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§ 11. Es ist von fundamentaler Bedeutung für den Geschichtsforscher, dass er sich Umfang und Natur des Gegenstandes genau klar macht, dessen Entwickelung er zu untersuchen hat. Man hält das leicht für eine selbstverständliche Sache, in Bezug auf welche man gar nicht irre gehen könne. Und doch liegt gerade hier der Punkt, in welchem die Sprachwissenschaft die Versäumnis von Dezennien noch nicht lange angefangen hat nachzuholen.
Die historische Grammatik ist aus der älteren bloss deskriptiven Grammatik hervorgegangen, und sie hat noch sehr vieles von derselben beibehalten. Wenigstens in der zusammenfassenden Darstellung hat sie durchaus die alte Form bewahrt. Sie hat nur eine Reihe von deskriptiven Grammatiken parallel aneinander gefügt. Das Vergleichen, nicht die Darlegung der Entwickelung ist zunächst als das eigentliche Charakteristikum der neuen Wissenschaft aufgefasst. Man hat die vergleichende Grammatik, die sich mit dem gegenseitigen Verhältnis verwandter Sprachfamilien beschäftigt, deren gemeinsame Quelle für uns verloren gegangen ist, sogar in Gegensatz zu der historischen gesetzt, die von einem durch die Überlieferung gegebenen Ausgangspunkte die Weiterentwickelung verfolgt. Und noch immer liegt vielen Sprachforschern und Philologen der Gedanke sehr fern, dass beides nur ein und dieselbe Wissenschaft ist, mit der gleichen Aufgabe, der gleichen Methode, nur dass das Verhältnis zwischen dem durch Überlieferung Gegebenen und der kombinatorischen Tätigkeit sich verschieden gestaltet. Aber auch auf dem Gebiete der historischen Grammatik im engeren Sinne hat man die selbe Art des Vergleichens angewandt: man hat deskriptive Grammatiken verschiedener Perioden aneinander gereiht. Zum Teil ist es das praktische Bedürfnis, welches für systematische Darstellung ein solches Verfahren gefordert hat und bis zu einem gewissen Grade immer fordern wird. Es ist aber nicht 24 zu leugnen, dass auch die ganze Anschauung von der Sprachentwickelung unter dem Banne dieser Darstellungsweise gestanden hat und zum Teil noch steht.
Die deskriptive Grammatik verzeichnet, was von grammatischen Formen und Verhältnissen innerhalb einer Sprachgenossenschaft zu einer gewissen Zeit üblich ist, was von einem jedem gebraucht werden kann, ohne vom andern missverstanden zu werden und ohne ihn fremdartig zu berühren. Ihr Inhalt sind nicht Tatsachen, sondern nur eine Abstraktion aus den beobachteten Tatsachen. Macht man solche Abstraktionen innerhalb der selben Sprachgenossenschaft zu verschiedenen Zeiten, so werden sie verschieden ausfallen. Man erhält durch Vergleichung die Gewissheit, dass sich Umwälzungen vollzogen haben, man entdeckt wohl auch eine gewisse Regelmässigkeit in dem gegenseitigen Verhältnis, aber über das eigentliche Wesen der vollzogenen Umwälzung wird man auf diese Weise nicht aufgeklärt. Der Kausalzusammenhang bleibt verschlossen, so lange man nur mit diesen Abstraktionen rechnet, als wäre die eine wirklich aus der andern entstanden. Denn zwischen Abstraktionen gibt es überhaupt keinen Kausalnexus, sondern nur zwischen realen Objekten und Tatsachen. So lange man sich mit der deskriptiven Grammatik bei den ersteren beruhigt, ist man noch sehr weit entfernt von einer wissenschaftlichen Erfassung des Sprachlebens.
§ 12. Das wahre Objekt für den Sprachforscher sind vielmehr sämtliche Äusserungen der Sprechtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung auf einander. Alle Lautkomplexe, die irgend ein Einzelner je gesprochen, gehört oder vorgestellt hat mit den damit assoziierten Vorstellungen, deren Symbole sie gewesen sind, alle die mannigfachen Beziehungen, welche die Sprachelemente in den Seelen der Einzelnen eingegangen sind, fallen in die Sprachgeschichte, müssten eigentlich alle bekannt sein, um ein vollständiges Verständnis der Entwickelung zu ermöglichen. Man halte mir nicht entgegen, dass es unnütz sei eine Aufgabe hinzustellen, deren Unlösbarkeit auf der Hand liegt. Es ist schon deshalb von Wert sich das Idealbild einer Wissenschaft in seiner ganzen Reinheit zu vergegenwärtigen, weil wir uns dadurch des Abstandes bewusst werden, in welchem unser Können dazu steht, weil wir daraus lernen, dass und warum wir uns in so vielen Fragen bescheiden müssen, weil dadurch die Superklugheit gedemütigt wird, die mit einigen geistreichen Gesichtspunkten die kompliziertesten historischen Entwickelungen begriffen zu haben meint. Eine unvermeidliche Notwendigkeit aber ist es für uns, uns eine allgemeine Vorstellung von dem Spiel der Kräfte in diesem ganzen massenhaften Getriebe zu machen, die wir beständig 25 vor Augen haben müssen, wenn wir die wenigen dürftigen Fragmente, die uns daraus wirklich gegeben sind, richtig einzuordnen versuchen wollen.
Nur ein Teil dieser wirkenden Kräfte tritt in die Erscheinung. Nicht bloss das Sprechen und Hören sind sprachgeschichtliche Vorgänge, auch nicht bloss weiterhin die dabei erregten Vorstellungen und die beim leisen Denken durch das Bewusstsein ziehenden Sprachgebilde. Vielleicht der bedeutendste Fortschritt, den die neuere Psychologie gemacht hat, besteht in der Erkenntnis, dass eine ganze Menge von psychischen Vorgängen sich ohne klares Bewusstsein vollziehen, und dass Alles, was je im Bewusstsein gewesen ist, als ein wirksames Moment im Unbewussten bleibt. Diese Erkenntnis ist auch für die Sprachwissenschaft von der grössten Tragweite und ist von Steinthal in ausgedehntem Masse für dieselbe verwertet worden. Alle Äusserungen der Sprechtätigkeit fliessen aus diesem dunklen Raume des Unbewussten in der Seele. In ihm liegt alles, was der Einzelne von sprachlichen Mitteln zur Verfügung hat, und wir dürfen sagen sogar etwas mehr, als worüber er unter gewöhnlichen Umständen verfügen kann, als ein höchst kompliziertes psychisches Gebilde, welches aus mannigfach untereinander verschlungenen Vorstellungsgruppen besteht. Wir haben hier nicht die allgemeinen Gesetze zu betrachten, nach welchen diese Gruppen sich bilden. Ich verweise dafür auf Steinthals Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft. Es kommt hier nur darauf an uns ihren Inhalt und ihre Wirksamkeit zu veranschaulichen.Ich glaube an diesen Anschauungen festhalten zu müssen trotz dem Widerspruche neuerer Psychologen, die es für unzulässig erklären, mit Unbewusstem in der Seele zu operieren, zu denen insbesondere Wundt gehört. Nach Wundt existiert nichts Geistiges ausserhalb des Bewusstseins; was aufhört, bewusst zu sein, hinterlässt nur eine physische Nachwirkung. Durch diese müsste demnach der unleugbare Zusammenhang zwischen früheren und späteren Bewusstseinsakten vermittelt sein; durch diese müsste es ermöglicht werden, dass etwas, was früher einmal im Bewusstsein war, von neuem ins Bewusstsein treten kann, ohne dass ein neuer sinnlicher Eindruck die unmittelbare Ursache ist. Vorausgesetzt, es verhielte sich wirklich so, so ist darauf zu sagen, dass uns diese physischen Nachwirkungen, deren Vorhandensein ich durchaus nicht leugnen will, trotz aller Physiologie und Experimentalpsychologie noch recht unbekannt sind, und dass, auch wenn sie viel bekannter wären, doch nicht abzusehen ist, wie sich daraus die ohne sinnliche Eindrücke entstehenden Bewusstseinsvorgänge ableiten liessen. Es bleibt also doch nichts übrig, wenn man überhaupt einen Zusammenhang zwischen den früheren und späteren Bewusstseinsvorgängen erkennen will, als auf psychischem Gebiete zu bleiben und sich die Vermittelung nach Analogie der Bewusstseinsvorgänge zu denken. Man wird der Anschauung, an die ich mich angeschlossen habe, mindestens das gleiche Recht einräumen dürfen wie einer naturwissenschaftlichen Hypothese, vermittelst deren es gelingt, einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Tatsachen herzustellen, und zu berechnen, was unter bestimmten Bedingungen eintreten muss. Dass diese Anschauung wirklich etwas Entsprechendes leistet, dafür bringt, denke ich, auch mein Buch reichliche Beweise. 26
Sie sind ein Produkt aus alledem, was früher einmal durch Hören anderer, durch eigenes Sprechen und durch Denken in den Formen der Sprache in das Bewusstsein getreten ist. Durch sie ist die Möglichkeit gegeben, dass das, was früher einmal im Bewusstsein war, unter günstigen Bedingungen wieder in dasselbe zurücktreten kann, also auch, dass das, was früher einmal verstanden oder gesprochen ist, wieder verstanden oder gesprochen werden kann. Man muss nach dem schon erwähnten allgemeinen Gesetze daran festhalten, dass schlechthin keine durch die Sprechtätigkeit in das Bewusstsein eingeführte VorstellungWenn ich hier und im Folgenden von Vorstellungen rede, so bemerke ich dazu ein für alle Mal, dass ich dabei auch die begleitenden Gefühle und Strebungen mit einrechne. spurlos verloren geht, mag die Spur auch häufig so schwach sein, dass ganz besondere Umstände, wie sie vielleicht nie eintreten, erforderlich sind, um ihr die Fähigkeit zu geben wieder bewusst zu werden. Die Vorstellungen werden gruppenweise ins Bewusstsein eingeführt und bleiben daher als Gruppen im Unbewussten. Es assoziieren sich die Vorstellungen auf einander folgender Klänge, nach einander ausgeführter Bewegungen der Sprechorgane zu einer Reihe. Die Klangreihen und die Bewegungsreihen assoziieren sich untereinander. Mit beiden assoziieren sich die Vorstellungen, für die sie als Symbole dienen, nicht bloss die Vorstellungen von Wortbedeutungen, sondern auch die Vorstellungen von syntaktischen Verhältnissen. Und nicht bloss die einzelnen Wörter, sondern grössere Lautreihen, ganze Sätze assoziieren sich unmittelbar mit dem Gedankeninhalt, der in sie gelegt worden ist. Diese wenigstens ursprünglich durch die Aussenwelt gegebenen Gruppen organisieren sich nun in der Seele jedes Individuums zu weit reicheren und verwickelteren Verbindungen, die sich nur zum kleinsten Teile bewusst vollziehen und dann auch unbewusst weiter wirken, zum bei weitem grösseren Teile niemals wenigstens zu klarem Bewusstsein gelangen und nichtsdestoweniger wirksam sind. So assoziieren sich die verschiedenen Gebrauchsweisen, in denen man ein Wort, eine Redensart kennen gelernt hat, unter einander. So assoziieren sich die verschiedenen Kasus des gleichen Nomens, die verschiedenen tempora, modi, Personen des gleichen Verbums, die verschiedenen Ableitungen aus der gleichen Wurzel vermöge der Verwandtschaft des Klanges und der Bedeutung; ferner alle Wörter von gleicher Funktion, z. B. alle Substantiva, alle Adjektiva, alle Verba; ferner die 27 mit gleichen Suffixen gebildeten Ableitungen aus verschiedenen Wurzeln: ferner die ihrer Fnnktion nach gleichen Formen verschiedener Wörter, also z.B. alle Plurale, alle Genitive, alle Passive, alle Perfekta, alle Konjunktive, alle ersten Personen; ferner die Wörter von gleicher Flexionsweise, z. B. im Nhd. alle schwachen Verba im Gegensatz zu den starken, alle Masculina, die den Plural mit Umlaut bilden im Gegensatz zu den nicht umlautenden; auch Wörter von nur partiell gleicher Flexionsweise können sich im Gegensatz zu stärker abweichenden zu Gruppen zusammenschliessen; ferner assoziieren sich in Form oder Funktion gleiche Satzformen. Und so gibt es noch eine Menge Arten von zum Teil mehrfach vermittelten Assoziationen, die eine grössere oder geringere Bedeutung für das Sprachleben haben. Alle diese Assoziationen können ohne klares Bewusstsein zu Stande kommen und sich wirksam erweisen, und sie sind durchaus nicht mit den Kategorien zu verwechseln, die durch die grammatische Reflexion abstrahiert werden, wenn sie sich auch gewöhnlich mit diesen decken.
§ 13. Es ist ebenso bedeutsam als selbstverständlich, dass dieser Organismus von Vorstellungsgruppen sich bei jedem Individuum in stetiger Veränderung befindet. Erstlich verliert jedes einzelne Moment, welches keine Kräftigung durch Erneuerung des Eindruckes oder durch Wiedereinführung in das Bewusstsein empfängt, fort und fort an Stärke. Zweitens wird durch jede Tätigkeit des Sprechens, Hörens oder Denkens etwas Neues hinzugefügt. Selbst bei genauer Wiederholung einer früheren Tätigkeit erhalten wenigstens bestimmte Momente des schon bestehenden Organismus eine Kräftigung. Und selbst, wenn jemand schon eine reiche Betätigung hinter sich hat, so ist doch immer noch Gelegenheit genug zu etwas Neuem geboten, ganz abgesehen davon, dass etwas bisher in der Sprache nicht Übliches eintritt, mindestens zu neuen Variationen der alten Elemente. Drittens werden sowohl durch die Abschwächung als durch die Verstärkung der alten Elemente als endlich durch den Hinzutritt neuer die Assoziationsverhältnisse innerhalb des Organismus allemal verschoben. Wenn daher auch der Organismus bei den Erwachsenen im Gegensatz zu dem Entwickelungsstadium der frühesten Kindheit eine gewisse Stabilität hat, so bleibt er doch immer noch mannigfaltigen Schwankungen ausgesetzt.
Ein anderer gleich selbstverständlicher, aber auch gleich wichtiger Punkt, auf den ich hier hinweisen muss, ist folgender: der Organismus der auf die Sprache bezüglichen Vorstellungsgruppen entwickelt sich bei jedem Individuum auf eigentümliche Weise, gewinnt aber auch bei jedem eine eigentümliche Gestalt. Selbst wenn er sich bei verschiedenen ganz aus den gleichen Elementen zusammensetzen sollte, so werden doch diese Elemente in verschiedener Reihenfolge, in ver- 28 schiedener Gruppierung, mit verschiedener Intensität, dort zu häufigeren, dort zu selteneren Malen in die Seele eingeführt sein, und wird sich danach ihr gegenseitiges Machtverhältnis und damit ihre Gruppierungsweise verschieden gestalten, selbst wenn wir die Verschiedenheit in den allgemeinen und besonderen Fähigkeiten der Einzelnen gar nicht berücksichtigen.
Schon bloss aus der Beachtung der unendlichen Veränderlichkeit und der eigentümlichen Gestaltung eines jeden einzelnen Organismus ergibt sich die Notwendigkeit einer unendlichen Veränderlichkeit der Sprache im ganzen und einer fortwährenden Herausbildung von dialektischen Verschiedenheiten.
§ 14. Die geschilderten psychischen Organismen sind die eigentlichen Träger der historischen Entwickelung. Das wirklich Gesprochene hat gar keine Entwickelung. Es ist eine irreführende Ausdrucksweise, wenn man sagt, dass ein Wort aus einem in einer früheren Zeit gesprochenen Worte entstanden sei. Als physiologisch-physikalisches Produkt geht das Wort spurlos unter, nachdem die dabei in Bewegung gesetzten Körper wieder zur Ruhe gekommen sind. Und ebenso vergeht der physische Eindruck auf den Hörenden. Wenn ich die selben Bewegungen der Sprechorgane, die ich das erste Mal gemacht habe, ein zweites, drittes, viertes Mal wiederhole, so besteht zwischen diesen vier gleichen Bewegungen keinerlei physischer Kausalnexus, sondern sie sind unter einander nur durch den psychischen Organismus vermittelt. Nur in diesem bleibt die Spur alles Geschehenen, wodurch weiteres Geschehen veranlasst werden kann, nur in diesem sind die Bedingungen geschichtlicher Entwickelung gegeben.
Das physische Element der Sprache hat lediglich die Funktion die Einwirkung der einzelnen psychischen Organismen auf einander zu vermitteln, ist aber für diesen Zweck unentbehrlich, weil es, wie schon in der Einleitung nachdrücklich hervorgehoben ist, keine direkte Einwirkung einer Seele auf die andere gibt. Wiewohl an sich nur rasch vorübergehende Erscheinung, verhilft es doch durch sein Zusammenwirken mit den psychischen Organismen diesen zu der Möglichkeit auch nach ihrem Untergange Wirkungen zu hinterlassen. Da ihre Wirkung mit dem Tode des Individuums aufhört, so würde die Entwickelung einer Sprache auf die Dauer einer Generation beschränkt sein, wenn nicht nach und nach immer neue Individuen dazu träten, in denen sich unter der Einwirkung der schon bestehenden neue Sprachorganismen erzeugten. Dass die Träger der historischen Entwickelung einer Sprache stets nach Ablauf eines verhältnismässig kurzen Zeitraumes sämtlich untergegangen und durch neue ersetzt sind, ist wieder eine höchst einfache, aber darum nicht minder beherzigenswerte und nicht minder häufig übersehene Wahrheit. 29
§ 15. Sehen wir nun, wie sich bei dieser Natur des Objekts die Aufgabe des Geschichtschreibers stellt. Der Beschreibung von Zuständen wird er nicht entraten können, da er es mit grossen Komplexen von gleichzeitig neben einander liegenden Elementen zu tun hat. Soll aber diese Beschreibung eine wirklich brauchbare Unterlage für die historische Betrachtung werden, so muss sie sich an die realen Objekte halten, d. h. an die eben geschilderten psychischen Organismen. Sie muss ein möglichst getreues Bild derselben liefern, sie muss nicht bloss die Elemente, aus denen sie bestehen, vollständig aufzählen, sondern auch das Verhältnis derselben zu einander veranschaulichen, ihre relative Stärke, die mannigfachen Verbindungen, die sie unter einander eingegangen sind, den Grad der Enge und Festigkeit dieser Verbindungen; sie muss, wollen wir es populärer ausdrücken, uns zeigen, wie sich das Sprachgefühl verhält. Um den Zustand einer Sprache vollkommen zu beschreiben, wäre es eigentlich erforderlich, an jedem einzelnen der Sprachgenossenschaft angehörigen Individuum das Verhalten der auf die Sprache bezüglichen Vorstellungsmassen vollständig zu beobachten und die an den einzelnen gewonnenen Resultate unter einander zu vergleichen. In Wirklichkeit müssen wir uns mit etwas viel Unvollkommenerem begnügen, was mehr oder weniger, immer aber sehr beträchtlich hinter dem ldeal zurückbleibt.
Wir sind häufig auf die Beobachtung einiger wenigen Individuen, ja eines einzelnen beschränkt und vermögen auch den Sprachorganismus dieser wenigen oder dieses einzelnen nur partiell zu erkennen. Aus der Vergleichung der einzelnen Sprachorganismen lässt sich ein gewisser Durchschnitt gewinnen, wodurch das eigentlich Normale in der Sprache, der Sprachusus bestimmt wird. Dieser Durchschnitt kann natürlich um so sicherer festgestellt werden, je mehr Individuen und je vollständiger jedes einzelne beobachtet werden kann. Je unvollständiger die Beobachtung ist, um so mehr Zweifel bleiben zurück, was individuelle Eigentümlichkeit und was allen oder den meisten gemein ist. Immer beherrscht der Usus, auf dessen Darstellung die Bestrebungen des Grammatikers fast allein gerichtet zu sein pflegen, die Sprache der Einzelnen nur bis zu einem gewissen Grade, daneben steht immer vieles, was nicht durch den Usus bestimmt ist, ja ihm direkt widerspricht.
Der Beobachtung eines Sprachorganismus stellen sich auch im günstigsten Falle die grössten Schwierigkeiten in den Weg. Direkt ist er überhaupt nicht zu beobachten. Denn er ist ja etwas unbewusst in der Seele Ruhendes. Er ist immer nur zu erkennen an seinen Wirkungen, den einzelnen Akten der Sprechtätigkeit. Erst mit Hilfe von vielen Schlüssen kann aus diesem ein Bild von den im Unbewussten lagernden Vorstellungsmassen gewonnen werden. 30
Von den physischen Erscheinungen der Sprechtätigkeit sind die akustischen der Beobachtung am leichtesten zugänglich. Freilich aber sind die Resultate unserer Gehörswahrnehmung grösstenteils schwer genau zu messen und zu definieren, und noch schwerer lässt sich von ihnen eine Vorstellung geben ausser wieder durch direkte Mitteilung für das Gehör. Weniger unmittelbar der Beobachtung zugänglich, aber einer genaueren Bestimmung und Beschreibung fähig sind die Bewegungen der Sprechorgane. Dass es keine andere exakte Darstellung der Laute einer Sprache gibt, als diejenige, die uns lehrt, welche Organbewegungen erforderlich sind, um sie hervorzubringen, das bedarf heutzutage keines Beweises mehr. Das Ideal einer solchen Darstellungsweise ist nur da annähernd zu erreichen, wo wir in der Lage sind, Beobachtungen an lebendigen Individuen zu machen. Wo wir nicht so glücklich sind, muss uns dies Ideal wenigstens immer vor Augen schweben, müssen wir uns bestreben, ihm so nahe als möglich zu kommen, aus dem Surrogate der Buchstabenschrift die lebendige Erscheinung, so gut es gehen will, herzustellen. Dies Bestreben kann aber nur demjenigen glücken, der einigermassen lautphysiologisch geschult ist, der bereits Beobachtungen an lebenden Sprachen gemacht hat, die er auf die toten übertragen kann, der sich ausserdem eine richtige Vorstellung über das Verhältnis von Sprache und Schrift gebildet hat. Es eröffnet sich also schon hier ein weites Feld für die Kombination, schon hier zeigt sich Vertrautheit mit den Lebensbedingungen des Objekts als notwendiges Erfordernis.
Die psychische Seite der Sprechtätigkeit ist wie alles Psychische überhaupt unmittelbar nur durch Selbstbeobachtung zu erkennen. Alle Beobachtung an andern Individuen gibt uns zunächst nur physische Tatsachen. Diese auf psychische zurückzuführen gelingt nur mit Hilfe von Analogieschlüssen auf Grundlage dessen, was wir an der eigenen Seele beobachtet haben. Immer von neuem angestellte exakte Selbstbeobachtung, sorgfältige Analyse des eigenen Sprachgefühls ist daher unentbehrlich für die Schulung des Sprachforschers. Die Analogieschlüsse sind dann natürlich am leichtesten bei solchen Objekten, die dem eigenen Ich am ähnlichsten sind. An der Muttersprache lässt sich daher das Wesen der Sprechtätigkeit leichter erfassen als an irgend einer anderen. Ferner ist man natürlich wieder viel besser daran, wo man Beobachtungen am lebenden Individuum anstellen kann, als wo man auf die zufälligen Reste der Vergangenheit angewiesen ist. Denn nur am lebenden Individuum kann man Resultate gewinnen, die von jedem Verdachte der Fälschung frei sind, nur hier kann man seine Beobachtungen beliebig vervollständigen und methodische Experimente machen. 31
Eine solche Beschreibung eines Sprachzustandes zu liefern, die im stande ist eine durchaus brauchbare Unterlage für die geschichtliche Forschung zu liefern,Übrigens muss das, was wir hier von der wissenschaftlichen Grammatik verlangen, auch von der praktischen gefordert werden, nur mit den Einschränkungen, welche die Fassungskraft der Schüler notwendig macht. Denn das Ziel der praktischen Grammatik ist ja doch die Einführung in das fremde Sprachgefühl. ist daher keine leichte, unter Umständen eine höchst schwierige Aufgabe, zu deren Lösung bereits Klarheit über das Wesen des Sprachlebens gehört, und zwar in um so höherem Grade, je unvollständiger und unzuverlässiger das zu Gebote stehende Material, und je verschiedener die darzustellende Sprache von der Muttersprache des Darstellers ist. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn die gewöhnlichen Grammatiken weit hinter unsern Ansprüchen zurückbleiben. Unsere herkömmlichen grammatischen Kategorien sind ein sehr ungenügendes Mittel die Gruppierungsweise der Sprachelemente zu veranschaulichen. Unser grammatisches System ist lange nicht fein genug gegliedert, um der Gliederung der psychologischen Gruppen adäquat sein zu können. Wir werden noch vielfach Veranlassung haben die Unzulänglichkeit desselben im einzelnen nachzuweisen. Es verführt ausserdem dazu das, was aus einer Sprache abstrahiert ist, in ungehöriger Weise auf eine andere zu übertragen. Selbst wenn man sich im Kreise des Indogermanischen hält, erzeugt die Anwendung der gleichen grammatischen Schablone viele Verkehrtheiten. Sehr leicht wird das Bild eines bestimmten Sprachzustandes getrübt, wenn dem Betrachter eine nahe verwandte Sprache oder eine ältere oder jüngere Entwicklungsstufe bekannt ist. Da ist die grösste Sorgfalt erforderlich, dass sich nichts Fremdartiges einmische. Nach dieser Seite hin hat gerade die historische Sprachforschung viel gesündigt, indem sie das, was sie aus der Erforschung des älteren Sprachzustandes abstrahiert hat, einfach auf den jüngeren übertragen hat. So ist etwa die Bedeutung eines Wortes nach seiner Etymologie bestimmt, während doch jedes Bewusstsein von dieser Etymologie bereits geschwunden und eine selbständige Entwickelung der Bedeutung eingetreten ist. So sind in der Flexionslehre die Rubriken der ältesten Periode durch alle folgenden Zeiten beibehalten worden, ein Verfahren, wobei zwar die Nachwirkungen der ursprünglichen Verhältnisse zu Tage treten, aber nicht die neue psychische Organisation der Gruppen.
§ 16. Ist die Beschreibung verschiedener Epochen einer Sprache nach unseren Forderungen eingerichtet, so ist damit eine Bedingung erfüllt, wodurch es möglich wird sich aus der Vergleichung der verschiedenen Beschreibungen eine Vorstellung von den stattgehabten Vorgängen zu bilden. Dies wird natürlich um so besser gelingen, je näher 32 sich die mit einander verglichenen Zustände stehen. Doch selbst die leichteste Veränderung des Usus pflegt bereits die Folge des Zusammenwirkens einer Reihe von Einzelvorgängen zu sein, die sich zum grossen Teile oder sämtlich unserer Beobachtung entziehen.
Suchen wir zunächst ganz im allgemeinen festzustellen: was ist die eigentliche Ursache für die Veränderungen des Sprachusus? Veränderungen, welche durch die bewusste Absicht einzelner Individuen zu Stande kommen, sind nicht absolut ausgeschlossen. Grammatiker haben an der Fixierung der Schriftsprachen gearbeitet. Die Terminologie der Wissenschaften, Künste und Gewerbe ist durch Lehrmeister, Forscher und Entdecker geregelt und bereichert. In einem despotischen Reiche mag die Laune des Monarchen hie und da in einem Punkte eingegriffen haben. Überwiegend aber hat es sich dabei nicht um die Schöpfung von etwas ganz Neuem gehandelt, sondern nur um die Regelung eines Punktes, in welchem der Gebrauch noch schwankte, und die Bedeutung dieser willkürlichen Festsetzung ist verschwindend gegenüber den langsamen, ungewollten und unbewussten Veränderungen, denen der Sprachusus fortwährend ausgesetzt ist. Die eigentliche Ursache für die Veränderung des Usus ist nichts anderes als die gewöhnliche Sprechtätigkeit. Bei dieser ist jede absichtliche Einwirkung auf den Usus ausgeschlossen. Es wirkt dabei keine andere Absicht als die auf das augenblickliche Bedürfnis gerichtete Absicht seine Wünsche und Gedanken anderen verständlich zu machen. Im übrigen spielt der Zweck bei der Entwickelung des Sprachusus keine andere Rolle als diejenige, welche ihm Darwin in der Entwickelung der organischen Natur angewiesen hat: die grössere oder geringere Zweckmässigkeit der entstandenen Gebilde ist bestimmend für Erhaltung oder Untergang derselben.
§ 17. Wenn durch die Sprechtätigkeit der Usus verschoben wird, ohne dass dies von irgend jemand gewollt ist, so beruht das natürlich darauf, dass der Usus die Sprechtätigheit nicht vollkommen beherrscht, sondern immer ein bestimmtes Mass individueller Freiheit übrig lässt. Die Betätigung dieser individuellen Freiheit wirkt zurück auf den psychischen Organismus des Sprechenden, wirkt aber zugleich auch auf den Organismus der Hörenden. Durch die Summierung einer Reihe solcher Verschiebungen in den einzelnen Organismen, wenn sie sich in der gleichen Richtung bewegen, ergibt sich dann als Gesamtresultat eine Verschiebung des Usus. Aus dem anfänglich nur Individuellen bildet sich ein neuer Usus heraus, der eventuell den alten verdrängt. Daneben gibt es eine Menge gleichartiger Verschiebungen in den einzelnen Organismen, die, weil sie sich nicht gegenseitig stützen, keinen solchen durchschlagenden Erfolg haben. 33
Es ergibt sich demnach, dass sich die ganze Prinzipienlehre der Sprachgeschichte um die Frage konzentriert: wie verhält sich der Sprachusus zur individuellen Sprechtätigkeit? wie wird diese durch jenen bestimmt und wie wirkt sie umgekehrt auf ihn zurück?Hieraus erhellt auch, dass Philologie und Sprachwissenschaft ihr Gebiet nicht so gegen einander abgrenzen dürfen, dass die eine immer nur die fertigen Resultate der andern zu benutzen brauchte. Man könnte den Unterschied zwischen der Sprachwissenschaft und der philologischen Behandlung der Sprache nur so bestimmen, dass die erstere sich mit den allgemeinen usuell feststehenden Verhältnissen der Sprache beschäftigt, die letztere mit ihrer individuellen Anwendung. Nun kann aber die Leistung eines Schriftstellers nicht gehörig gewürdigt werden ohne richtige Vorstellungen über das Verhältnis seiner Produkte zu der Gesamtorganisation seiner Sprachvorstellungen und über das Verhältnis dieser Gesamtorganisation zum allgemeinen Usus. Umgekehrt kann die Umgestaltung des Usus nicht begriffen werden ohne ein Studium der individuellen Sprechtätigkeit. Im übrigen verweise ich auf Brugmann, Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft, S. 1ff.
Es handelt sich darum, die verschiedenen Veränderungen des Usus, wie sie bei der Sprachentwickelung vorkommen, unter allgemeine Kategorieen zu bringen und jede einzelne Kategorie nach ihrem Werden und ihren verschiedenen Entwickelungsstadien zu untersuchen. Um hierbei zum Ziele zu gelangen, müssen wir uns an solche Fälle halten, in denen diese einzelnen Entwickelungsstadien möglichst vollständig und klar vorliegen. Deshalb liefern uns im allgemeinen die modernen Epochen das brauchbarste Material. Doch auch die geringste Veränderung des Usus ist bereits ein komplizierter Prozess, den wir nicht begreifen ohne Berücksichtigung der individuellen Modifikation des Usus. Da, wo die gewöhnliche Grammatik zu sondern und Grenzlinien zu ziehen pflegt, müssen wir uns bemühen alle möglichen Zwischenstufen und Vermittelungen aufzufinden.
Auf allen Gebieten des Sprachlebens ist eine allmählich abgestufte Entwickelung möglich. Diese sanfte Abstufung zeigt sich einerseits in den Modifikationen, welche die Individualsprachen erfahren, anderseits in dem Verhalten der Individualsprachen zu einander. Dies im einzelnen zu zeigen ist die Aufgabe meines ganzen Werkes. Hier sei zunächst nur noch darauf hingewiesen, dass der einzelne zu dem Sprachmateriale seiner Genossenschaft teils ein aktives, teils ein nur passives Verhältnis haben kann, d.h. nicht alles was er hört und versteht, wendet er auch selbst an. Dazu kommt, dass von dem Sprachmateriale, welches viele Individuen übereinstimmend anwenden, doch der eine dieses, der andere jenes bevorzugt. Hierauf beruht ganz besonders die Abweichung auch zwischen den einander am nächsten stehenden lndividualsprachen und die Möglichkeit einer allmählichen Verschiebung des Usus. 34
§ 18. Die Sprachveränderungen vollziehen sich an dem Individuum teils durch seine spontane Tätigkeit, durch Sprechen und Denken in den Formen der Sprache, teils durch die Beeinflussung, die es von andern Individuen erleidet. Eine Veränderung des Usus kann nicht wohl zu Stande kommen, ohne dass beides zusammenwirkt. Der Beeinflussung durch andere bleibt das Individuum immer ausgesetzt, auch wenn es schon das Sprachübliche vollständig in sich aufgenommen hat. Aber die Hauptperiode der Beeinflussung ist doch die Zeit der ersten Aufnahme, der Spracherlernung. Diese ist prinzipiell von der sonstigen Beeinflussung nicht zu sondern, erfolgt auch im allgemeinen auf die gleiche Weise; es lässt sich auch im Leben des einzelnen nicht wohl ein bestimmter Punkt angeben, von dem man sagen könnte, dass jetzt die Spracherlernung abgeschlossen sei. Aber der graduelle Unterschied ist doch ein enormer. Es liegt auf der Hand, dass die Vorgänge bei der Spracherlernung von der allerhöchsten Wichtigkeit für die Erklärung der Veränderung des Sprachusus sind, dass sie die wichtigste Ursache für diese Veränderungen abgeben. Wenn wir, zwei durch einen längeren Zwischenraum von einander getrennte Epochen vergleichend, sagen, die Sprache habe sich in den Punkten verändert, so geben wir ja damit nicht den wirklichen Tatbestand an, sondern es verhält sich vielmehr so: die Sprache hat sich ganz neu erzeugt und diese Neuschöpfung ist nicht völlig übereinstimmend mit dem Früheren, jetzt Untergegangenen ausgefallen.
§ 19. Bei der Klassifizierung der Veränderungen des Sprachusus können wir nach verschiedenen Gesichtspunkten verfahren. Ich möchte zunächst einen wichtigen Unterschied allgemeinster Art hervorheben. Die Vorgänge können entweder positiv oder negativ sein, d.h. sie bestehen entweder in der Schöpfung von etwas Neuem oder in dem Untergang von etwas Altem, oder endlich drittens sie bestehen in einer Unterschiebung, d.h. der Untergang des Alten und das Auftreten des Neuen erfolgt durch den selben Akt. Das letztere ist ausschliesslich der Fall bei dem Lautwandel. Scheinbar zeigt sich die Unterschiebung auch auf andern Gebieten. Dieser Schein wird dadurch hervorgerufen, dass man die Zwischenstufen nicht beachtet, aus denen sich ergibt, dass in Wahrheit ein Nacheinander von positiven und negativen Vorgängen vorliegt. Die negativen Vorgänge beruhen immer darauf, dass in der Sprache der jüngeren Generation etwas nicht neu erzeugt wird, was in der Sprache der älteren vorhanden war; wir haben es also, genau genommen, nicht mit negativen Vorgängen, sondern mit dem Nichteintreten von Vorgängen zu tun. Vorbereitet aber muss das Nichteintreten dadurch sein, dass das später Untergehende auch schon bei der älteren Generation selten geworden ist. 35 Eine Generation, die ein bloss passives Verhältnis dazu hat, schiebt sich zwischen eine mit noch aktivem und eine mit gar keinem Verhältnis.
Anderseits könnte man die Veränderungen des Usus danach einteilen, ob davon die lautliche Seite oder die Bedeutung betroffen wird. Wir erhalten danach zunächst Vorgänge, welche die Laute treffen, ohne dass die Bedeutung dabei in Betracht kommt, und solche, welche die Bedeutung treffen, ohne dass die Laute in Mitleidenschaft gezogen werden, d.h. also die beiden Kategorien des Lautwandels und des Bedeutungswandels. Jeder Bedeutungswandel setzt voraus, dass die auf die Lautgestalt bezügliche Vorstellungsgruppe noch als die gleiche empfunden wird, und ebenso jeder Lautwandel, dass die Bedeutung unverändert geblieben ist. Das schliesst natürlich nicht aus, dass sich mit der Zeit sowohl der Laut als die Bedeutung ändern kann. Aber beide Vorgänge stehen dann in keinem Kausalzusammenhange mit einander; es ist nicht etwa der eine durch den andern veranlasst oder beide durch die gleiche Ursache. Für andere Veränderungen kommen von vornherein Lautgestalt und Bedeutung zugleich in Frage. Hierher gehört zunächst die uranfängliche Zusammenknüpfung von Laut und Bedeutung, die wir als Urschöpfung bezeichnen können. Mit dieser hat natürlich die Sprachentwickelung begonnen, und alle anderen Vorgänge sind erst möglich geworden auf Grund dessen, was die Urschöpfung hervorgebracht hat. Ferner aber gehören hierher verschiedene Vorgänge, die das mit einander gemein haben, dass die schon bestehenden lautlichen Elemente der Sprache neue Kombinationen eingehen auf Grund der ihnen zukommenden Bedeutung. Der wichtigste Faktor dabei ist die Analogie, welche allerdings auch auf rein lautlichem Gebiete eine Rolle spielt, aber doch ihre Hauptwirksamkeit da hat, wo zu gleicher Zeit die Bedeutung mitwirkt.
§ 20. Wenn unsere Betrachtungsweise richtig durchgeführt wird, so müssen die allgemeinen Ergebnisse derselben auf alle Sprachen und auf alle Entwickelungsstufen derselben anwendbar sein, auch auf die Anfänge der Sprache überhaupt. Die Frage nach dem Ursprunge der Sprache kann nur auf Grundlage der Prinzipienlehre beantwortet werden. Andere Hilfsmittel zur Beantwortung gibt es nicht. Wir können nicht auf Grund der Überlieferung eine historische Schilderung von den Anfängen der Sprache entwerfen. Die Frage, die sich beantworten lässt, ist überhaupt nur: wie war die Entstehung der Sprache möglich. Diese Frage ist befriedigend gelöst, wenn es uns gelingt die Entstehung der Sprache lediglich aus der Wirksamkeit derjenigen Faktoren abzuleiten, die wir auch jetzt noch bei der Weiterentwickelung der Sprache immerfort wirksam sehen. Übrigens lässt sich ein Gegen- 36 satz zwischen anfänglicher Schöpfung der Sprache und blosser Weiterentwickelung gar nicht durchführen. Sobald einmal die ersten Ansätze gemacht sind, ist Sprache vorhanden und Weiterentwickelung. Es existieren nur graduelle Unterschiede zwischen den ersten Anfängen der Sprache und den späteren Epochen.
§ 21. Noch auf einen Punkt muss ich hier kurz hinweisen. In der Opposition gegen eine früher übliche Behandlungsweise der Sprache, wonach alle grammatischen Verhältnisse einfach aus den logischen abgeleitet wurden, ist man soweit gegangen, dass man eine Rücksichtnahme auf die logischen Verhältnisse, welche in der grammatischen Form nicht zum Ausdruck kommen, von der Sprachbetrachtung ganz ausgeschlossen wissen will. Das ist nicht zu billigen. So notwendig es ist einen Unterschied zwischen logischen und grammatischen Kategorien zu machen, so notwendig ist es auf der andern Seite sich das Verhältnis beider zu einander klar zu machen. Grammatik und Logik treffen zunächst deshalb nicht zusammen, weil die Ausbildung und Anwendung der Sprache nicht durch streng logisches Denken vor sich geht, sondern durch die natürliche, ungeschulte Bewegung der Vorstellungsmassen, die je nach Begabung und Ausbildung mehr oder weniger logischen Gesetzen folgt oder nicht folgt. Aber auch der wirklichen Bewegung der Vorstellungsmassen mit ihrer bald grösseren bald geringeren logischen Konsequenz ist die sprachliche Form des Ausdrucks nicht immer kongruent. Auch psychologische und grammatische Kategorie decken sich nicht. Daraus folgt, dass der Sprachforscher beides auseinander halten muss, aber nicht, dass er bei der Analyse der menschlichen Rede auf psychische Vorgänge, die sich beim Sprechen und Hören vollziehen, ohne doch im Sprachlichen Ausdruck zur Erscheinung zu gelangen, keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Gerade erst durch eine allseitige Berücksichtigung dessen, was in den Elementen, aus denen sich die individuelle Rede zusammensetzt, an sich noch nicht liegt, was aber doch den Redenden vorschwebt, und vom Hörenden verstanden wird, gelangt der Sprachforscher zur Erkenntnis des Ursprungs und der Umwandlungen der sprachlichen Ausdrucksformen. Wer die grammatischen Formen immer nur isoliert betrachtet ohne ihr Verhältnis zu der individuellen Seelentätigkeit, gelangt nie zu einem Verständnis der Sprachentwickelung.