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§ 1. Die Sprache ist wie jedes Erzeugnis menschlicher Kultur ein Gegenstand der geschichtlichen Betrachtung; aber wie jedem Zweige der Geschichtswissenschaft so muss auch der Sprachgeschichte eine Wissenschaft zur Seite stehen, welche sich mit den allgemeinen Lebensbedingungen des geschichtlich sich entwickelnden Objektes beschäftigt, welche die in allem Wechsel gleichmässig vorhandenen Faktoren nach ihrer Natur und Wirksamkeit untersucht. Es fehlt für diese Wissenschaft eine allgemein gültige und passende Bezeichnung. Unter Sprachphilosophie versteht man in der Regel doch etwas anderes. Und ausserdem durfte es vielleicht aus einem Grunde geraten sein diesen Ausdruck lieber zu vermeiden. Unser unphilosophisches Zeitalter wittert darunter leicht metaphysische Spekulationen, von denen die historische Sprachforschung keine Notiz zu nehmen brauche. In Wahrheit aber ist das, was wir im Sinne haben, nicht mehr und nicht minder Philosophie als etwa die Physik oder die Physiologie. Am allerwenigsten darf man diesem allgemeinen Teile der Sprachwissenschaft den historischen als den empirischen gegenüberstellen. Der eine ist gerade so empirisch wie der andere.
Nur selten genügt es zum Verständnis der geschichtlichen Entwickelung eines Gegenstandes die Gesetze einer einzelnen einfachen Experimentalwissenschaft zu kennen; vielmehr liegt es in der Natur aller geschichtlichen Bewegung, zumal wo es sich um irgend einen Zweig menschlicher Kultur handelt, dass dabei sehr verschiedenartige Kräfte, deren Wesen zu ergründen die Aufgabe sehr verschiedener Wissenschaften ist, gleichzeitig in stätiger Wechselwirkung ihr Spiel treiben. Es ist somit natürlich, dass eine solche allgemeine Wissenschaft, wie sie einer jeden historischen Wissenschaft als genaues Pendant gegenübersteht, nicht ein derartig abgeschlossenes Ganze darstellen kann, wie die sogenannten exakten Naturwissenschaften, die Mathematik oder die Psychologie. Vielmehr bildet sie ein Konglomerat, das aus verschiedenen reinen Gesetzeswissenschaften oder in der Regel aus 2 Segmenten solcher Wissenschaften zusammengesetzt ist. Man wird vielleicht Bedenken tragen einer solchen Zusammenstellung, die immer den Charakter des Zufälligen an sich trägt, den Namen einer Wissenschaft beizulegen. Aber mag man darüber denken, wie man will, das geschichtliche Studium verlangt nun einmal die vereinigte Beschäftigung mit so disparaten Elementen als notwendiges Hilfsmittel, wo nicht selbständige Forschung, so doch Aneignung der von andern gewonnenen Resultate. Man würde aber auch sehr irren, wenn man meinte, dass mit der einfachen Zusammensetzung von Stücken verschiedener Wissenschaften schon diejenige Art der Wissenschaft gegeben sei, die wir hier im Auge haben. Nein, es bleiben ihr noch Aufgaben, um welche sich die Gesetzeswissenschaften, die sie als Hilfsmittel benutzt, nicht bekümmern. Diese vergleichen ja die einzelnen Vorgänge unbekümmert um ihr zeitliches Verhältnis zu einander lediglich aus dem Gesichtspunkte die Übereinstimmungen und Abweichungen aufzudecken und mit Hilfe davon das in allem Wechsel der Erscheinungen ewig sich gleich bleibende zu finden. Der Begriff der Entwickelung ist ihnen völlig fremd, ja er scheint mit ihren Prinzipien unvereinbar, und sie stehen daher in schroffem Gegensatze zu den Geschichtswissenschaften. Diesen Gegensatz zu vermitteln ist eine Betrachtungsweise erforderlich, die mit mehr Recht den Namen einer Geschichtsphilosophie verdienen würde, als das, was man gewöhnlich damit bezeichnet. Wir wollen aber auch hier das Wort Philosophie lieber vermeiden und uns der Bezeichnung Prinzipienwissenschaft bedienen. Ihr ist das schwierige Problem gestellt: wie ist unter der Voraussetzung konstanter Kräfte und Verhältnisse doch eine geschichtliche Entwickelung möglich, ein Fortgang von den einfachsten und primitivsten zu den kompliziertesten Gebilden? Ihr Verfahren unterscheidet sich noch in einer andern Hinsicht von dem der Gesetzeswissenschaften, worauf ich schon oben hindeutete. Während diese naturgemäss immer die Wirkung jeder einzelnen Kraft aus dem allgemeinen Getriebe zu isolieren streben, um sie für sich in ihrer reinen Natur zu erkennen, und dann durch Aneinanderreihen des Gleichartigen ein System aufbauen, so hat im Gegenteil die geschichtliche Prinzipienlehre gerade das Ineinandergreifen der einzelnen Kräfte ins Auge zu fassen, zu untersuchen, wie auch die verschiedenartigsten, um deren Verhältnis zu einander sich die Gesetzeswissenschaften so wenig als möglich kümmern, durch stetige Wechselwirkung einem gemeinsamen Ziele zusteuern können. Selbstverständlich muss man, um das Ineinandergreifen des Mannigfaltigen zu verstehen, möglichst klar darüber sein, welche einzelnen Kräfte dabei tätig sind, und welches die Natur ihrer Wirkungen ist. Dem Zusammenfassen muss das Isolieren vorausgegangen sein. Denn so lange man noch mit unaufgelösten 3 Komplikationen rechnet, ist man noch nicht zu einer wissenschaftlichen Verarbeitung des Stoffes durchgedrungen. Es ist somit klar, dass die Prinzipienwissenschaft in unserm Sinne zwar auf der Basis der experimentellen Gesetzeswissenschaften (wozu ich auch die Psychologie rechne) ruht, aber doch auch ein gewichtiges Mehr enthält, was uns eben berechtigt ihr eine selbständige Stellung neben jenen anzuweisen.
Diese grosse Wissenschaft teilt sich in so viele Zweige, als es Zweige der Geschichte gibt, Geschichte hier im weitesten Sinne genommen und nicht auf die Entwickelung des Menschengeschlechtes beschränkt. Es ist von vornherein zu vermuten, dass es gewisse allgemeine Grundbedingungen geben wird, welche für jede Art der geschichtlichen Entwickelung die notwendige Unterlage bilden; noch sicherer aber ist, dass durch die besondere Natur eines jeden Objektes seine Entwickelung in besonderer Weise bedingt sein muss. Wer es unternimmt die Prinzipien irgend einer einzelnen geschichtlichen Disziplin aufzustellen, der muss auf die übrigen, zumal die nächstverwandten Zweige der Geschichtswissenschaft beständige Rücksicht nehmen, um so die allgemeinen leitenden Gesichtspunkte zu erfassen und nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Aber er muss sich auf der andern Seite davor hüten sich in blosse Allgemeinheiten zu verirren und darüber die genaue Anpassung an den speziellen Fall zu versäumen, oder die auf andern Gebieten gewonnenen Resultate in bildlicher Anwendung zu übertragen, wodurch die eigentlich zu ergründenden realen Verhältnisse nur verdeckt werden.
Erst durch die Begründung solcher Prinzipienwissenschaften erhält die spezielle Geschichtsforschung ihren rechten Wert. Erst dadurch erhebt sie sich über die Aneinanderreihung scheinbar zufälliger Daten und nähert sich in Bezug auf die allgemeingültige Bedeutung ihrer Resultate den Gesetzeswissenschaften, die ihr gar zu gern die Ebenbürtigkeit streitig machen möchten. Wenn so die Prinzipienwissenschaft als das höchste Ziel erscheint, auf welches alle Anstrengungen der Spezialwissenschaft gerichtet sind, so ist auf der andern Seite wieder die erstere die unentbehrliche Leiterin der letzteren, ohne welche sie mit Sicherheit keinen Schritt tun kann, der über das einfach Gegebene hinausgeht, welches doch niemals anders vorliegt als einerseits fragmentarisch, anderseits in Komplikationen, die erst gelöst werden müssen. Die Aufhellung der Bedingungen des geschichtlichen Werdens liefert neben der allgemeinen Logik zugleich die Grundlage für die Methodenlehre, welche bei der Feststellung jedes einzelnen Faktums zu befolgen ist.
§ 2. Man hat sich bisher keineswegs auf allen Gebieten der historischen Forschung mit gleichem Ernst und gleicher Gründlichkeit 4 um die Prinzipienfragen bemüht. Für die historischen Zweige der Naturwissenschaft ist dies in viel höherem Masse geschehen als für die Kulturgeschichte. Ursache ist einerseits, dass sich bei der letzteren viel grössere Schwierigkeiten in den Weg stellen. Sie hat es im allgemeinen mit viel komplizierteren Faktoren zu tun, deren Gewirr, so lange es nicht aufgelöst ist, eine exakte Erkenntnis des Kausalzusammenhangs unmöglich macht. Dazu kommt, dass ihre wichtigste Unterlage, die experimentelle Psychologie, eine Wissenschaft von jungem Datum ist, die erst allmählich in nähere Beziehung zur Geschichte gesetzt werden muss. Anderseits aber ist in demselben Masse, wie die Schwierigkeit eine grössere, das Bedürfnis ein geringeres oder mindestens weniger fühlbares gewesen. Für die Geschichte des Menschengeschlechts haben immer von gleichzeitigen Zeugen herstammende, wenn auch vielleicht erst mannigfach vermittelte Berichte über die Tatsachen als eigentliche Quelle gegolten und erst in zweiter Linie Denkmäler, Produkte der menschlichen Kultur, die annähernd die Gestalt bewahrt haben, welche ihnen diese gegeben hat. Ja man spricht von einer historischen und einer prähistorischen Zeit und bestimmt die Grenze durch den Beginn der historischen Überlieferung. Für die erstere ist daher das Bild einer geschichtlichen Entwickelung bereits gegeben, so entstellt es auch sein mag, und es ist leicht begreiflich, wenn die Wissenschaft mit einer kritischen Reinigung dieses Bildes sich genug getan zu haben glaubt und sogar geflissentlich alle darüber hinaus gehende Spekulation von sich abweist. Ganz anders verhält es sich mit der prähistorischen Periode der menschlichen Kultur und gar mit der Entwickelungsgeschichte der organischen und anorganischen Natur, die in unendlich viel ferner liegende Zeiten zurückgreift. Hier ist auch kaum das geringste geschichtliche Element als solches gegeben. Alle Versuche einer geschichtlichen Erfassung bauen sich, abgesehen von dem Wenigen, was von den Beobachtungen früherer Zeiten überliefert ist, lediglich aus Rückschlüssen auf. Und es ist überhaupt gar kein Resultat zu gewinnen ohne Erledigung der prinzipiellen Fragen, ohne Feststellung der allgemeinen Bedingungen des geschichtlichen Werdens. Diese prinzipiellen Fragen haben daher immer im Mittelpunkte der Untersuchung gestanden, um sie hat sich immer der Kampf der Meinungen gedreht. Gegenwärtig ist es das Gebiet der organischen Natur auf welchem er am lebhaftesten geführt wird, und es muss anerkannt werden, dass hier die für das Verständnis aller geschichtlichen Entwickelung, auch der des Menschengeschlechtes fruchtbarsten Gedanken zuerst zu einer gewissen Klarheit gediehen sind.
Die Tendenz der Wissenschaft geht jetzt augenscheinlich dahin diese spekulative Betrachtungsweise auch auf die Kulturgeschichte aus- 5 zudehnen, und wir sind überzeugt, dass diese Tendenz mehr und mehr durchdringen wird trotz allem aktiven und passiven Widerstande, der dagegen geleistet wird. Dass eine solche Behandlungsweise für die Kulturwissenschaft nicht gleich unentbehrliches Bedürfnis ist wie für die Naturwissenschaft, und dass man von ihr für die erstere nicht gleich weit gehende Erfolge erwarten darf wie für die letztere, haben wir ja bereitwillig zugegeben. Aber damit sind wir nicht der Verpflichtung enthoben genau zu prüfen, wie weit wir gelangen können, und selbst das eventuelle negative Resultat dieser Prüfung, die genaue Fixierung der Schranken unserer Erkenntnis, ist unter Umständen von grossem Werte. Wir haben aber auch noch gar keine Ursache daran zu verzweifeln, dass sich nicht wenigstens für gewisse Gebiete auch bedeutende positive Resultate gewinnen liessen. Am wenigsten aber darf man den methodologischen Gewinn geringschätzen, der aus einer Klarlegung der Prinzipienfragen erwächst. Man befindet sich in einer Selbsttäuschung, wenn man meint das einfachste historische Faktum ohne eine Zutat von Spekulation konstatieren zu können. Man spekuliert eben nur unbewusst, und es ist einem glücklichen Instinkte zu verdanken, wenn das Richtige getroffen wird. Wir dürfen wohl behaupten, dass bisher auch die gangbaren Methoden der historischen Forschung mehr durch Instinkt gefunden sind als durch eine auf das innerste Wesen der Dinge eingehende allseitige Reflexion. Und die natürliche Folge davon ist, dass eine Menge Willkürlichkeiten mit unterlaufen, woraus endloser Streit der Meinungen und Schulen entsteht. Hieraus gibt es nur einen Ausweg: man muss mit allem Ernst die Zurückführung dieser Methoden auf die ersten Grundprinzipien in Angriff nehmen und alles daraus beseitigen, was sich nicht aus diesen ableiten lässt. Diese Prinzipien aber ergeben sich, soweit sie nicht rein logischer Natur sind, eben aus der Untersuchung des Wesens der historischen Entwickelung.
§ 3. Es gibt keinen Zweig der Kultur, bei dem sich die Bedingungen der Entwickelung mit solcher Exaktheit erkennen lassen als bei der Sprache, und daher keine Kulturwissenschaft, deren Methode zu solchem Grade der Vollkommenheit gebracht werden kann wie die der Sprachwissenschaft. Keine andere hat bisher so weit über die Grenzen der Überlieferung hinausgreifen können, keine andere ist in dem Masse spekulativ und konstruktiv verfahren. Diese Eigentümlichkeit ist es hauptsächlich, wodurch sie als nähere Verwandte der historischen Naturwissenschaften erscheint, was zu der Verkehrtheit verleitet hat sie aus dem Kreise der Kulturwissenschaften ausschliessen zu wollen. Trotz dieser Stellung, welche die Sprachwissenschaft schon seit ihrer Begründung einnahm, gehörte noch viel dazu ihre Methode allmählich 6 bis zu demjenigen Grade der Vollkommenheit auszubilden, dessen sie fähig ist. Besonders seit dem Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts suchte sich eine Richtung Bahn zu brechen, die auf eine tiefgreifende Umgestaltung der Methode hindrängte. Bei dem Streite, der sich darüber entspann, trat deutlich zu Tage, wie gross noch bei vielen Sprachforschern die Unklarheit über die Elemente ihrer Wissenschaft war. Eben dieser Streit hat auch die nächste Veranlassung zur Entstehung dieser Abhandlung gegeben. Sie wollte ihr möglichstes dazu beitragen eine Klärung der Anschauungen herbeizuführen und eine Verständigung wenigstens unter allen denjenigen zu erzielen, welche einen offenen Sinn für die Wahrheit mitbringen. Es war zu diesem Zwecke erforderlich, möglichst allseitig die Bedingungen des Sprachlebens darzulegen und somit überhaupt die Grundlinien für eine Theorie der Sprachentwickelung zu ziehen.
§ 4. Wir scheiden die historischen Wissenschaften im weiteren Sinne in die beiden Hauptgruppen: historische Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften. Als das charakteristische Kennzeichen der Kultur müssen wir die Betätigung psychischer Faktoren bezeichnen. Dies scheint mir die einzig mögliche exakte Abgrenzung des Gebietes gegen die Objekte der reinen Naturwissenschaft zu sein. Demnach müssen wir allerdings auch eine tierische Kultur anerkennen, die Entwickelungsgeschichte der Kunsttriebe und der gesellschaftlichen Organisation bei den Tieren zu den Kulturwissenschaften rechnen. Für die richtige Beurteilung dieser Verhältnisse dürfte das nur förderlich sein.
Das psychische Element ist der wesentlichste Faktor in aller Kulturbewegung, um den sich alles dreht, und die Psychologie ist daher die vornehmste Basis aller in einem höheren Sinne gefassten Kulturwissenschaft. Das Psychische ist darum aber nicht der einzige Faktor; es gibt keine Kultur auf rein psychischer Unterlage, und es ist daher mindestens sehr ungenau die Kulturwissenschaften als Geisteswissenschaften zu bezeichnen. In Wahrheit gibt es nur éine reine Geisteswissenschaft, das ist die Psychologie als Gesetzeswissenschaft. Sowie wir das Gebiet der historischen Entwickelung betreten, haben wir es neben den psychischen mit physischen Kräften zu tun. Der menschliche Geist muss immer mit dem menschlichen Leibe und der umgebenden Natur zusammenwirken, um irgend ein Kulturprodukt hervorzubringen, und die Beschaffenheit desselben, die Art, wie es zu stande kommt, hängt eben so wohl von physischen als von psychischen Bedingungen ab; die einen wie die andern zu kennen ist notwendig für ein vollkommenes Verständnis des geschichtlichen Werdens. Es bedarf daher neben der Psychologie auch einer Kenntnis der Gesetze, nach denen sich die 7 physischen Faktoren der Kultur bewegen. Auch die Naturwissenschaften und die Mathematik sind eine notwendige Basis der Kulturwissenschaften. Wenn uns das im allgemeinen nicht zum Bewusstsein kommt, so liegt das daran, dass wir uns gemeiniglich mit der unwissenschaftlichen Beobachtung des täglichen Lebens begnügen und damit auch bei dem, was man gewöhnlich unter Geschichte versteht, leidlich auskommen. Ist es doch dabei mit dem Psychischen auch nicht anders und namentlich bis auf die neuere Zeit nicht anders gewesen. Aber undenkbar ist es, dass man ohne eine Summe von Erfahrungen über die physische Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vorganges irgend ein Ereignis der Geschichte zu verstehen oder irgend welche Art von historischer Kritik zu üben im stande wäre. Es ergibt sich demnach als eine Hauptaufgabe für die Prinzipienlehre der Kulturwissenschaft, die allgemeinen Bedingungen darzulegen, unter denen die psychischen und physischen Faktoren, ihren eigenartigen Gesetzen folgend, dazu gelangen zu einem gemeinsamen Zwecke zusammenzuwirken.
§ 5. Etwas anders stellt sich die Aufgabe der Prinzipienlehre von folgendem Gesichtspunkte aus dar. Die Kulturwissenschaft ist immer Gesellschaftswissenschaft. Erst Gesellschaft ermöglicht die Kultur, erst Gesellschaft macht den Menschen zu einem geschichtlichen Wesen. Gewiss hat auch eine ganz isolierte Menschenseele ihre Entwickelungsgeschichte, auch rücksichtlich des Verhältnisses zu ihrem Leibe und ihrer Umgebung, aber selbst die begabteste vermöchte es nur zu einer sehr primitiven Ausbildung zu bringen, die mit dem Tode abgeschnitten wäre. Erst durch die Übertragung dessen, was ein Individuum gewonnen hat, auf andere Individuen und durch das Zusammenwirken mehrerer Individuen zu dem gleichen Zwecke wird ein Wachstum über diese engen Schranken hinaus ermöglicht. Auf das Prinzip der Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung ist nicht nur die wirtschaftliche, sondern jede Art von Kultur basiert. Die eigentümlichste Aufgabe, welche der kulturwissenschaftlichen Prinzipienlehre zufällt und wodurch sie ihre Selbständigkeit gegenüber den grundlegenden Gesetzeswissenschaften behauptet, dürfte demnach darin bestehen, dass sie zu zeigen hat, wie die Wechselwirkung der Individuen auf einander vor sich geht, wie sich der einzelne zur Gesamtheit verhält, empfangend und gebend, bestimmt und bestimmend, wie die jüngere Generation die Erbschaft der älteren antritt.
Nach dieser Seite hin kommt übrigens der Kulturgeschichte schon die Entwicklungsgeschichte der organischen Natur sehr nahe. Jeder höhere Organismus kommt durch Assoziation einer Menge von Zellen zu stande, die nach dem Prinzipe der Arbeitsteilung zusammenwirken 8 und diesem Prinzipe gemäss in ihrer Konfiguration differenziert sind. Auch schon innerhalb der Einzelzelle, des elementarsten organischen Gebildes, ist dies Prinzip wirksam, und durch dasselbe Erhaltung der Form im Wechsel des Stoffes möglich. Jeder Organismus geht früher oder später zu Grunde, kann aber Ablösungen aus seinem eigenen Wesen hinterlassen, in denen das formative Prinzip, nach welchem er selbst gebildet war, lebendig fortwirkt, und dem jeder Fortschritt, welcher ihm in seiner eigenen Bildung gelungen ist, zu gute kommt, falls nicht störende Einflüsse von aussen dazwischen treten.
§ 6. Es durfte scheinen, als ob unsere Prinzipienlehre der Gesellschaftswissenschaft ungefähr das gleiche sei wie das, was Lazarus und Steinthal Völkerpsychologie nennen, und was sie in ihrer Zeitschrift zu vertreten suchen. Indessen fehlt viel, dass beides sich deckte. Aus unsern bisherigen Erörterungen geht schon hervor, dass unsere Wissenschaft sich sehr viel mit Nichtpsychologischem zu befassen hat. Wir können die Einwirkungen, welche der einzelne von der Gesellschaft erfährt, und die er seinerseits in Verbindung mit den andern ausübt, unter vier Hauptkategorien bringen. Erstens: es werden in ihm psychische Gebilde, Vorstellungskomplexe erzeugt, zu denen er, ohne dass ihm von den andern vorgearbeitet wäre, niemals oder nur sehr viel langsamer gelangt wäre. Zweitens: er lernt mit den verschiedenen Teilen seines Leibes gewisse zweckmässige Bewegungen ausführen, die eventuell zur Bewegung von fremden Körpern, Werkzeugen dienen; auch von diesen gilt, dass er sie ohne das Vorbild anderer vielleicht gar nicht, vielleicht langsamer gelernt hätte. Wir befinden uns also hier auf physiologischem Gebiete, aber immer zugleich auf psychologischem. Die Bewegung an sich ist physiologisch, aber die Erlangung des Vermögens zu willkürlicher Regelung der Bewegung, worauf es hier eben ankommt, beruht auf der Mitwirkung psychischer Faktoren. Drittens: es werden mit Hilfe des menschlichen Leibes bearbeitete oder auch nur von dem Orte ihrer Entstehung zu irgend einem Dienste verrückte Naturgegenstände, die dadurch zu Werkzeugen oder Kapitalien werden, von einem Individuum auf das andere, von der älteren Generation auf die jüngere übertragen, und es findet eine gemeinsame Beteiligung verschiedener Individuen bei der Bearbeitung oder Verrückung dieser Gegenstände statt. Viertens: die Individuen üben auf einander einen physischen Zwang aus, der allerdings eben so wohl zum Nachteil wie zum Vorteil des Fortschrittes sein kann aber vom Wesen der Kultur nicht zu trennen ist.
Von diesen vier Kategorien ist es jedenfalls nur die erste, mit welcher sich die Völkerpsychologie im Sinne von Lazarus-Steinthal beschäftigt. Es könnte sich also damit auch nur ungefähr derjenige 9 Teil unserer Prinzipienlehre decken, der sich auf diese erste Kategorie bezieht. Aber abgesehen davon, dass dieselbe nicht bloss isoliert von den übrigen betrachtet werden darf, so bleibt auch ausserdem das, was ich im Sinne habe, sehr verschieden von dem, was Lazarus und Steinthal in der Einleitung zu ihrer Zeitschrift (Bd. I, S. 1-73) als die Aufgabe der Völkerpsychologie bezeichnen.
So sehr ich das Verdienst beider Männer um die Psychologie und speziell um die psychologische Betrachtungsweise der Geschichte anerkennen muss, so scheinen mir doch die in dieser Einleitung aufgestellten Begriffsbestimmungen nicht haltbar, zum Teil verwirrend und die realen Verhältnisse verdeckend. Der Grundgedanke, welcher sich durch das Ganze hindurchzieht, ist der, dass die Völkerpsychologie sich gerade so teils zu den einzelnen Völkern, teils zu der Menschheit als Ganzes verhalte wie das, was man schlechthin Psychologie nennt, zum einzelnen Menschen. Eben dieser Grundgedanke beruht meiner Überzeugung nach auf mehrfacher logischer Unterschiebung. Und die Ursache dieser Unterschiebung glaube ich darin sehen zu müssen, dass der fundamentale Unterschied zwischen Gesetzeswissenschaft und Geschichtswissenschaft nicht festgehaltenAngedeutet ist dieser Unterschied allerdings S. 25ff., wo zwischen den synthetischen, 'rationalen' und den 'beschreibenden' Disziplinen der Naturwissenschaft unterschieden und eine entsprechende Einteilung der Völkerpsychologie versucht wird. Aber völlige Verwirrung herrscht z. B. S. 15ff. Aus der Tatsache, dass es nur zwei Formen alles Seins und Werdens gibt, Natur und Geist, folgern die Verfasser, dass es nur zwei Klassen von realen Wissenschaften geben könne, eine, deren Gegenstand die Natur, und eine, deren Gegenstand der Geist sei. Dabei wird also nicht berücksichtigt, dass es auch Wissenschaften geben könne, die das Ineinanderwirken von Natur und Geist zu betrachten haben. Noch bedenklicher ist es, wenn sie dann fortfahren: `Demnach stehen sich gegenüber Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit'. Hier muss zunächst Geschichte in einem ganz andern Sinne gefasst sein, als den man gewöhnlich mit dem Worte verbindet als Wissenschaft von dem Geschehen, den Vogängen. Wie kommt aber mit einem Male `Mensch' an die Stelle von `Geist'? Beides ist doch weit entfernt sich zu decken. Weiter wird zwischen Natur und Geist der Unterschied aufgestellt, dass die Natur sich in ewigem Kreislauf ihrer gesetzmässigen Prozesse bewege, wobei die verschiedenen Läufe vereinzelt, jeder für sich blieben, wobei immer nur das schon dagewesene wiedererzeugt wurde und nichts neues entstünde, während der Geist in einer Reihe zusammenhängender Schöpfungen lebe, einen Fortschritt zeige. Diese Unterscheidung, in dieser Allgemeinheit hingestellt, ist zweifellos unzutreffend. Auch die Natur, die organische mindestens sicher, bewegt sich in einer Reihe zusammenhängender Schöpfungen, auch in ihr gibt es einen Fortschritt. Anderseits bewegt sich auch der Geist (das ist doch auch die Anschauung der Verfasser) in einem gesetzmässigen Ablauf, in einer ewigen Wiederholung der gleichen Grundprozesse. Es sind hier zwei Gegensätze konfundiert, die völlig auseinander gehalten werden müssen, der zwischen Natur und Geist einerseits und der zwischen gesetzmässigem Prozess und geschichtlicher Entwickelung anderseits. Nur von dieser Konfusion aus ist es zu begreifen, dass es die Verfasser überhaupt haben in Frage ziehen können, ob die Psychologie zu den Natur- oder zu den Geisteswissenschaften gehöre, und dass sie schliesslich dazu kommen ihr eine Mittelstellung zwischen beiden anzuweisen. Diese Konfusion ist freilich die hergebrachte, von der man sich aber endlich losreissen sollte nach den Fortschritten, welche die Psychologie einerseits, die Wissenschaft von der organischen Natur anderseits gemacht hat. wird, sondern beides immer unsicher ineinander überschwankt. 10
Der Begriff der Völkerpsychologie selbst schwankt zwischen zwei wesentlich verschiedenen Auffassungen. Einerseits wird sie als die Lehre von den allgemeinen Bedingungen des geistigen Lebens in der Gesellschaft gefasst, anderseits als Charakteristik der geistigen Eigentümlichkeit der verschiedenen Völker und Untersuchen der Ursachen, aus denen diese Eigentümlichkeit entsprungen ist. S. 25ff. werden diese beiden verschiedenen Auffassungen der Wissenschaft als zwei Teile der Gesamtwissenschaft hingestellt, von denen der erste die synthetische Grundlage des zweiten bildet. Nach keiner von beiden Auffassungen steht die Völkerpsychologie in dem angenommenen Verhältnis zur Individualpsychologie.
Halten wir uns zunächst an die zweite, so kann der Charakteristik der verschiedenen Völker doch nur die Charakteristik verschiedener Individuen entsprechen. Das nennt man aber nicht Psychologie. Die Psychologie hat es niemals mit der konkreten Gestaltung einer einzelnen Menschenseele, sondern nur mit dem allgemeinen Wesen der seelischen Vorgänge zu tun. Was berechtigt uns daher den Namen dieser Wissenschaft für die Beschreibung einer konkreten Gestaltung der geistigen Eigentümlichkeit eines Volkes zu gebrauchen? Was die Verfasser im Sinne haben, ist nichts anderes als ein Teil, und zwar der wichtigste, aber eigentlich nicht isolierbare Teil dessen, was man sonst Kulturgeschichte oder Philologie genannt hat, nur auf psychologische Grundlage gestellt, wie sie heutzutage für alle kulturgeschichtliche Forschung verlangt werden muss. Es ist aber keine Gesetzeswissenschaft wie die Psychologie und keine Prinzipienlehre oder, um den Ausdruck der Verfasser zu gebrauchen, keine synthetische Grundlage der Kulturgeschichte.
Die unrichtige Parallelisierung hat noch zu weiteren bedenklichen Konsequenzen geführt. Es handelt sich nach den Verfassern in der Völkerpsychologie `um den Geist der Gesamtheit, der noch verschieden ist von allen zu derselben gehörenden einzelnen Geistern, und der sie alle beherrscht' (S. 5). Weiter heisst es (S. 11): Die Verhältnisse, welche die Völkerpsychologie betrachtet, liegen teils im Volksgeiste, als einer Einheit gedacht, zwischen den Elementen desselben (wie z. B. das Verhältnis zwischen Religion und Kunst, zwischen Staat und Sittlichkeit, 11 Sprache und Intelligenz u. dergl. m.), teils zwischen den Einzelgeistern, die das Volk bilden. Es treten also hier die selben Grundprozesse hervor, wie in der individuellen Psychologie, nur komplizierter oder ausgedehnter'. Das heisst durch Hypostasierung einer Reihe von Abstraktionen das wahre Wesen der Vorgänge verdecken. Alle psychischen Prozesse vollziehen sich in den Einzelgeistern und nirgends sonst. Weder Volksgeist noch Elemente des Volksgeistes wie Kunst, Religion etc. haben eine konkrete Existenz, und folglich kann auch nichts in ihnen und zwischen ihnen vorgehen. Daher weg mit diesen Abstraktionen. Denn `weg mit allen Abstraktionen' muss für uns das Losungswort sein, wenn wir irgendwo die Faktoren des wirklichen Geschehens zu bestimmen versuchen wollen.Misteli, Zschr f. Völkerps. XIII, 385 hat mich merkwürdigerweise so missverstanden, dass er meint, ich wolle überhaupt keine Abstraktionen gemacht wissen, während ich natürlich nur meine, dass sich keine Abstraktionen störend zwischen das Auge des Beobachters und die wirklichen Dinge stellen sollen, die ihn hindern den Kausalzusammenhang unter den letzteren zu erfassen. Die Belehrung, die er mir über den Wert des Abstrahierens erteilt, ist daher eben so überflüssig wie seine kritische Bemerkung darüber, dass ich ja noch weiter gehende Abstraktionen mache als andere. Ich will den Verfassern keinen grossen Vorwurf machen wegen eines Fehlers, dem man in der Wissenschaft noch auf Schritt und Tritt begegnet, und vor dem sich der umsichtigste und am tiefsten eindringende nicht immer bewahrt. Mancher Forscher, der sich auf der Höhe des neunzehnten Jahrhunderts fühlt, lächelt wohl vornehm über den Streit der mittelalterlichen Nominalisten und Realisten und begreift nicht, wie man hat dazu kommen können, die Abstraktionen des menschlichen Verstandes für realiter existierende Dinge zu erklären. Aber die unbewussten Realisten sind bei uns noch lange nicht ausgestorben, nicht einmal unter den Naturforschern. Und vollends unter den Kulturforschern treiben sie ihr Wesen recht munter fort, und darunter namentlich diejenige Klasse, welche es allen übrigen zuvorzutun wähnt, wenn sie nur in Darwinistischen Gleichnissen redet. Doch ganz abgesehen von diesem Unfug, die Zeiten der Scholastik, ja sogar die der Mythologie liegen noch lange nicht soweit hinter uns, als man wohl meint, unser Sinn ist noch gar zu sehr in den Banden dieser beiden befangen, weil sie unsere Sprache beherrschen, die gar nicht von ihnen loskommen kann. Wer nicht die nötige Gedankenanstrengung anwendet, um sich von der Herrschaft des Wortes zu befreien, wird sich niemals zu einer unbefangenen Anschauung der Dinge aufschwingen. Die Psychologie ward zur Wissenschaft in dem Augenblicke, wo sie die Abstraktionen der Seelenvermögen nicht mehr als etwas Reelles anerkannte. So wird es vielleicht noch auf manchen Gebieten gelingen 12 Bedeutendes zu gewinnen lediglich durch Beseitigung der zu Realitäten gestempelten Abstraktionen, die sich störend zwischen das Auge des Beobachters und die konkreten Erscheinungen stellen.
§ 7. Diese Bemerkungen bitte ich nicht als eine blosse Abschweifung zu betrachten.Trotz dieser ausdrücklichen Bitte bemerkt L. Tobler, Lit.-Bl f. germ. und rom. Phil. 1881, Sp. 122 über meine Einleitung: »Alle diese einleitenden Begriffsbestimmungen fallen mehr in den Bereich einer philosophischen Zeitschrift und üben auf den weiteren Verlauf der Darstellung keinen Einfluss«. Und Misteli, a. a. O. S. 400 tritt ihm bei und meint, er hätte nur noch hinzufügen können: glücklicherweise. Ich muss gestehen, es ist niederschlagend für mich, dass zwei Gelehrte, die doch gerade Interesse für allgemeine Fragen bekunden, so wenig erkannt haben, was der eigentliche Angelpunkt meines ganzen Werkes ist. Alles dreht sich mir darum die Sprachentwickelung aus der Wechselwirkung abzuleiten, welche die Individuen auf einander ausüben. Eine Kritik der Lazarus-Steinthalschen Anschauungen, deren Fehler eben in der Nichtberücksichtigung dieser Wechselwirkung besteht, hängt daher auf das engste mit der Gesamttendenz meines Buches zusammen. Misteli ist überhaupt der Ansicht, dass meine allgemeinen theoretischen Erörterungen von dem Sprachforscher nicht berücksichtigt zu werden brauchten, und dass dieser mit den herkömmlichen grammatischen Kategorien auskommen könnte. Damit wird der alte Dualismus zwischen Philosophie und Wissenschaft sanktioniert, den zu überwinden wir heutzutage mit aller Macht streben sollten. Sie deuten auf das, was wir selbst im folgenden rücksichtlich der Sprachentwickelung zu beobachten haben, was dagegen die Darstellung von Lazarus-Steinthal gar nicht als etwas zu Leistendes erkennen lässt. Wir gelangen von hier aus auch zur Kritik der ersten Auffassung des Begriffs Völkerpsychologie.
Da wir natürlich auch hier nicht mit einem Gesamtgeiste und Elementen dieses Gcsamtgeistes rechnen dürfen, so kann es sich in der `Völkerpsychologie' jedenfalls nur um Verhältnisse zwischen den Einzelgeistern handeln. Aber auch für die Wechselwirkung dieser ist die Behauptung, dass dabei dieselben Grundprozesse hervortreten wie in der individuellen Psychologie, nur in einem ganz bestimmten Verständnis zulässig, worüber es einer näheren Erklärung bedürfte. Jedenfalls verhält es sich nicht so, dass die Vorstellungen, wie sie innerhalb einer Seele aufeinander wirken, so auch über die Schranken der Einzelseele hinaus auf die Vorstellungen anderer Seelen wirkten. Ebensowenig wirken etwa die gesamten Vorstellungskomplexe der einzelnen Seelen in einer analogen Weise aufeinander wie innerhalb der Seele des Individuums die einzelnen Vorstellungen. Vielmehr ist es eine Tatsache von fundamentaler Bedeutung, die wir niemals aus dem Auge verlieren dürfen, dass alle rein psychische Wechselwirkung sich nur innerhalb der Einzelseele vollzieht. Aller Verkehr der Seelen untereinander ist nur ein indirekter auf physischem Wege vermittelter. Es bleibt also dabei, es 13 kann nur eine individuelle Psychologie geben, der man keine Völkerpsychologie oder wie man es sonst nennen mag gegenüber stellen darf.
Man fügt nun aber wohl in der Darstellung der individuellen Psychologie dem allgemeinen Teile, der die Grundprozesse behandelt, einen zweiten speziellen Teil hinzu, welcher die Entwickelungsgeschichte der komplizierten Vorstellungsmassen behandelt, die wir erfahrungsmässig in uns selbst und den von uns zu beobachtenden Individuen in wesentlich übereinstimmender Weise finden. Dagegen ist nichts einzuwenden, so lange man sich nur des fundamentalen Gegensatzes bewusst bleibt, der zwischen beiden Teilen besteht. Der zweite ist nicht mehr Gesetzeswissenschaft, sondern Geschichte. Es ist leicht zu sehen, dass diese komplizierten Gebilde nur dadurch haben entstehen können, dass das Individuum mit einer Reihe von andern Individuen in Gesellschaft lebt. Und um tiefer in das Geheimnis ihrer Entstehung einzudringen, muss man sich die verschiedenen Stadien, welche sie nach und nach in den früheren Individuen durchlaufen haben, zu veranschaulichen suchen. Von hier aus sind offenbar Lazarus und Steinthal zu dem Begriff der Völkerpsychologie gelangt. Aber ebensowenig wie eine historische Darstellung, welche schildert, wie diese Entwickelung wirklich vor sich gegangen ist, mit Recht Psychologie genannt wird, ebensowenig wird es die Prinzipienwissenschaft, welche zeigt, wie im allgemeinen eine derartige Entwickelung zu stande kommen kann. Was an dieser Entwickelung psychisch ist, vollzieht sich innerhalb der Einzelseele nach den allgemeinen Gesetzen der individuellen Psychologie. Alles das aber, wodurch die Wirkung des einen Individuums auf das andere ermöglicht wird, ist nicht psychisch.In einer Abhandlung, die in der Ztschr. f. Völkersp. Bd. 17, S. 233 erschienen ist, setzt sich Steinthal auch mit meiner Kritik auseinander. Leider hat er sich nicht davon überzeugen können, dass die von mir gemachten Unterscheidungen von Belang sind, wofür doch mein ganzes Buch den Beweis liefert. Meine obigen Auseinandersetzungen mit den Anschauungen von Lazarus-Steinthal sind auch jetzt durchaus nicht überflüssig geworden, da dieselben, wenn auch mit mannigfachen Modifikationen, immer wieder Vertreter finden. Dazu gehört trotz der seinerseits geübten Kritik in dem eigentlich entscheidenden Punkte auch Wundt. Er hat nicht nur seinem grossen Werke über Sprache, Mythus und Sitte den Titel Völkerpsychologie gegeben, sondern er erklärt ausdrücklich (I, 1, S. 9), dass, wenn man den Seelenbegriff im empirischen Sinne gebrauche, in diesem die Volksseele genau mit demselben Recht eine reale Bedeutung besitze, wie die individuelle Seele eine solche für sich in Anspruch nehme. Ich kann darin nur einen verhängnisvollen Irrtum sehen. Es ist schwer begreiflich, wie Wundt die Gegner einer solchen Auffassung beschuldigen kann, dass sie in mythologischer Vorstellungsweise befangen seien. Diese Gegnerschaft ist ganz unabhängig von irgendwelchen metaphysischen Voraussetzungen über das Wesen der Seele. Auch wenn man mit Wundt nichts als seelisch anerkennt ausser den Tatsachen des Bewusstseins, so ist es doch klar, dass es kein anderes Bewusstsein gibt als das einzelner Individuen, und dass man vom Bewusstsein eines Volkes nur bildlich reden darf im Sinne einer grösseren oder geringeren Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen im Bewusstsein der einzelnen Individuen. Es ist ferner klar, dass der Kausalzusammenhang, der zwischen den verschiedenen Akten des Bewusstseins eines einzelnen Individuums besteht, wie man sich denselben auch denken mag, sei es durch Unbewusst-seelisches, sei es durch physische Bedingungen vermittelt, nicht ebenso zwischen den Bewusstseinsakten verschiedener Individuen besteht, dass vielmehr die Art, wie hier eine Kausalverknüpfung zu stande kommt, eine ganz andere ist, die man nicht ignorieren darf, sondern stets berücksichtigen muss, wenn man die Verhältnisse, die durch das Zusammenwirken der Individuen geschichtlich geworden sind, richtig beurteilen will. 14
Wenn ich von den verschiedenen Stadien in der Entwickelung der psychischen Gebilde gesprochen habe, so habe ich mich der gewöhnlichen bildlichen Ausdrucksweise bedient. Nach unsern bisherigen Auseinandersetzungen ist nicht daran zu denken, dass ein Gebilde, wie es sich in der einen Seele gestaltet hat, wirklich die reale Unterlage sein kann, aus der ein Gebilde der andern entspringt. Vielmehr muss jede Seele ganz von vorn anfangen. Man kann nicht schon Gebildetes in sie hineinlegen, sondern alles muss in ihr von den ersten Anfängen an neu geschaffen werden, die primitiven Vorstellungen durch physiologische Erregungen, die Vorstellungskomplexe durch Verhältnisse, in welche die primitiven Vorstellungen innerhalb der Seele selbst zu einander getreten sind. Um die einer in ihr selbst entsprungenen entsprechende Vorstellungsverbindung in einer anderen Seele hervorzurufen, kann die Seele nichts anderes tun, als vermittelst der motorischen Nerven ein physisches Produkt erzeugen, welches seinerseits wieder vermittelst Erregung der sensitiven Nerven des andern Individuums in der Seele desselben die entsprechenden Vorstellungen hervorruft, und zwar entsprechend assoziiert. Die wichtigsten unter den diesem Zwecke dienenden physischen Produkten sind eben die Sprachlaute. Andere sind die sonstigen Töne, ferner Mienen, Gebärden, Bilder etc.
Was diese physischen Produkte befähigt als Mittel zur Übertragung von Vorstellungen auf ein anderes Individuum zu dienen, ist entweder eine innere, direkte Beziehung zu den betreffenden Vorstellungen (man denke z.B. an einen Schmerzensschrei, eine Gebärde der Wut) oder eine durch Ideenassoziation vermittelte Verbindung, wobei also die in direkter Beziehung zu dem physischen Werkzeuge stehende Vorstellung das Bindeglied zwischen diesem und der mitgeteilten Vorstellung bildet; das ist der Fall bei der Sprache.
§ 8. Durch diese Art der Mitteilung kann kein Vorstellungsinhalt in der Seele neu geschaffen werden. Der Inhalt, um den es sich handelt, muss vielmehr schon vorher darin sein, durch physiologische Erregungen 15 hervorgerufen. Die Wirkung der Mitteilung kann nur die sein, dass gewisse in der Seele ruhende Vorstellungsmassen dadurch erregt, eventuell auf die Schwelle des Bewusstseins gehoben werden, wodurch unter Umständen neue Verbindungen zwischen denselben geschaffen oder alte befestigt werden.
Der Vorstellungsinhalt selbst ist also unübertragbar. Alles, was wir von dem eines andern Individuums zu wissen glauben, beruht nur auf Schlüssen aus unserem eigenen. Wir setzen dabei voraus, dass die fremde Seele in dem selben Verhältnis zur Aussenwelt steht wie die unsrige, dass die nämlichen physischen Eindrücke in ihr die gleichen Vorstellungen erzeugen wie in der unsrigen, und dass diese Vorstellungen sich in der gleichen Weise verbinden. Ein gewisser Grad von Übereinstimmung in der geistigen und körperlichen Organisation, in der umgebenden Natur und den Erlebnissen ist demnach die Vorbedingung für die Möglichkeit einer Verständigung zwischen verschiedenen Individuen. Je grösser die Übereinstimmung, desto leichter die Verständigung. Umgekehrt bedingt jede Verschiedenheit in dieser Beziehung nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit des Nichtverstehens, des unvollkommenen Verständnisses oder des Missverständnisses.
Am weitesten reicht die Verständigung durch diejenigen physischen Mittel, welche in direkter Beziehung zu den mitgeteilten Vorstellungen stehen; denn diese fliesst häufig schon aus dem allgemeinen Übereinstimmenden in der menschlichen Natur. Dagegen, wo die Beziehung eine indirekte ist, wird vorausgesetzt, dass in den verschiedenen Seelen die gleiche Assoziation geknüpft ist, was übereinstimmende Erfahrung voraussetzt. Man muss es demnach als selbstverständlich voraussetzen, dass alle Mitteilung unter den Menschen mit der ersteren Art begonnen hat und erst von da zu der letzteren übergegangen ist. Zugleich muss hervorgehoben werden, dass die Mittel der ersten Art bestimmt beschränkte sind, während sich in Bezug auf die der zweiten ein unbegrenzter Spielraum darbietet, weil bei willkürlicher Assoziation unendlich viele Kombinationen möglich sind.
Fragen wir nun, worauf es denn eigentlich beruht, dass das Individuum, trotzdem es sich seinen Vorstellungskreis selbst schaffen muss, doch durch die Gesellschaft eine bestimmte Richtung seiner geistigen Entwickelung erhält und eine weit höhere Ausbildung, als es im Sonderleben zu erwerben vermöchte, so müssen wir als den wesentlichen Punkt bezeichnen die Verwandlung indirekter Assoziationen in direkte. Diese Verwandlung vollzieht sich innerhalb der Einzelseele, das gewonnene Resultat aber wird auf andere Seelen übertragen, natürlich durch physische Vermittelung in der geschilderten Weise. Der 16 Gewinn besteht also darin, dass in diesen anderen Seelen die Vorstellungsmassen nicht wieder den gleichen Umweg zu machen brauchen, um an einander zu kommen, wie in der ersten Seele. Ein Gewinn ist also das namentlich dann, wenn die vermittelnden Verbindungen im Vergleich zu der schliesslich resultierenden Verbindung von untergeordnetem Werte sind. Durch solche Ersparnis an Arbeit und Zeit, zu welcher ein Individuum dem andern verholfen hat, ist dieses wiederum im stande, das Ersparte zur Herstellung einer weiteren Verbindung zu verwenden, zu der das erste Individuum die Zeit nicht mehr übrig hatte.
Mit der Überlieferung einer aus einer indirekten in eine direkte verwandelten Verbindung ist nicht auch die Ideenbewegung überliefert, welche zuerst zur Entstehung dieser Verbindung geführt hat. Wenn z.B. jemandem der Pythagoräische Lehrsatz überliefert wird, so weiss er dadurch nicht, auf welche Weise derselbe zuerst gefunden ist. Er kann dann einfach bei der ihm gegebenen direkten Verbindung stehen bleiben, er kann auch durch eigene schöpferische Kombination den Satz mit andern ihm schon bekannten mathematischen Sätzen vermitteln, wobei er allerdings ein sehr viel leichteres Spiel hat als der erste Finder. Sind aber, wie es hier der Fall ist, verschiedene Vermittelungen möglich, so braucht er nicht gerade auf die selbe zu verfallen wie dieser.
Es erhellt also, dass bei diesem wichtigen Prozess, indem der Anfangs- und Endpunkt einer Vorstellungsreihe in direkter Verknüpfung überliefert werden, die Mittelglieder, welche ursprünglich diese Verknüpfung herstellen halfen, zu einem grossen Teile für die folgende Generation verloren gehen müssen. Das ist in vielen Fällen eine heilsame Entlastung von unnützem Ballast, wodurch der für eine höhere Entwickelung notwendige Raum geschaffen wird. Aber die Erkenntnis der Genesis wird dadurch natürlich ausserordentlich erschwert.
§ 9. Nach diesen für alle Kulturentwickelung geltenden Bemerkungen, deren spezielle Anwendung auf die Sprachgeschichte uns weiter unten zu beschäftigen hat, wollen wir jetzt versuchen, die wichtigsten Eigentümlichkeiten hervorzuheben, durch die sich die Sprachwissenschaft von andern Kulturwissenschaften unterscheidet. Indem wir die Faktoren ins Auge fassen, mit denen sie zu rechnen hat, wird es uns schon hier gelingen unsere Behauptung zu rechtfertigen, dass die Sprachwissenschaft unter allen historischen Wissenschaften die sichersten und exaktesten Resultate zu liefern imstande ist.
Jede Erfahrungswissenschaft erhebt sich zu um so grösserer Exaktheit, je mehr es ihr gelingt in den Erscheinungen, mit denen sie zu schaffen hat, die Wirksamkeit der einzelnen Faktoren isoliert zu betrachten. Hierin liegt ja eigentlich der spezifische Unterschied 17 der wissenschaftlichen Betrachtungsweise von der populären. Die Isolierung gelingt natürlich um so schwerer, je verschlungener die Komplikationen, in denen die Erscheinungen an sich gegeben sind. Nach dieser Seite hin sind wir bei der Sprache besonders günstig gestellt. Das gilt allerdings nicht, wenn man den ganzen materiellen Inhalt ins Auge fasst, der in ihr niedergelegt ist. Da findet man allerdings, dass alles, was irgendwie die menschliche Seele berührt, hat, die leibliche Organisation, die umgebende Natur, die gesamte Kultur, alle Erfahrungen und Erlebnisse Wirkungen in der Sprache hinterlassen haben, dass sie daher von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, von den allermannigfachsten, von allen irgend denkbaren Faktoren abhängig ist. Aber diesen materiellen Inhalt zu betrachten ist nicht die eigentümliche Aufgabe der Sprachwissenschaft. Dazu kann sie nur in Verbindung mit allen übrigen Kulturwissenschaften beitragen. Sie hat für sich nur die Verhältnisse zu betrachten, in welche dieser Vorstellungsinhalt zu bestimmten Lautgruppen tritt. So kommen von den oben S. 8 angegebenen vier Kategorien der gesellschaftlichen Einwirkung für die Sprache nur die ersten beiden in Betracht. Man braucht auch vornehmlich nur zwei Gesetzeswissenschaften als Unterlage der Sprachwissenschaft, die Psychologie und die Physiologie, und zwar von der letzteren nur gewisse Teile. Was man gewöhnlich unter Lautphysiologie oder Phonetik versteht, begreift allerdings nicht alle physiologischen Vorgänge in sich, die zur Sprechtätigkeit gehören, nämlich nicht die Erregung der motorischen Nerven, wodurch die Sprachorgane in Bewegung gesetzt werden. Er würde ferner auch die Akustik, sowohl als Teil der Physik wie als Teil der Physiologie in Betracht kommen. Die akustischen Vorgänge aber sind nicht unmittelbar von den psychischen beeinflusst, sondern nur mittelbar, durch die lautphysiologischen. Durch diese sind sie derartig bestimmt, dass nach dem einmal gegebenen Anstoss ihr Verlauf im allgemeinen keine Ablenkungen mehr erfährt, wenigstens keine solche, die für das Wesen der Sprache von Belang sind. Unter diesen Umständen ist ein tieferes Eindringen in diese Vorgänge für das Verständnis der Sprachentwickelung jedenfalls nicht in dem Masse erforderlich wie die Erkenntnis der Bewegung der Sprechorgane. Damit soll nicht behauptet werden, dass nicht vielleicht auch einmal aus der Akustik manche Aufschlüsse zu holen sein werden.
Die verhältnismässige Einfachheit der sprachlichen Vorgänge tritt deutlich hervor, wenn wir etwa die wirtschaftlichen damit vergleichen. Hier handelt es sich um eine Wechselwirkung sämtlicher physischen und psychischen Faktoren, zu denen der Mensch in irgend eine Beziehung tritt. Auch den ernstesten Bemühungen wird es niemals 18 gelingen die Rolle, welcher jeder einzelne unter diesen Faktoren dabei spielt, vollständig klar zu legen.
Ein weiterer Punkt von Belang ist folgender. Jede sprachliche Schöpfung ist stets nur das Werk eines Individuums. Es können mehrere das gleiche schaffen, und das ist sehr häufig der Fall. Aber der Akt des Schaffens ist darum kein anderer und das Produkt kein anderes. Niemals schaffen mehrere Individuen etwas zusammen, mit vereinigten Kräften, mit verteilten Rollen. Ganz anders ist das wieder auf wirtschaftlichem oder politischem Gebiete. Wie es innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Entwickelung selbst immer schwieriger wird die Verhältnisse zu durchschauen, je mehr Vereinigung der Kräfte, je mehr Verteilung der Rollen sich herausbildet, so sind auch die einfachsten Verhältnisse auf diesen Gebieten schon weniger durchsichtig als die sprachlichen. Allerdings insofern, als eine sprachliche Schöpfung auf ein anderes Individuum übertragen und von diesem umgeschaffen wird, als dieser Prozess sich immer von neuem wiederholt, findet auch hier eine Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung statt, ohne die ja, wie wir gesehen haben, überhaupt keine Kultur zu denken ist. Und wo in unserer Überlieferung eine Anzahl von Zwischenstufen fehlen, da ist auch der Sprachforscher in der Lage verwickelte Komplikationen auflösen zu müssen, die aber nicht sowohl durch das Zusammenwirken als durch das Nacheinanderwirken verschiedener Individuen entstanden sind.
Es ist ferner auch nach dieser Seite hin von grosser Wichtigkeit, dass die sprachlichen Gebilde im allgemeinen ohne bewusste Absicht geschaffen werden. Die Absicht der Mitteilung ist zwar, abgesehen von den allerfrühesten Stadien, vorhanden, aber nicht die Absicht etwas Bleibendes festzusetzen, und das Individuum wird sich seiner schöpferischen Tätigkeit nicht bewusst. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Sprachbildung namentlich von aller künstlerischen Produktion. Die Unbewusstheit, wie wir sie hier als Charakteristikum hinstellen, ist freilich nicht so allgemein anerkannt und ist noch im einzelnen zu erweisen. Man muss dabei unterscheiden zwischen der natürlichen Entwickelung der Sprache und der künstlichen, die allerdings durch ein absichtlich regelndes Eingreifen zu Stande kommt. Solche bewussten Bemühungen beziehen sich fast ausschliesslich auf die Herstellung einer Gemeinsprache in einem dialektisch gespaltenen Gebiete oder einer technischen Sprache für bestimmte Berufsklassen. Wir müssen im folgenden zunächst gänzlich von denselben absehen, um das reine Walten der natürlichen Entwickelung kennen zu lernen, und erst dann ihre Wirksamkeit in einem besondern Abschnitte behandeln. Zu diesem Verfahren sind wir nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. 19 Wir würden sonst ebenso handeln wie der Zoologe oder der Botaniker, der, um die Entstehung der heutigen Tier- und Pflanzenwelt zu erklären, überall mit der Annahme künstlicher Züchtung und Veredlung operierte. Der Vergleich ist in der Tat in hohem Grade zutreffend. Wie der Viehzüchter oder der Gärtner niemals etwas rein willkürlich aus nichts erschaffen können, sondern mit allen ihren Versuchen auf eine nur innerhalb bestimmter Schranken mögliche Umbildung des natürlich Erwachsenen angewiesen sind, so entsteht auch eine künstliche Sprache nur auf Grundlage einer natürlichen. So wenig durch irgend welche Veredlung die Wirksamkeit derjenigen Faktoren aufgehoben werden kann, welche die natürliche Entwickelung bestimmen, so wenig kann das auf sprachlichem Gebiete durch absichtliche Regelung geschehen. Sie wirken trotz alles Eingreifens ungestört weiter fort, und alles, was, auf künstlichem Wege gebildet, in die Sprache aufgenommen ist, verfällt dem Spiel ihrer Kräfte.
Es wäre nun zu zeigen, inwiefern die Absichtslosigkeit der sprachlichen Vorgänge es erleichert, ihr Wesen zu durchschauen. Zunächst folgt daraus wieder, dass dieselben verhältnismässig einfach sein müssen. Bei jeder Veränderung kann nur ein kurzer Schritt getan werden. Wie wäre das anders möglich, wenn sie ohne Berechnung erfolgt und, wie es meistens der Fall ist, ohne dass der Sprechende eine Ahnung davon hat, dass er etwas nicht schon vorher Dagewesenes hervorbringt? Freilich kommt es dann aber auch darauf an die Indizien, durch welche sich diese Vorgänge dokumentieren, möglichst Schritt für Schritt zu verfolgen. Aus der Einfachheit der sprachlichen Vorgänge folgt nun aber auch, dass sich dabei die individuelle Eigentümlichkeit nicht stark geltend machen kann. Die einfachsten psychischen Prozesse sind ja bei allen Individuen die gleichen, ihre Besonderheiten beruhen nur auf verschiedenartiger Kombination dieser einfachen Prozesse. Die grosse Gleichmässigkeit aller sprachlichen Vorgänge in den verschiedensten Individuen ist die wesentlichste Basis für eine exakt wissenschaftliche Erkenntnis derselben.
So fällt denn auch die Erlernung der Sprache in eine frühere Entwickelungsperiode, in welcher überhaupt bei allen psychischen Prozessen noch wenig Absichtlichkeit und Bewusstsein, noch wenig Individualität vorhanden ist. Und ebenso verhält es sich mit derjenigen Periode in der Entwickelung des Menschengeschlechts, welche die Sprache zuerst geschaffen hat.
Wäre die Sprache nicht so sehr auf Grundlage des Gemeinsamen in der menschlichen Natur aufgebaut, so wäre sie auch nicht das geeignete Werkzeug für den allgemeinen Verkehr. Umgekehrt, dass sie 20 als solches dient, hat zur notwendigen Konsequenz, dass sie alles rein Individuelle, was sich ihr doch etwa aufzudrängen versucht, zurückstösst, dass sie nichts aufnimmt und bewahrt, als was durch die Übereinstimmung einer Anzahl mit einander in Verbindung befindlicher Individuen sanktioniert wird.
Unser Satz, dass die Unabsichtlichkeit der Vorgänge eine exakte wissenschaftliche Erkenntnis begünstige, ist leicht aus der Geschichte der übrigen Kulturzweige zu bestätigen. Die Entwickelung der sozialen Verhältnisse, des Rechts, der Religion, der Poesie und aller übrigen Künste zeigt um so mehr Gleichförmigkeit, macht um so mehr den Eindruck der Naturnotwendigkeit, je primitiver die Stufe ist, auf der man sich befindet. Während sich auf diesen Gebieten immer mehr Absichtlichkeit, immer mehr Individualismus geltend gemacht hat, ist die Sprache nach dieser Seite hin viel mehr bei dem ursprünglichen Zustande stehen geblieben. Sie erweist sich auch dadurch als der Urgrund aller höheren geistigen Entwickelung im einzelnen Menschen wie im ganzen Geschlecht.
§ 10. Ich habe es noch kurz zu rechtfertigen, dass ich den Titel Prinzipien der Sprachgeschichte gewählt habe. Es ist eingewendet, dass es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe als die geschichtliche.Vgl. Misteli a. a. O. S. 382ff. Ich muss das in Abrede stellen. Was man für eine nichtgeschichtliche und doch wissenschaftliche Betrachtung der Sprache erklärt, ist im Grunde nichts als eine unvollkommen geschichtliche, unvollkommen teils durch Schuld des Betrachters, teils durch Schuld des Beobachtungsmaterials. Sobald man über das blosse Konstatieren von Einzelheiten hinausgeht, sobald man versucht den Zusammenhang zu erfassen, die Erscheinungen zu begreifen, so betritt man auch den geschichtlichen Boden, wenn auch vielleicht ohne sich klar darüber zu sein. Allerdings ist eine wissenschaftliche Behandlung der Sprache nicht bloss möglich, wo uns verschiedene Entwickelungsstufen der gleichen Sprache vorliegen, sondern auch bei einem Nebeneinanderliegen des zu Gebote stehenden Materials. Am günstigsten liegt dann die Sache, wenn uns mehrere verwandte Sprachen oder Mundarten bekannt sind. Dann ist es Aufgabe der Wissenschaft, nicht bloss zu konstatieren, was sich in den verschiedenen Sprachen oder Mundarten gegenseitig entspricht, sondern aus dem Überlieferten die nicht überlieferten Grundformen und Grundbedeutungen nach Möglichkeit zu rekonstruieren. Damit aber verwandelt sich augenscheinlich die vergleichende Betrachtung in eine geschichtliche. Aber auch, wo uns nur eine bestimmte Entwickelungsstufe einer einzelnen Mundart vorliegt, ist noch wissenschaftliche Betrachtung 21 bis zu einem gewissen Grade möglich. Jedoch wie? Vergleicht man z.B. die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes untereinander, so sucht man festzusetzen, welche davon die Grundbedeutung ist, oder auf welche untergegangene Grundbedeutung sie hinweisen. Bestimmt man aber eine Grundbedeutung, aus der andere abgeleitet sind, so konstatiert man ein historisches Faktum. Oder man vergleicht die verwandten Formen untereinander und leitet sie aus einer gemeinsamen Grundform ab. Dann konstatiert man wiederum ein historisches Faktum. Ja man darf überhaupt nicht einmal behaupten, dass verwandte Formen aus einer gemeinsamen Grundlage abgeleitet sind, wenn man nicht historisch werden will. Oder man konstatiert zwischen verwandten Formen und Wörtern einen Lautwechsel. Will man sich denselben erklären, so wird man notwendig darauf geführt, dass derselbe die Nachwirkung eines Lautwandels, also eines historischen Prozesses ist. Versucht man die sogenannte innere Sprachform im Sinne Humboldts und Steinthals zu charakterisieren, so kann man das nur, indem man auf den Ursprung der Ausdrucksformen und ihre Grundbedeutung zurückgeht. Und so wüsste ich überhaupt nicht, wie man mit Erfolg über eine Sprache reflektieren könnte, ohne dass man etwas darüber ermittelt, wie sie geschichtlich geworden ist.O. Dittrich hat (Grundzüge der Sprachpsychologie 43ff. und Die Grenzen der Sprachwissenschaft 10ff.) eine ganze Menge auf die Sprache bezügliche Wissenschaften aufgestellt. Hierüber aber ist zu sagen, dass einige davon Anwendungen der Sprachwissenschaft sind, bei denen dieselbe praktischen Zwecken dienstbar gemacht wird, und dass diejenigen Disziplinen, die rein theoretischer Natur sind, aufs engste zusammengehören, und dass es nur zum grössten Schaden der Wissenschaft gereichen könnte, wenn jede derselben für sich betrieben werden sollte. Dies gilt auch von der sogenannten Sprachpsychologie. Psychologisch muss die Sprachwissenschaft durchaus sein, auch wo es sich um die Feststellung einzelner Tatsachen handelt. Sprachpsychologie als eigenes Fach hat weder eine Stellung innerhalb der Sprachwissenschaft noch innerhalb der Psychologie. Es gibt nur eine Sprachwissenschaft, aber auch nur eine Psychologie. Oder soll man auch eine besondere Rechtspsychologie, eine Wirtschaftspsychologie etc. aufstellen? Warum dann nicht auch eine Spielpsychologie, ja eine Schach- oder Skatpsychologie? Wenn Dittrich (Grenzen S. 6) behauptet, mein Buch sei eigentlich ein flammender Protest gegen meine These »Sprachwissenschaft ist gleich Sprachgeschichte", so übersieht er, dass auch meine Prinzipienlehre sich durchaus auf die Entwickelung der Sprache bezieht; dass das Material aus der Sprachgeschichte geschöpft ist, und dass die daraus gezogenen Schlüsse bestimmt sind, auf die geschichtliche Einzelforschung zurückzuwirken. Ich wollte nicht etwas aufstellen, was neben der Geschichte herlaufen sollte, ohne das diese ebenso gut bestehen könnte, sondern etwas, was die Behandlung der Geschichte durchdringen, derselben einen höheren Grad von Wissenschaftlichkeit geben sollte. Man ist doch wohl berechtigt, dasjenige zur Geschichtswissenschaft zu rechnen, was ihr erst einen wahrhaft wissenschaftlichen Charakter verleiht. Daher der Titel meines Buches, und wenn eine englische Bearbeitung desselben geradezu den Titel führt »Introduction to the Study of the History of Language«, so ist auch dagegen nichts einzuwenden. Das einzige, was nun etwa noch von 22 nichtgeschichtlicher Betrachtung übrig bliebe, wären allgemeine Reflexionen über die individuelle Anwendung der Sprache, über das Verhalten des Einzelnen zum allgemeinen Sprachusus, wozu dann auch die Erlernung der Sprache gehört. Dass aber gerade diese Reflexionen aufs engste mit der Betrachtung der geschichtlichen Entwickelung zu verbinden sind, wird sich im folgenden zeigen.