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Sonntag nachmittag. Die Potsdamer Straße noch mäßig belebt. Die Berliner sind keine Frühaufsteher. Die Stunde der Bummler hat noch nicht begonnen. Jetzt, um vier Uhr, sieht man nur kreuzbraves Familienpublikum; die Leute flanieren so gravitätisch, so altertümlich ehrenfest, so beruhigend langweilig. Man beginnt wieder an den unverwüstlich guten Kern des vielgelästerten Berlin zu glauben. Es ist schon ein Groß-Leipzig und bildet seine Leute.
An der Potsdamer Brücke ein kleiner Auflauf. (»Haben Sie gesehn?« – »Gucken Sie doch bloß mal!«) Die Elektrische fährt noch langsamer als fahrplanmäßig, damit die auf der Plattform auch was zu sehen bekommen. Eine würdige alte Dame tanzt vor lauter Aufregung eine Kukirolienne.
Ja, was gibt es denn eigentlich zu gaffen? Was ist der Anlaß zu dem Rumoren? Warum verwandelt sich sonntagnachmittaglich dösende Faulheit der Straße plötzlich in einen exaltierten Taubenschlag?
Alle Aufmerksamkeit konzentriert sich auf einen ungewöhnlich hochgewachsenen Mann, der mit Frau und Kind so friedlich einherspaziert wie die andern.
Es ist ein Neger.
Die Frau an seiner Seite ist groß und blond, das Kindchen kaffeebraun. Es paddelt so unbefangen dahin, wie es Vierjährige tun, die sich noch nicht über ihre Rasse den Kopf zerbrechen.
Der Neger ist auffallend groß und wohlgebaut, breitschultrig, mit vorzüglicher Turnüre, die Beine lang und kerzengrade. Der modefarbene Anzug sitzt wirklich vorzüglich. Aber der Mann versteht auch, seine Kleider zu tragen.
Ein blitzsauberer, appetitlicher Bursche. Das Haar wollig und steinkohleschwarz. Das Antlitz dunkelbraun leuchtend, wie mit einer feinen Glasur überzogen. Die Nase nicht breit und platt, sondern leicht geschwungen. Wulstig sind zwar die Lippen, aber es spielt ein sehr anziehendes Lächeln darum, sehr freundlich und ganz nebenher etwas von oben herab.
Dieses Lächeln verrät, äußerst dezent und sicherlich nicht so grob formuliert, wie es hier der unbeholfene Deuter unternimmt: »Ich verstehe schon, daß die Herrschaften sich wundern. Ja, sie wundern sich, weil hier ein schwarzhäutiger Mann mit einer blonden Frau und einem kaffeebraunen Kindchen spazierengeht. Sie glauben nicht an meinen Trauschein, und sie glauben auch nicht an meinen grauen Gabardineanzug. Wenn ich jetzt hier daherkäme, nur mit einem Schurz von Palmenblättern bekleidet, das Gesicht mit Ocker beschmiert, einen Ring von Stachelschweinborsten durch die Nase, das würde ihnen ganz plausibel erscheinen. Sie denken sich auch den Schwarzen gern als Frauenräuber, aber ich bin wirklich nicht so romantisch. Ich überlasse das Metier gern den verführerischen Weißgesichtern, die sich vom Heiratsschwindel nähren oder kleine Mädel in die Bredouille bringen und dann sitzenlassen. Ich liebe meine schöne blonde Frau und bin ein guter und etwas stolzer Familienvater.«
Ob er sich das wirklich gedacht hat? Aber sein Lächeln schwebte so frei, so unberührt weit über den Dingen. So mag sein pechschwarzer lieber Gott lächeln, wenn er wohlgelaunt auf seine kraushaarigen Kindlein niederblickt ...
Aber diese Leute da! Pfui, schämt ihr euch nicht, Berliner des sozusagen zwanzigsten Jahrhunderts? Wie sie da in Gruppen stehen und zischeln und raunzen, wie die Arme agitiert in der Luft herumfliegen. Sie sind tief empört. Man sieht es ihnen an: Hier müßte die Polizei einschreiten! Wie kommt er dazu, eine blonde Frau zu haben? (Ist das überhaupt eine Ehe? Pfui Deibel!) Wie kann er sich erdreisten, diesen schönen hellen Frühjahrsanzug zu tragen? Eigentlich müßte man ihm die Klunkern vom Leibe reißen! Vielleicht wird das gar nicht bestraft! Denn der Neger ist ja die potenzierte Fremdstämmigkeit. Er ist der Über-Jude, sozusagen.
... vor fünfzehn Jahren etwa gab es in Hamburg einen Prozeß. Ein Duala-Neger, seit langem in Deutschland ansässig, wissenschaftlich gebildet, Assistent am Museum für Völkerkunde, kam in das Bureau einer Schiffahrtsgesellschaft. Man duzte ihn. Er verbat sich das sehr höflich. Die Beamten wurden daraufhin massiv. Er klagte: Das Gericht wies ihn ab. Die Gesellschaft habe ihren Angestellten Anweisung gegeben, alle Neger zu duzen. Wo käme man denn sonst hin? Das Gericht fand die Logik zwingend. Damals spektakelte noch der Kolonialverein; es gab auch eine Zeitschrift »Das größere Deutschland«.
Mir fällt diese vergessene Geschichte wieder ein, während der Neger durch den Engpaß der kleinen, dummen Gehässigkeiten schreitet. Wie giftig ihn diese Menschen im Sonntagsstaat anblicken! Es braucht nur einer das Signal zu geben und ihn anzurempeln, und sie werden über ihn herfallen und sich akkurat so benehmen, wie man sich eine berauschte Kaffernhorde vorstellt. Aber es bleibt bei bösen Augen und Getuschel, man ist zu vermickert, zu zerknittert und seelisch verbeult, es fehlt der naturkräftige Instinkt, der Impetus zum offenen Lynchen, man teert, man hängt in Worten und Blicken, bis ein schmutziger Witz schließlich die Spannung in Gelächter auflöst.
Metropole Berlin? Rhythmus der Weltstadt, den naive Poeten schwingen hören, wirklich, wirklich?! Wer Ohren hat zu hören, hört im Gebraus der großen Stadt auf Schritt und Tritt das Geklapper von Kötzschenbroda.
(Das Tage-Buch, 18. April 1925)