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Lion Feuchtwangers zweibändiger Bayernroman »Erfolg«, von dem hier vor einigen Wochen ein Kapitel wiedergegeben wurde, hat im allgemeinen eine herzlich schlechte Presse gefunden. Dem einen ist die Geschichte zu bayrisch, dem andern nicht bayrisch genug. Dem einen zu politisch, dem andern zu privat. Ganz besonders unerbittlich hat sich ein junger Rezensent, der sich für den Schützenkönig hält, weil ihm seine Zeitung eine Windbüchse anvertraut, und der darüber vergißt, daß er einstweilen selbst noch eine ausgezeichnete Schießscheibe abgibt. Dieser Rezensent also findet es nicht fein, daß Feuchtwanger einen Strafgefangenen im Todeskampf den Kotkübel umreißen läßt. Nun, solange der Strafvollzug noch eine durchaus barbarische Institution ist, so lange hat der Romancier auch nicht das Recht, den Gefangenen in apollinischen Linien sterben zu lassen und ihm statt des Kotkübels eine rosenduftende Amphora ans Lager zu stellen. Stilisierung wäre hier Lüge.
Ich möchte nicht alle gegen Feuchtwangers Buch erhobenen Einwände wiedergeben, sondern mich nur auf die Bemerkung beschränken, daß etliche von den Kritikern die meisten davon vor ein paar Monaten noch nicht geltend gemacht hätten. Mindestens in der liberalen Presse wäre es als Meisterleistung eines Zeitromans gefeiert worden. Heute hat man sich an der Reportage, den Zustandsschilderungen, der sozialen Kritik gründlich den Magen übergessen. Der Nationalismus ist die große Mode. Die politische Reaktion ist schon da, die ästhetische schreitet fort. Feuchtwangers Roman, in einer ganz andern Zeit konzipiert und in langen Jahren sorgfältig ausgeführt, wirkt jetzt wie ein Nachzügler. Inzwischen ist die Romantik eingebrochen, der Naturalismus hat wieder ausgespielt. Man ist wieder ritterlich, man sitzt träumend im Remter, und an die Stelle von Herrn Professor Van de Veldes heidnischer Liebestechnik tritt die hohe, reine Minne. Die soziale Anklage sinkt im Kurs, die Aktien von Narciß & Goldmund steigen. Das absinkende Bürgertum zelebriert ein letztes Mal noch ein Biedermeier ohne alle Biederkeit. Dreieinhalb Millionen Arbeitslose nehmen sich, durch Butzenscheiben gesehen, viel manierlicher aus, fast wie ein Pilgerzug ins Heilige Land.
Der Roman von Feuchtwanger umfaßt die turbulente Geschichte der bayrischen Hochebene von zwanzig bis dreiundzwanzig. Wir sehen das stolzgeschwellte Bayern, das sich zu globaler Mission rüstet, die Zeit der Verschwörungen, die Blüte der Bünde, dann die Novemberexplosion, und am Ende bleibt wieder eine etwas langweilige Provinz. Feuchtwanger hat viele Figuren aus dem München jener Zeit hineingetan. Adolf Hitler fehlt sowenig wie Bert Brecht; alle heute schon fast vergessenen Größen dieser bayrischen Jahre treten in dünner Maskierung auf. Feuchtwangers Gestaltungswillen wollte viel umfassen; allzuviel für zwei Hände. Die Komposition entglitt ihm, und er versuchte sie durch einen Trick zu ersetzen. Der Trick seiner Erzählung ist die Distanz. Feuchtwanger zeigt diese krampfhaft geblähte kleine bayrische Weltkugel wie durchs Teleskop. Gelegentlich gibt es erläuternde Einschiebsel, Zahlen, politisches und ökonomisches Material zum Verständnis des Lesers, der sich nicht selbst ans Fernrohr bemühen will, sondern sich die Sache lieber in wohlgesetzter Rede vortragen läßt. Das ist die bedenklichste Schwäche dieses Buches, die Dinge kommen nicht nah genug heran, bleiben ein fernes Gekribbel und Gewimmel, von einem klugen, sehr weltläufigen Herrn geschildert. Ein zweibändiges Epos kann nicht auf einem Trick beruhen. Die Bewohner dieses Landes Bayern sind gewiß sehr merkwürdig, aber selbst die noch viel kuriosern Provinzen Gargantuas oder Gullivers werden ja nicht im Guckkasten gezeigt: der Leser lebt in ihnen, wird schließlich selbst ein Riese oder Däumling. Zugegeben, daß dieser Guckkasten Feuchtwangers durchweg sehr interessant ist und hoch über dem Flohtheater zahlreicher deutscher Romane steht, es bleibt nur die Erinnerung an ein beachtliches Kunststück.
So ist der letzte dieser vielen Zeitromane zugleich der kunstvollste von allen. Feuchtwanger hat daran mit mehr Fleiß gesessen, als es sonst bei einem deutschen Autor üblich ist. Die vielen Episoden sind aufs liebevollste ausgepinselt, die Sprache ist sauber und ausgefeilt. Kein schöpferischer, aber ein denkender Kopf hat hier gearbeitet und für die Gesamtwirkung fast zu viel gearbeitet. Nicht Personen haften, sondern Sentenzen, nicht Gesichter, sondern kluge, sarkastische und resignierende Bemerkungen. Etwas weniger Detail, und die »Histoire contemporaine« des Anatole France hätte, wenn nicht ihr deutsches, so doch ihr bayrisches Gegenstück erhalten.
Aber was tut das? Nicht die wirklichen Schwächen hat sich die liebe Kritik vorgenommen, sondern grade die besten Seiten. Eine Mode ist zu Ende, und die kritischen Totengräber des Naturalismus sind so eifrig tätig, daß es ihnen nicht darauf ankommt, einen Lebenden, der sie stört, gleich mit ins Grab zu werfen. Der Fascismus tritt über die Politik in die Literatur ein. Was sollen da Autoren, die noch mit den Emblemen der republikanischen, der sozialistischen und demokratischen Epoche kommen? Da gilt es, Abstand zu halten. Der Rezensent setzt sich hin und schreibt mit leerem Herzen und vollen Hosen seine ablehnenden Verdikte.
(Die Weltbühne, 11. November 1930)