Paul, Hermann
Prinzipien der Sprachgeschichte.
Paul, Hermann

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242 Dreizehntes Kapitel.

Verschiebungen in der Gruppierung der etymologisch zusammenhängenden Wörter.

§ 167. Wenn man sämtliche die gleiche Wurzel enthaltenden Wörter und Formen nach den ursprünglichen Bildungsgesetzen, wie sie durch die zergliedernde Methode der älteren vergleichenden Grammatik gefunden sind, zusammenordnet, so erhält man ein mannigfach gegliedertes System oder ein grösseres System von kleineren Systemen, die ihrerseits wieder aus Systemen bestehen können. Schon ein einziges indogermanisches Verbum für sich stellt ein sehr kompliziertes System dar. Aus dem Verbalstamme haben sich verschiedene Tempusstämme, aus jedem Tempusstamme verschiedene Modi, erst daraus die verschiedenen Personen in den beiden Genera entwickelt. Die analytische Grammatik ist bemüht immer das dem Ursprunge nach nächst Verwandte von dem erst in einem entfernteren Grade Verwandten zu sondern, immer zwischen Grundwort und Ableitung zu scheiden, alle Sprünge zu vermeiden und nicht etwas als direkte Ableitung zu fassen, was erst Ableitung aus einer Ableitung ist. Was aber von ihrem Gesichtspunkte aus ein Fehler in der Beurteilung der Wort- und Formenbildung ist, das ist etwas, dem das Sprachbewusstsein unendlich oft ausgesetzt ist. Es ist ganz unvermeidlich, dass die Art, wie sich die etymologisch zusammengehörigen Formen in der Seele der Sprachangehörigen unter einander gruppieren, in einer späteren Periode vielfach etwas anders ausfallen muss als in der Zeit, wo die Formen zuerst gebildet wurden. Und die Folge davon ist, dass auch die auf solcher abweichenden Gruppierung beruhende Analogiebildung aus dem Gleise der ursprünglichen Bildungsgesetze heraustritt. Sekundärer Zusammenfall von Laut und Bedeutung ist dabei vielfach im Spiel. Welche wichtige Rolle dieser Vorgang in der Sprachgeschichte spielt, mag eine Reihe von Beispielen lehren.

§ 168. Wir haben im Nhd. eine Anzahl von Alters her überlieferter Nomina actionis männlichen Geschlechts neben entsprechenden 243 Verben, vgl. Fall - fallen, Fang - fangen, Schlag - schlagen, Streit - streiten, Lauf - laufen, Sang - singen. Wenn wir auf das ursprüngliche Bildungsprinzip zurückgehen, so werden wir sagen müssen, dass weder das Nomen aus dem Verbum, noch das Verbum aus dem Nomen abgeleitet ist, sondern beide direkt aus der Wurzel. Wir haben ferner einige Fälle, in denen neben einem Nomen actionis ein daraus abgeleitetes schwaches Verbum steht, vgl. Hass - hassen, Krach - krachen, Schall - schallen, Rauch - rauchen, Ziel - zielen, Mord - morden, Hunger - hungern. Im Nhd. sind diese beiden Klassen nicht auseinander zu halten, namentlich deshalb, weil die Verschiedenheit der Verbalendungen im Präs. ganz verschwunden ist. Es erscheinen jetzt Schlag - schlagen und Hass - hassen einander vollkommen proportional, und man bildet nun weiter auch zu anderen Verben, gleichviel welcher Konjugationsklasse sie angehören, Nomina einfach durch Weglassung der Endung, vgl. Betrag, Ertrag, Vortrag, Betreff, Verbleib, Begehr, Erfolg, Verfolg, Belang, Betracht, Brauch, Gebrauch, Verbrauch, Besuch, Versuch, Verkehr, Vergleich, Bereich, Schick, Bericht, Verein, Ärger etc. Im Mhd. steht neben dem Subst. gît ein daraus abgeleitetes Verbum gîtesen. Letzteres entwickelt sich im Spätmhd. regelrecht zu geitzen, geizen, und daraus bildet sich das Subst. Geiz, welches das ältere geit verdrängt. Entsprechend ist Blitz gebildet zu blitzen aus blickezen, einer Ableitung aus Blick, das ursprünglich auch die Bedeutung »Blitz« hatte.Über ähnliche »Rückbildungen« im Ungarischen vgl. Simonyi S. 282..

§ 169. Wo ein Nomen und ein Verbum von entsprechender Bedeutung nebeneinander stehen, da ist es unausbleiblich, dass die aus dem einen gebildete Ableitung sich auch zu dem andern in Beziehung setzt, so dass sie dem Sprachgefühl eben sowohl aus dem letzteren wie aus dem ersteren gebildet erscheinen kann, und diese von dem ursprünglichen Verhältnis abgehende Beziehung kann dann die Veranlassung zu Neubildungen werden. Unser Suffix -ig (ahd. -ag und -ig) dient ursprünglich nur zu Ableitungen aus Nominibus. Aber es stehen ihrer Form und Bedeutung nach Wörter wie gläubig, streitig, geläufig in eben so naher Beziehung zu glauben, streiten, laufen wie zu Glaube, Streit, Lauf, andere wie irrig sogar in näherer Beziehung zu dem betreffenden Verbum, weil das Subst. Irre in seiner Bedeutungsentwickelung dem Adj. nicht parallel gegangen ist; bei andern wie gehörig, abwendig ist das zu Grunde liegende Subst. (mhd. hôre) verloren gegangen oder wenigstens nicht mehr allgemein gebräuchlich. So werden denn eine Anzahl von Adjektiven geradezu aus Verben gebildet, vgl. erbietig (gegenüber dem nominalen erbötig), ehrerbietig, freigebig, 244 ergiebig, ausfindig (doch wohl mit Anlehnung an mhd. fündec), zulässig, rührig, wackelig, dämmerig, stotterig; auch abhängig kann seiner Bedeutung nach nicht zu Hang, Abhang, sondern nur zu abhängen gestellt werden. Ebenso verhält es sich mit den Adjektiven auf -isch, von denen wenigstens neckisch, mürrisch, wetterwendisch als Ableitungen aus Verben aufgefasst werden müssen, nach dem Muster solcher wie neidisch, spöttisch, argwöhnisch etc. gebildet. Unser Suffix -er (ahd. -âri, -eri, mhd. -ære, -er), welches jetzt als allgemeines Mittel zur Bildung von Nomina agentis aus Verben dient, wurde ursprünglich nur zu solchen Bildungen verwendet, wie wir sie noch in Bürger, Müller, Schüler und vielen andern Wörtern haben. Im Got. sind sicher nominalen Ursprungs bokareis (Schriftgelehrter) von boka (im Pl. Buch), daimonareis (Besessener) von daímôn, motareis (Zöllner) von mota (Zoll), wullareis (Tuchwalker) von wulla (Wolle), liuþareis (Sänger) von einem vorauszusetzenden *liuþ = ahd. leod, nhd. lied. Demgemäss werden wir wohl auch laisareis (Lehrer) und sokareis (Forscher) nicht von den Verben laisjan (lehren) und sokjan (suchen) abzuleiten haben, sondern von vorauszusetzenden Substantiven *laisa = ahd. lêra, nhd. lehre und *soka = mhd. suoche. Diese beiden letzten Wörter zeigen aber bereits die Möglichkeit die Bildung in Beziehung zu einem Verbum zu setzen. Auch neben liuþareis steht liuþon (singen). An solche Muster angeschlossen beginnen dann schon im Ahd. die Ableitungen aus Verben. Dass die nominale Ableitung das Ursprüngliche ist, sieht man namentlich noch an solchen Fällen wie zuhtâri (Erzieher), aus zuht, nicht aus ziohan abgeleitet, nôtnumftâri (Räuber); vgl. noch nhd. Wächter, Lügner (aus ahd. lugina), Redner (aus ahd. redina). In den Fällen, wo der Wurzelvokal der nominalen Ableitung nicht zum Präs. des Verbums stimmt, tritt mehrfach eine verbale Neubildung daneben, und mitunter haben sich beide Bildungen bis ins Neuhochdeutsche gehalten, vgl. Ritter - Reiter, Schnitter - Schneider, Näther - Näher, Mähder - Mäher, Sänger - Singer (ahd. nur sangâri), Schilter (als Eigenname) = mhd. schiltære (Mahler) - Schilderer. Die Substantiva auf ahd. -ida (got. iiþa) scheinen ursprünglich nur aus Adjektiven gebildet zu sein und erst in Folge sekundärer Beziehung aus Verben: kisuohhida zu kisuohhen, pihaltida zu pihaltan nach chundida - chunden - chund etc.

Wie in der Ableitung verhält es sich auch in der Komposition. Die allmähliche Umdeutung eines nominalen ersten Kompositionsgliedes in ein verbales und die dadurch hervorgerufenen Neubildungen hat OsthoffDas Verbum in der Nominalkomposition im Deutschen, Griechischen, Slavischen und Romanischen. Jena 1878. ausführlich behandelt. So treten z. B. ahd. waltpoto (procu- 245 rator), sceltwort, betohus, spiloman, fastatag, wartman, spurihunt, erbireht, welche doch die Nomina walt (giwalt), scelta, beta, spil, fasta, warta, spuri, erbi enthalten, in direkte Beziehung zu den Verben waltan, sceltan, betôn, spilôn, fastên, wartên, spurien, erben, und von diesen und ähnlichen Bildungen aus entspringt die im Nhd. so zahlreich gewordene Klasse von Kompositis mit verbalem ersten Gliede wie Esslust, Trinksucht, Schreibfeder, schreibfaul etc. Hierher gehören namentlich viele Komposita mit -bar, -lich, -sam, -haft,Vgl. Osthoff a. a. O. S. 116. die aber vom Standpunkte des Sprachgefühls aus vielmehr als Ableitungen zu betrachten und mit den oben angeführten Bildungen auf -ig und -isch gleichzustellen sind, vgl. Wörter wie wählbar, unvertilgbar, unbeschreiblich, empfindlich, empfindsam, naschhaft. Der Übergang zeigt sich besonders deutlich bei solchen Wörtern wie streitbar, wandelbar, vereinbar. Streitbar kann noch eben so gut auf Streit wie auf streiten bezogen werden, aber unbestreitbar nur auf bestreiten. Im Mhd. wird wandelbære durchaus auf Wandel bezogen, und da dieses gewöhnlich »Makel« bedeutet, so bedeutet es auch gewöhnlich »mit einem Makel behaftet«; im Nhd. dagegen ist wandelbar, unwandelbar ganz an die Bedeutung des Verb. wandeln angelehnt. Im Mhd. gibt es ein Adj. einbære »einträchtig«, ganz ohne Beziehung auf das Verb. denkbar.

§ 170. Sehr häufig ist der Fall, dass eine Ableitung aus einer Ableitung in direkte Beziehung zum Grundworte gesetzt wird, wodurch dann auch wirkliche direkte Ableitungen veranlasst werden mit Verschmelzung von zwei Suffixen zu einem. So erklärt sich z. B. die Entstehung unserer neuhochdeutschen Suffixe -nis, -ner, -ling. Im Got. liegt noch ganz klar ein Suffix -assus vor (ufar-assus Überfluss). Dasselbe wird aber am häufigsten verwendet zu Bildungen aus Verbis auf -inon, z. B. gudjinassus (Priesteramt) zu gudjinon (Priesterdienst verrichten). Sobald man dieses direkt auf gudja (Priester) bezog, musste man -nassus als Suffix empfinden. Ein n fand sich ferner in solchen Bildungen wie ibnassus aus ibns (eben) und in Ableitungen aus Partizipien wie ahd. farloran-issa. So ist es gekommen, dass in den westgermanischen Dialekten, von wenigen altertümlichen Resten abgesehen, ein n mit dem Suffix verwachsen ist. Die Bildungen auf -ner gehen aus von Nominalstämmen, die ein n enthalten, vgl. Gärtner (mhd. gartenære), Lügner (mhd. lügenære von lügene neben lüge), Hafner (mhd. havenære), Wagner, Redner (ahd. redinâri aus redina), oder von Verben auf ahd. -inôn, vgl. Gleissner (mhd. gelîchsenære von gelîchsenen). Indem nun z. B. Lügner zu Lüge, Redner zu Rede, reden in Beziehung gesetzt 246 wird, entsteht Suffix -ner, das wir z. B. finden in Bildner (schon im 14. Jahrh. bildenære, früher aber bildære), Harfner (mhd. harpfære), Söldner (spätmhd. soldenære, früher soldier). In Künstler (mhd. kunster) erscheint auch -ler als Suffix, denn wir beziehen es direkt auf Kunst, weil das Verbum künsteln, von dem es eigentlich abstammt, auf speziellere Bedeutung beschränkt ist. Suffix -ling (in Pflegling, Zögling etc.) geht aus von solchen Bildungen wie ahd. ediling (der Edele) von edili oder adal, chumiling (nhd. in Abkömmling, Ankömmling) zu (uo-)chumilo. So stand zwischen jung und jungilinc wohl auch einmal eine Diminutivbildung *jungilo.

Die neuhochdeutschen Verba auf -igen sind ausgegangen von Ableitungen aus Adjektiven auf -ig. Mhd. einegen, huldegen, leidegen, nôtegen, manecvaltegen, schedegen, schuldegen stammen unzweifelhaft aus einec, huldec, leidec, nôtec, schadec, schuldec; aber nhd. vereinigen, beleidigen, beschuldigen wird man eher direkt auf ein, Leid, Schuld beziehen, und bei huldigen und schädigen ist gar keine andere Beziehung als auf Huld und Schade möglich, weil die vermittelnden Adjektiva verloren gegangen sind, ebenso nötigen, weil nötig nicht mehr in der Bedeutung korrespondiert. So entstehen denn andere direkt aus dem Substantivum wie vereidigen, befehligen, befriedigen, einhändigen, beherzigen, sündigen, beschäftigen, oder aus einfachen Adjektiven wie beschönigen, sänftigen, genehmigen. Die Verba auf -ern und -eln sind hervorgegangen aus einem Kerne von Ableitungen aus Nominibus auf ahd. -ar und -al (-ul, -il), indem z. B. ahd. spurilôn, (investigare) nicht direkt auf das Verb. spurien, sondern auf ein vorauszusetzendes Adj. *spuril (= altn. spurall) zurückgeht; jetzt aber werden sie direkt aus einfacheren Verben abgeleitet, vgl. folgern, räuchern (spätmhd. rouchern, früher rouchen), erschüttern (mhd., noch im 16. Jahrh. erschütten), zögern (aus mhd. zogen), schütteln, lächeln, schmeicheln (aus mhd. smeichen) etc. Auf entsprechende Weise haben sich auch die Ableitungen aus Nominibus wie äugeln, frösteln, näseln, frömmeln, klügeln, kränkeln herausgebildet.

Im Mhd. bilden viele Adjektiva ein Adv. auf lîche, vgl. frôlîche, grôzlîche, lûterlîche, eigenlîche, vermezzenlîche, sinneclîche, einvalteclîche. Dieserart Formen sind natürlich zunächst von adjektivischen Kompositis auf -lîch abgeleitet. Indem aber das Adv. des Simplex ausser Gebrauch kommt, stellt sich eine direkte Beziehung zwischen dem Adv. des Kompositums und dem einfachen Adj. her. Die Entwickelung geht sogar noch weiter, indem nach Analogie von grimmeclîche, stæteclîche u. dergl., die direkt auf grim oder grimme, stæte bezogen werden, auch armeclîche, milteclîche, snelleclîche etc. gebildet werden, wiewohl kein armec etc. existiert. Die englischen Adverbia auf -ly sind des nämlichen Ursprungs. 247

Ähnliche Vorgänge sind offenbar in Menge schon in einer Periode eingetreten, in der wir die allmähliche Entwickelung nicht verfolgen können. Wir finden in den verschiedenen indogermanischen Sprachen schon auf der ältesten uns vorliegenden Entwickelungsstufe eine reichliche Anzahl von Suffixen, deren Lautgestalt darauf hinweist, dass sie Komplikationen mehrerer einfacher Suffixe sind, und die wahrscheinlich alle so entstanden sind, dass auf die geschilderte Weise eine Ableitung zweiten Grades zu einer ersten Grades geworden ist.

§ 171. Zu vielen Verschiebungen der Beziehungen gibt ferner das Verhalten von Kompositis zu einander Anlass. Gehen zwei verwandte Wörter eine Komposition mit dem gleichen Elemente ein, so ist es kaum zu vermeiden, dass eine direkte Beziehung zwischen den beiden Kompositis entsteht, und es ergibt sich die Konsequenz, dass das eine nicht mehr als Kompositum, sondern als Ableitung aus einem Kompositum aufgefasst wird. Umgekehrt kann eine Ableitung aus einem Kompositum in direkte Beziehung zu der entsprechenden Ableitung aus dem einfachen Worte gesetzt werden, und die Folge davon ist, dass sie als ein Kompositum aufgefasst wird.

Ein reichliches Material zum Beleg für diese Vorgänge liefert die Geschichte der Komposition im Deutschen. Ursprünglich besteht ein scharfer Unterschied zwischen verbaler und nominaler Komposition. In der verbalen werden nur Präpositionen als erste Kompositionsglieder verwendet, in der nominalen Nominalstämme und Adverbien, anfangs nur die mit den Präpositionen identischen, später auch andere. In der verbalen ruht der Ton auf dem zweiten, in der nominalen auf dem ersten Bestandteile. Bei der Zusammensetzung mit Partikeln ist demnach der Akzent das unterscheidende Merkmal. Sehr häufig ist nun der Fall, dass ein Verbum und ein dazu gehöriges Nomen actionis mit derselben Partikel komponiert werden. In einer Anzahl solcher Fälle ist das alte Verhältnis bis jetzt gewahrt trotz des Bedeutungsparallelismus zwischen den beiden Kompositis,Im allgemeinen aber neigen die nominalen Komposita dazu, sich an die uneigentlichen verbalen anzulehnen, gerade auch wegen der gleichen Betonung, während aus den eigentlichen Substantiva auf -ung abgeleitet werden, vgl. dúrchfahren = Dúrchfahrt - durchfáhren = Durchfáhrung etc. vgl. durchbréchen - Dúrchbruch, durchschnéiden - Dúrchschnitt, durchstéchen - Dúrchstich, überblícken - Ü'berblick, überfállen - Ü'berfall, übergében - Ü'bergabe, übernéhmen - Ü'bernahme, überscháuen - Ü'berschau, überschlágen - Ü'berschlag, überséhen - Ü'bersicht, überzíehen - Ü'berzug, umgéhen - Úmgang (eines Dinges Umgang haben), unterhálten - Únterhalt, unterschéiden - Únterschied, unterschréiben - Únterschrift, 248 widerspréchen - Wíderspruch. In anderen Fällen hat die verschiedene Akzentuierung eine verschiedene Lautgestalt der Partikel erzeugt, wodurch sich verbales und nominales Kompositum noch schärfer von einander abheben. Hier ist im Nhd. das alte Verhältnis nur in einigen wenigen Fällen erhalten, wo die Bedeutungsentwickelung nicht parallel gewesen ist, wie erlauben - Urlaub, erteilen - Urteil. Im Mhd. haben wir noch empfángen - ámpfanc, enthéizen - ántheiz, entlâ'zen - ántlâz, entságen - ántsage, begráben - bígraft, bespréchen - bísprâche, bevâ'hen - bívanc, erhében - úrhap, erstâ'n - úrstende, verbíeten - vü'rbot (gerichtliche Vorladung), versétzen - vü'rsaz (Versetzung, Pfand), verzíehen - vü'rzoc u. a. In allen diesen Fällen ist die Diskrepanz, wo die Wörter sich überhaupt erhalten haben, jetzt beseitigt, indem das nominale Kompositum an das Verbum angelehnt ist: Empfang, Verzug etc. In andern Fällen ist die Ausgleichung schon im älteren Mhd. eingetreten, und die Partikel ga- (nhd. ge-) ist mindestens schon im Ahd., wo nicht schon im Urgermanischen stets unbetont. Mitwirkend ist bei diesem Prozesse offenbar das Verhältnis der verbalen Komposita zu den daraus gebildeten nominalen Ableitungen (mhd. erloesen - erloesære, erloesunge etc.), die ihrerseits erst Analogiebildungen nach den Ableitungen aus einfachen Verben sind. Auch Inf. und Part., die vielfach zu reinen Nominibus sich entwickeln (vgl. nhd. Behagen, Belieben, Erbarmen, Verderben, Vergnügen; bescheiden, erfahren, verschieden etc.) und die aus dem letzteren gebildeten Substantiva (vgl. Gewissen, Bescheidenheit, Bekanntschaft, Verwandtschaft, Erkenntnis etc.) wirken mit.

Auf der andern Seite ist auch das Prinzip, dass ein verbales Kompositum kein Nomen enthalten kann, für das Sprachgefühl etwas durchlöchert, indem Ableitungen wie handhaben, lustwandeln, mutmassen, nottaufen, radebrechen (durch die schwache Flexion als Ableitung erwiesen, vgl. mhd. -breche), ratschlagen, wetteifern, argwöhnen, notzüchtigen, rechtfertigen, verwahrlosen aus Handhabe, Notzucht, rechtfertig etc. sowie das durch Volksetymologie umgedeutete weissagen (ahd. wîzagôn aus dem Adj. wîzag, substantiviert wîzago, der Prophet) auch als Komposita gefasst werden können. Diese Auffassung zeigt sich an dem gelegentlichen Vorkommen von Formen wie radebricht (3. Sg. bei A. Gryphius und Platen), ratschlägt (Goe.), ratschlug (schon bei Lu.). Durch solche Bildungen ist vielleicht das Zusammenwachsen syntaktischer Gruppen zu Kompositis (lobsingen, wahrsagen) begünstigt.

Eine andere merkwürdige Verschiebung der Beziehungen in der Komposition findet sich durch zahlreiche Beispiele im Spät- und Mittellateinischen und in den romanischen Sprachen vertreten. Wir haben hier eine grosse Menge von Verben, die aus der Verbindung einer Präposition mit ihrem Kasus entweder wirklich abgeleitet sind oder 249 wenigstens ihrer Bedeutung nach daraus abgeleitet erscheinen, vgl. accorporare (ad corpus), incorporare, accordare, excommunicare (ex communione), extemporare (extemporalis schon im 1. Jahrhundert p. Chr.), emballer, déballer, embarquer, débarquer, enrager, affronter, achever (ad caput), s'endimancher (sich in den Sonntagsstaat werfen), s'enorgueillir.Mehr Beispiele bei Arsène Darmesteter, Traité de la formation des mots composés dans la langue française (Bibliothèque de l'école des hautes études. Sciences philologiques et historiques 19) Paris 1875, S. 80ff. Hiermit sind auch die Bildungen aus Adjektiven verwandt, welche bedeuten »sich in den betreffenden Zustand hineinversetzen« wie affiner, enivrer, adoucir, affaiblir, ennoblir etc. Die ursprüngliche Grundlage für diese Bildungen ist zweierlei gewesen. Einerseits Ableitungen aus komponierten Nominibus, vgl. assimilis - assimilare, concors concordare, deformis - deformare (in der Bedeutung »verunstalten«), degener - degenerare, depilis - depilare, exanimis - exanimare, exheres - exheredare, exossis - exossare, exsucus - exsucare, demens - dementire, insignis - insignire, die sich verhalten wie sanus - sanare; ferner dedecus - dedecorare. Anderseits Komposita von denominativen Verben wie accelerare (celerare dichterisch), adaequare, addensare, aggravare, aggregare, appropinquare, assiccare, attenuare, adumbrare, dearmare, decalvare, dehonorare, depopulari, despoliare, detruncare, exhonorare, exonerare, innodare, inumbrare, investire. Beide Klassen mussten allmählich miteinander zusammengeworfen werden und zumal da, wo in der ersten das zu Grunde liegende Nomen, in der zweiten das Simplex ausser Gebrauch kam, in dem bezeichneten Sinne umgedeutet werden.

§ 172. Eine ähnliche Verschiebung wie in dem Verhältnis verwandter Wörter zu einander findet sich übrigens auch schon in Bezug auf das Verhältnis der verschiedenen Bedeutungen des gleichen Wortes. Unter diesen tritt gewöhnlich eine als die eigentliche Hauptbedeutung hervor. Es ist diejenige, die, wenn das Wort ausser Zusammenhang ausgesprochen wird und ohne eine besondere Disposition des Hörenden, zunächst in das Bewusstsein tritt. Meistens ist sie mit der Grundbedeutung identisch, jedoch keineswegs immer, indem diese öfters seltener geworden ist, mitunter sich nur in bestimmten Formeln erhalten hat. Es macht sich nun die Tendenz geltend, solche vereinzelte Reste älterer Bedeutung an die jüngere, jetzt zur Hauptbedeutung gewordene anzulehnen, so dass sie als Ableitungen aus dieser gefasst werden. Tadel bedeutet ursprünglich »Fehler«, »Gebrechen«; in ohne Tadel haben wir eine direkte Fortsetzung der alten Gebrauchsweise, aber unser heutiges Sprachgefühl erklärt sich auch diese Verbindung aus der jetzigen Bedeutung. Die Grundbedeutung von Kopf »Napf« 250 liegt zu Grunde den Zusammensetzungen Tassenkopf, Schröpfkopf, Pfeifenkopf, niemand empfindet sie aber mehr darin, man wird vielmehr an eine uneigentliche Verwendung von Kopf in dem uns geläufigen Sinne denken. Rat bezeichnet ursprünglich »was jemandem an Mitteln zur Befriedigung seiner Bedürfnisse und zur Ausführung seiner Zwecke zu Gebote steht«, so noch in Vorrat, Hausrat, ferner aber auch in Wendungen wie zu Rate halten, Rat schaffen, dazu kann Rat werden, aber dem Sprachgefühl fällt es nicht ein, dass hier etwas anderes als die jetzt übliche Bedeutung zu Grunde liegt. Knopf bezeichnet ursprünglich eine kugelartige Anschwellung an einem Gegenstande, wie noch allgemein in Stecknadelknopf, und doch fühlt niemand hierin eine ursprünglichere Bedeutung als in Hemdenknopf, Hosenknopf u. dergl. Auch Knoten bezeichnet ursprünglich eine rundliche Anschwellung, für uns gehört es jetzt aber als etwas Wesentliches zum Begriffe Knoten, dass derselbe durch eine Verschlingung entstanden ist, und wir sind geneigt in Flachsknoten eine uneigentliche Verwendung zu sehen. Ebenso scheint uns z. B. in Sonnenblick eine Übertragung vorzuliegen, während darin die ursprüngliche Bedeutung von Blick »das Blinken« bewahrt ist. Sache auf einen Prozess bezogen empfinden wir als eine Spezialisierung der allgemeinen Bedeutung, während das historische Verhältnis vielmehr umgekehrt ist. Bei halten denkt man jetzt zunächst an das handgreifliche Festhalten und wird darin auch die Grundlage suchen für Wendungen wie auf Ehre halten, Pferde, Dienstboten halten etc., die doch auf die Grundbedeutung »hüten« zurückgehen. Können ist für uns jetzt »im Stande wozu sein«, und wir ordnen unter diese allgemeine Bedeutung jetzt auch Verwendungsweisen unter wie etwas auswendig können, französisch können, lesen können, die doch Fortsetzungen der mittelhochdeutschen Gebrauchsweise des Wortes = »wissen«, »verstehen« sind.


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