rappe, Rapp heisst und ausserdem als Rabenheller, Rabenpfennig, Rabenbatzen, Rabenvierer bezeichnet wird (vgl. Adelung). Wie Knabe - Knappe verhalten sich im mhd. bache (Hinterbacken, Schinken) - Bache (urgerm. bakô - bakkô) zu einander, und es ist daher sehr wahrscheinlich, dass wir es hier mit einer ebenfalls sekundären, nur bedeutend älteren Bedeutungsdifferenzierung zu tun haben. Erst neuhochdeutsch ist die Unterscheidung zwischen Reiter (= mhd. rîter) und Ritter, scheuen und scheuchen, die verschiedene Nuancierung in der Anwendung von Jungfrau und Jungfer. Hain ist eine Kon- 256 traktion aus Hagen und im Mhd. sind beide gleichbedeutend (noch jetzt in Kompositis wie Hagebuche - Hainbuche, Hagebutte - Hainbutte etc.); Hagen in der abgeleiteten Bedeutung, die jetzt auf Hain beschränkt ist, erscheint bei B. Waldis.

Häufig sind die Doppelformen, die durch die Mischung verschiedener Deklinationsweisen entstanden sind, differenziert, so Franke - Franken, Tropf - Tropfen (vgl. für die gleichwertige Verwendung die Beispiele bei Sanders, z. B. Haller: du bist der Weisheit Meer, wir sind davon nur Tröpfe und umgekehrt Wieland: dem armen Tropfen), Fleck - Flecken, Fahrt - Fährte, Stadt - Stätte (mhd. Nom. vart, stat - Gen. verte, stete); zugleich mit Verschiedenheit des Geschlechtes der Lump - die Lumpe, der Trupp - die Truppe, der Karren - die Karre, der Possen - die Posse. Verschiedenheit des Geschlechtes bei gleicher Nominativform wird verwertet in der - das Band (Beispiele für der Band = fascia, vinculum im Deutschen Wb.), der - die Flur (ersteres nur in der Bedeutung Hausflur, in welcher Bedeutung aber auch die Flur vorkommt), der - die Haft (schon im Mhd. mit ziemlich entschiedener Trennung der Bedeutungen), der - das Mensch (letzteres noch im siebzehnten Jahrhundert ohne verächtlichen Nebensinn), der - das Schild (die Scheidung noch jetzt nicht ganz durchgeführt, vgl. DWb), der - das Verdienst, der - das Gehalt, der - die See, der - die Schwulst (Beispiele für beide Geschlechter in eigentlicher wie uneigentlicher Bedeutung im DWb), die - das Erkenntnis (letzteres noch bei Kant sehr häufig = cognitio). Dazu kommen die Fälle, in denen verschiedene Pluralbildungen sich differenziert haben: Bande - Bänder, Dinge - Dinger (der jetzigen Verwendung entgegen z. B. bei Luther Luc. 21, 26 für warten der Dinger die kommen sollen auf Erden), Gesichte - Gesichter (Beispiele von Nichtbeobachtung des Unterschieds im DWb), Lichte - Lichter (die Unterscheidung nicht allgemein durchgeführt), Orte - Örter (desgleichen), Tuche - Tücher, Worte - Wörter (Beispiele, in denen ersteres noch wie letzteres verwendet wird, bei Sanders 3, 1662b), Säue - Sauen (vgl. für die ältere Zeit Stellen wie von den zahmen Sauen entsprossen oder wilde Säue und Bären etc. bei Sanders), Effekte - Effekten. Im älteren Nhd. kommt von Druck sowohl der Pl. Drucke als Drücke vor; jetzt existiert nur noch der Pl. Drucke im Sinne von »gedruckte Werke«, wofür Goethe noch Drücke gebraucht, dagegen heisst es Abdrücke, Eindrücke, Ausdrücke. In ältere Zeit zurück geht die Differenzierung von Tor - Tür (vgl. Sievers, Beitr. z. Gesch. d. deutsch. Spr. u. Lit. 5, 111¹) und Buch - Buche (ahd. buoh, noch häufig Fem., ist die alte Nominativform, buocha die Akkusativform); die alten Nominativformen buoz, wîs, halp sind auf die Verwendung in bestimmten Formeln beschränkt (mir 257 wirdit buoz, managa wîs, einhalb etc., noch jetzt anderthalb, drittehalb), während sonst die Akkusativformen buoza, wîsa, halba üblich geworden sind.

Diese Benutzung verschiedener Flexionsformen begegnet uns beinahe in allen flektierenden Sprachen. Aus dem Englischen lassen sich eine Anzahl doppelter Pluralbildungen aufführen: cloths Kleiderstoffe - clothes fertige Kleider, während in der älteren Sprache so gut wie von den meisten übrigen Wörtern beide Bildungsweisen untermischt gebraucht werden; pennies Pfennige als Geldstücke - pence als Wertbestimmung; brethren gewöhnlich im übertragenen Sinne - brothers im eigentlichen. Im Holländischen werden die Plurale auf -en und -s von einigen Wörtern noch beliebig nebeneinander gebraucht (vogelen - vogels), von andern ist nur der eine üblich (engelen, aber pachters), wieder von andern aber werden beide nebeneinander mit differenzierter Bedeutung gebraucht, vgl. hemelen (Himmel im eigentlichen Sinne) - hemels (Betthimmel), letteren (Brief oder Literatur) - letters (Buchstaben), middelen (Mittel) - middels (Taillen), tafelen (Gesetztafeln u. dergl.) - tafels (Tische), vaderen (Voreltern) - vaders (Väter), wateren (Wasser) - waters (Ströme). Ähnlich stehen sich bei einigen Wörtern die Formen auf -en und -eren gegenüber: kleeden (Tischdecken, Teppiche) - kleederen (Kleider), beenen (Gebeine) - beenderen (Knochen), bladen (Blätter im Buch) - bladeren (im eigentlichen Sinne). Aus dem Dänischen gehört hierher skatte (Schätze) - skatter (Abgaben), vaaben (Waffen) - vaabener (Wappen). Wo im Altn. a mit o (dem u-Umlaut) in der Wurzelsilbe der Nomina wechselte je nach der Beschaffenheit der Flexionsendung (z. B. sok[u] - sakar etc.), da sind im späteren Norwegisch zunächst Doppelformen entstanden, eine mit a, eine mit o, von denen dann meistens entweder die erstere oder die letztere untergegangen ist. In einigen Fällen aber haben sich beide mit Bedeutungsdifferenzierung erhalten gata (Gasse) - gota (Fahrweg), grav (Grab) - grov (Grube), mark (Feld) - mork (Wald), tram (Anhöhe) - trom (Rand).

In der Flexion des Pron. der ist der gegenwärtig bestehende Unterschied im Gebrauche der kürzeren und der erweiterten Formen erst allmählich herausgebildet. Die Formen der im Gen. Sg. Fem. und im Gen. Pl. aller Geschlechter und den im Dat. Pl., die jetzt auf den adjektivischen Gebrauch beschränkt sind, kommen im siebenzehnten Jahrhundert noch häufig, vereinzelt auch noch im achtzehnten im substantivischen vor, z. B. bei Goethe die Krone, der mein Fürst mich würdig achtet. Dagegen werden umgekehrt derer, denen adjektivisch, selbst als blosser Artikel gebraucht, vgl. z. B. derer Dinge, derer Leute (Logau), derer Gesetze (Klopstock); zu denen dingen, zu denen stunden 258 (Heinrich von Wittenweiler, 15. Jahrh.); noch im achtzehnten Jahrh. ist denen in dieser Verwendung häufig in der Schriftsprache, und noch ist dene mit der üblichen Apokope des n die allgemein herrschende Form in alemannischen und südfränkischen Mundarten. Ferner ist der gegenwärtig bestehende Gebrauch, dass deren auf den Gen. beschränkt ist, dagegen im Dat. ausschliesslich der verwendet wird, gleichfalls erst sekundär herausgebildet, vgl. von deren ich reden, in deren die schmeichler seind (Gailer von Keisersberg), o Fürstin, deren sich ein solcher Fürst verbunden (Weckherlin). Endlich ist auch der merkwürdige Unterschied, den man jetzt in der Anwendung der Formen derer und deren macht, erst allmählich herausgebildet; vgl. wie viel seind deren die da haben (Pauli) und umgekehrt mit mancher Kunst, derer sichs gar nit schemen thar (P. Melissus).

Schaffen als st. Verb. und schöpfen sind aus demselben Paradigma entsprungen: got. skapjan, Prät. skop. Zum Prät. scuof hat sich im Ahd. neben der alten Form scephen ein neues regelmässiges Präs. scaffan gebildet; im Mhd. ist dann weiter zu schepfen ein Prät. schepfete und ein Part. geschepfet gebildet. Im Mhd. sind schuof, geschaffen und schepfete, geschepfet gleichbedeutend, vereinigen die Bedeutung der beiden neuhochdeutschen Wörter in sich. Dieselbe Vereinigung findet sich im Präs. schepfen. Das Präs. schaffen erscheint allerdings von vornherein auf die Bedeutung »schaffen« beschränkt.

Zücken und zucken sind ursprünglich gleichbedeutende Doppelformen, vgl. der schon das Schwert zucket (Le.) - den Anblick eines Zückenden (Herder). Ebenso drücken und drucken.

Die Konjunktion als ist durch alse hindurch aus alsô entstanden. Im Mhd. sind beide vollkommen gleichbedeutend, beide nach Belieben demonstrativ oder relativ. Ebenso wenig besteht ein Unterschied der Bedeutung zwischen danne und denne, wanne und wenne. Die jetzige Verschiedenheit des Gebrauches ist durch einen ganz langsamen Prozess entwickelt, und die Zufälligkeit der Entstehung zeigt sich noch an dem Mangel eines logischen Prinzipes der Differenzierung. Sekundär ist auch der jetzige Unterschied von warum und worum.

Das Partizipium des Intransitivums verdorben und das des entsprechenden Transitivums verderbt haben sich so geschieden, dass das letztere nur noch in moralischem Sinne gebraucht wird. Sekundär ist auch der Bedeutungsunterschied von bewegt und bewogen, vgl. z.B. das Meer . . vom Winde bewogen (Prätorius), der hat im Tanze nicht die Beine recht bewogen (Rachel), dagegen dass er dadurch bewegt ward, solches in eigener Person zu erfahren (Buch der Liebe).

Die Wörter auf -heit, -keit, -schaft, -tum sind früher wesentlich gleichbedeutend. Sie können sämtlich eine Eigenschaft bezeichnen, manche 259 haben daneben eine Kollektivbedeutung entwickelt. Auch Wörter auf -nis und einfachere Bildungen wie Höhe, Tiefe berührten sich vielfach mit ihnen. So ist es auch bis jetzt im Ganzen geblieben, aber im Einzelnen haben sich da, wo mehrere dieser Bildungen nebeneinander standen, diese meistens irgendwie differenziert. Fälle, in denen die verschiedenen Gebrauchsweisen, die sich jetzt auf mehrere solcher Bildungen verteilen, einmal vollständig in jeder derselben vereinigt waren, sind allerdings nicht so häufig, doch vgl. Gemein(d)e, Gemeinschaft, von denen auch Gemeinheit ursprünglich in der Bedeutung nicht geschieden war. Bemerkenswert sind auch Kleinheit - Kleinigkeit, Neuheit - Neuigkeit. Beispiele für die frühere unterschiedslose Verwendung des ersten Paares sind im deutschen Wb beigebracht, vgl. so verhält es sich auch mit gewissen Kleinheiten, die es im Haushalt nicht sind (Goethe-Zelterscher Briefwechsel) - die ausnehmende Kleinigkeit der Masse (Kant). Über das zweite Paar lehrt Adelung, Neuheit werde gebraucht »als ein Konkretum, eine neue bisher nicht erfahrne oder erkannte Sache, wofür doch Neuigkeit üblicher ist«, dagegen »die Neuigkeit einer Nachricht, einer Empfindung, eines Gedankens u. s. f., wofür jetzt in der anständigen Sprechart Neuheit üblicher ist«.

Entsprechend verhält es sich mit den Adjektiven auf -ig, -isch, -lich, -sam, -haft, -bar, bei denen die jetzt bestehenden Bedeutungsverschiedenheiten nicht auf Bedeutungsverschiedenheiten der Suffixe an sich beruhen. Ein treffendes Beispiel ist ernstlich - ernsthaft, vgl. für den älteren Gebrauch die stets gar ernstlich und sauer sieht (Ayrer) - der ernsthaft fleisz (Fischart).

Im Mhd. sind und als (alsô, alse) ganz gleichbedeutend, beide sowohl demonstrativ als relativ. Im Nhd. sind sie differenziert, zunächst in der Weise, dass so im allgemeinen als Dem., als als Rel. gebraucht wird, vgl. z. B. so wohl als auch (mhd. sô wol sô oder als wol als), so bald als. Doch Reste des demonstrativen Gebrauchs sind alsbald und alsdann. Im Mhd. hat lîhte wie vil lîhte die Bedeutung von nhd. leicht und vielleicht. Die Beschränkung der Form ehe auf die Konjunktion ist sekundär. Noch Gleim schreibt ehe als Klopstock, Goe. er soll eh gewonnen als verloren haben.

Im Mhd. kann sichern so viel bedeuten wie nhd. versichern und umgekehrt versichern so viel wie nhd. sichern (z. B. die stat mit mûren und mit graben v.). Die Unterscheidung von sammeln, Sammlung und versammeln, Versammlung ist dem älteren Nhd. noch fremd; vgl. Moses und Aron . . sammelten auch die ganze Gemeinde, Gott ist fast mächtig in der samlunge der heiligen (Lu.). - des festlichen Tages, an dem die Gegend mit Jubel Trauben lieset und tritt und den Most in die Fässer versammelt (Goe.); die Linsen sind gleichsam eine Versammlung 260 unendlicher Prismen (Goe.); dass sie (die Juden in ihrer Zerstreuung) keiner Versammlung mehr hoffen dürfen (Lu.). Das einfache öffnen wird früher wie jetzt eröffnen in dem übertragenen Sinne »offenbaren« gebraucht, vgl. du versprichst mir deine Gedanken zu öffnen. Ein ähnliches Verhältnis besteht öfters zwischen Simplex und Kompositum oder zwischen verschiedenen Kompositis, die ein gemeinsames Simplex haben.

Bei einem Teile dieser Fälle lassen sich die wahrscheinlichen Ursachen angeben, warum die Verteilung der Bedeutungen gerade so und nicht anders erfolgt ist. So begreift es sich z. B., wenn der Plur. auf -er (Wörter etc.) da zur Herrschaft gelangt ist, wo die Vorstellung einer Mehrheit schärfer ausgeprägt ist. Aber meistens lassen sich solche Ursachen nicht auffinden. Wir werden anerkennen müssen, dass eine innere Beziehung zwischen Lautgestalt und Bedeutung nicht vorhanden zu sein braucht,Anderer Ansicht scheint Wundt zu sein (vgl. 2, 451ff., 463ff.), schwerlich mit Recht. dass vielmehr die Entwickelung durch allerlei zufällige und darum für uns unerkennbare Bedingungen bestimmt ist. Manchen von den besprochenen Differenzierungen hat erst die Autorität einzelner Grammatiker zur Durchführung verholfen.

§ 178. Es müssen hier auch einige Vorgänge besprochen werden, die zwar nicht eigentlich Differenzierungen sind, die aber aus den nämlichen Grundprozessen entspringen wie diese und daher für deren Beurteilung wichtig sind. Den Ausgangspunkt bildet dabei nicht totale, sondern partielle Gleichheit der Bedeutung.

Der partiellen Gleichheit kann eine totale vorangegangen sein, die zunächst dadurch aufgehoben ist, dass das eine Wort eine Bedeutungserweiterung erfahren hat, die das andere nicht mitgemacht hat. Dann ist sehr häufig die weitere Folge, dass das erste aus seiner ursprünglichen Bedeutung von dem letzteren ganz herausgedrängt und auf die neue Bedeutung beschränkt wird. Kristentuom und kristenheit werden zwar schon von Walther v. d. Vogelweide im heutigen Sinne einander gegenübergestellt, aber das letztere wird doch mhd. auch noch in der Grundbedeutung = Christentum gebraucht, vgl. z. B. Tristan 1868 (von einem zu taufenden Kinde) durch daz ez sîne kristenheit in gotes namen empfienge. Mhd. wîstuom bedeutet dasselbe wie wîsheit, daneben tritt aber die abgeleitete Bedeutung »Rechtsbelehrung« auf, und auf diese wird dann nhd. Weistum beschränkt. Mhd. gelîchnisse kann noch in demselben Sinne wie gelîchheit gebraucht werden, nhd. gleichnis hat diese ursprüngliche Bedeutung aufgegeben. Indessen (indes) hat ursprünglich rein temporale Bedeutung, vgl. ich bin indess krank gewesen (Le.); aus dieser ist es durch unterdessen verdrängt. 261

Häufiger ist es, dass ein Wort, welches früher in seiner Bedeutung von einem anderen ganz verschieden war, irgend einen Teil von dem Gebiete des letzteren okkupiert und dann allmählich für sich allein in Beschlag nimmt. So ist böse auf das moralische Gebiet eingeschränkt (mhd. auch boesiu kleit u. dergl.) durch das Übergreifen von schlecht (ursprünglich »glatt«, »gerade«). Ähnliche Einschränkungen haben erfahren: siech (ursprünglich die allgemeine Bezeichnung für krank), Seuche, Sucht durch krank, Krankheit (ursprünglich »schwach«, »Schwäche«); arg (mhd. auch in der Bedeutung »geizig«) durch karg (ursprünglich »klug«); als durch wie (ursprünglich Fragewort, dann zunächst nur verallgemeinerndes Relativum), ob durch wenn.

Sehr häufig endlich ist es, dass ein neugebildetes oder aus einer fremden Sprache entlehntes Wort ein älteres aus einem Teile seines Gebietes hinausdrängt. So hat mhd. ritterschaft auch die Bedeutung von Rittertum; nachdem das letztere Wort gebildet ist, büsst es diese ein. So ist freundlich durch freundschaftlich angegriffen, wesentlich durch wesenhaft, empfindlich durch empfindsam, einig durch einzig, gemein durch gemeinsam und allgemein, Lehen durch Darlehen, Stegreif durch Steigbügel, künstlich durch kunstvoll und kunstreich, Bein durch Knochen (ursprünglich mitteldeutsch).

Diese verschiedenen Vorgänge können in mannigfachen Verknüpfungen untereinander und mit der eigentlichen Bedeutungsdifferenzierung erscheinen. Soll einmal die Geschichte der Bedeutungsentwickelung zu einer Wissenschaft ausgebildet werden, so wird es ein Haupterfordernis sein, auf diese Verhältnisse die sorgfältigste Rücksicht zu nehmen. Auch nach dieser Seite hin bestätigt sich unser Grundsatz, dass das Einzelne nur mit stetem Hinblick auf das Ganze des Sprachmaterials beurteilt werden darf, dass nur so Erkenntnis des Kausalzusammenhanges möglich ist. Wie schon die hier gegebenen Andeutungen erkennen lassen, ist dabei gerade der Mangel durchgehender logischer Prinzipien charakteristisch. Der Zufall, die Absichtslosigkeit liegen zu Tage.

§ 179. Wir haben oben schon mehrfach an das syntaktische Gebiet gestreift. Auch an rein syntaktischen Verhältnissen zeigen sich die besprochenen Vorgänge.

Im Ahd. waren in der starken Deklination des Adj. Doppelformen für den Nom. Sg. sowie für den Akk. Sg. N. entstanden: guot - guotêr, guotiu, guotaz. Im Gebrauch dieser Formen besteht zunächst kein Unterschied. Einerseits wird die sogenannte unflektierte attributiv vor dem Subst. gebraucht, noch im Mhd. allgemein, während sich jetzt bis auf wenige isolierte Reste die flektierte festgesetzt hat, anderseits wird die flektierte auch da gebraucht, wo sich später die unflektierte 262 festgesetzt hat; so attributiv nach dem Subst, z. B. Krist guatêr, thaz himilrîchi hôhaz Otfrid, noch im Mhd. der knappe guoter Parzival, ein wolken so trüebez Heinr. v. Morungen neben dem üblicheren der knappe guot etc.; ferner als Prädikat: ist iuuar mieta mihhilu Tatian, uuird thu stummêr Otfrid, vereinzelt noch im Mhd., z. B. daz daz wîte velt vollez frouwen wære Parzival 671, 19; so auch ih habetiz io giuuissaz (hielt es immer für gewiss) Otfrid, alsô nazzer muose ich scheiden Walther v. d. Vogelw. Bei ein und beim Possessivpron. hat sich auch vor dem Subst. die unflektierte Form festgesetzt, früher standen beide nebeneinander, vgl. sînêr sâmo, sînaz korn, einaz fisgizzi Otfrid.

Die Doppelformen ward und wurde haben sich so geschieden, dass ersteres auf die Bedeutung des Aorists beschränkt ist, während im Sinne des Imperfektums nur das letztere gebraucht werden kann. Doch ist die Scheidung nicht durchgeführt, weil wurde in jedem Falle angewendet werden kann. Dass auch im Idg. zwischen dem Ind. des Impf. und dem des Aor. ursprünglich keine Bedeutungsverschiedenheit bestanden hat, dürfen wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen. Denn die Doppelheit ist wahrscheinlich aus einem einzigen Paradigma entstanden dadurch, dass eine durch den wechselnden Akzent entstandene Diskrepanz zwischen den Formen nach zwei verschiedenen Seiten hin ausgeglichen wurde. Noch auf dem uns überlieferten Zustande des Sanskrit sind die Formen nicht in allen Klassen des Verb. geschieden. Ob man got. wiljau (ich will) einen Opt. Präs. oder Aor. nennen will, ist ganz gleichgültig. Überhaupt wird das Tempus- und Modussystem des Idg. durch eine Anzahl von Bedeutungsdifferenzierungen zu Stande gekommen sein, womit der entgegengesetzte Vorgang, Zusammenfall der Bedeutung verschiedenartiger Bildungen, Hand in Hand ging.


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