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Es gibt in Deutschland eine kleine Anzahl von tüchtigen und wertvollen Persönlichkeiten, auf deren Schultern eine ungewöhnliche Last und Verantwortung ruht und die wahrscheinlich den stärksten deutschen Zeittyp verkörpern würden, wenn ihnen nicht etwas Unerläßliches fehlte: die Beziehungen zur Politik. Vielleicht, um das auszudrücken, nennt man sie: Wirtschaftsführer. Als Männer des Geschäftes und der Technik bedeuten sie eine Auslese – Rheinland und Westfalen zeugen von ihrem Unternehmungsgeist, die großen modernen Industriebauten von ihrem Blick für neue Architekturwerte und unromantische Schönheit – aber in der Politik sind sie Kinder geblieben, und ihr Sinn für soziale Zusammenhänge hebt sich selten über Spießerniveau. Sie waren und sind primitive Machtanbeter, Kopisten des vergangenen Agrar-Feudalismus, Verehrer des friderizianischen Krückstocks. Hinter jedem großen politischen Mißerfolg des alten und neuen Reiches haben sie als Anreger und Beweger gestanden. Von dem Marokko-Abenteuer der Mannesmannen bis zu Cunos Ruhrkrieg haben sie jede Torheit arrangiert, unterstützt und durch ihre Presse erst populär gemacht. Sie haben an Ludendorff geglaubt, Ehrhardt finanziert und nicht einmal über Hitler gelacht. Dann kam durch zahllose Mißerfolge nicht grade die Besinnung, wohl aber der Katzenjammer. Die deutsche Wirtschaft hatte sich selbst blockiert und schien am Ende zu sein. War man 1923 noch felsenfest überzeugt, daß nur Diktatur und Revanchekrieg Deutschland retten könnten, so war ein Jahr später schon die Annäherung an den demokratischen Staat vollzogen, die Erkenntnis auf dem Marsche, daß die Industrie-Herrschaft in der Republik sogar weit bessere Möglichkeiten habe als im alten Regime, das in seiner verbohrten landjunkerlichen Rückständigkeit in einem qualmenden Fabrikschlot so etwas wie das Symbol eines verwerflichen modernen Götzendienstes sah.
Neue Situation. Die Industrie ist aus dem selbstgebauten Turm gekommen, staunend, wie gut es sich auch in der Republik leben läßt. Die Zeit der Phantastereien ist vorüber. Die Industrie steht nicht nur herrschend mitten im Staat, sie hat auch wieder ihren Anteil am Weltgeschäft. Für diese Entwicklung muß eine neue Formel gefunden werden, auch eine neue pazifistisch-demokratische Mimikry, die im Verkehr mit andern Völkern Angleichung wenigstens an die Äußerlichkeiten des heute international geltenden Gesinnungstypus ermöglicht. Das ist gewiß sehr schwierig. Das Herz ist nicht dabei. Die Vernunft durch jahrzehntelange anderweitige Beschäftigung der Politik nicht vertraut. Und dennoch, einmal mußte es kommen, das Credo zur neuen Situation.
Das hat nun Herr Geheimrat Silverberg übernommen. Seine Rede auf der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie in Dresden kam nicht heraus wie das glühende Bekenntnis eines jungen Neophyten, sondern leise und stockend, wie der Klippschüler seinen Katechismus aufsagt. Der Beifall klang dünn wie die Worte. Wozu auch? Es war ja reine Formsache, wohlpräpariert und ohne Freude vorgetragen.
Nichtsdestoweniger ist der Jubel in den Blättern der Mittelparteien überaus laut. Da wird mit aufgeregtem Gegacker eine neue Epoche der Weltgeschichte eingeleitet, und die Verzückung feiert Orgien. Was Herr Silverberg gesagt hat, gibt zu solchem Taumel kaum Anlaß. Richtig ist, daß, aus dem Munde eines Industrieherrn kommend, einige seiner Erkenntnisse verblüffen können, richtig ist aber auch, daß er nur Ideen zutage förderte, die 1926 überholt und abgestanden wirken, die aber etwa 1922 noch die damalige Politik Wirths bestätigt und Rathenau wahrscheinlich die von der Industriepresse gegossenen tödlichen Kugeln erspart hätten. Silverbergs Ausführungen auf knappste Formel gebracht: das Unternehmertum hat nicht nur den Boden des heutigen Staates gefunden, sondern auch die Bedeutung der Gewerkschaften erfaßt; deshalb müsse zur Herbeiführung innerpolitischer Stetigkeit ein neues Konkordat mit der Sozialdemokratie geschlossen werden.
Das ist wahrscheinlich eine hervorragende Leistung für das Mitglied des Industrie-Präsidiums, eine sehr minimale indessen für einen aktuellen Politiker. Große Koalition als letzter Weisheitschluß? Niemals ging eine solche Einladung schnurgrader an der Wirklichkeit vorbei. Die Sozialdemokratie steht abseits. Nicht so sehr in gewollter Opposition als vielmehr in kaum bewußter Schau nach innen. Diese Partei in scheinbarer Tatenlosigkeit macht eine Mauserung durch. Links von ihr ist alles wieder in Bewegung. Die Sozialdemokratie würde ihre Zukunft als Arbeiterpartei verschütten, wollte sie grade jetzt einem selbst weniger naiven Lockruf folgen und in eine Koalition mit Bürgerlichen steigen. Wäre Herr Silverberg nicht nur ein dürftiger Repräsentationsredner, er würde ahnen, daß man eine Einladung an die sozialistischen Massen anders formulieren müsse. Man lasse doch endlich einmal die Redensarten beiseite wie: Die Sozialdemokratie muß zur verantwortlichen Mitarbeit herangezogen werden et cetera. Das klingt so schrecklich von oben herab. Die Arbeiterschaft will nicht mehr »herangezogen« werden, so wie ein armes Mädel, das man freundlich begönnernd in ein hochnobles Damenkomitee holt, damit es auch mal was Gutes zu sehen bekommt. Die Arbeiterschaft ist kein toleriertes Anhängsel mehr, sondern eine in sich selbst ruhende Kraft mit dem Recht auf Macht aus eigenem Willen. Natürlich fehlte bei Herrn Silverberg auch nicht das dick geschmierte Lob für die Gewerkschaften, weil sie so brav geholfen haben, die Revolution zu überwinden. Es gibt Instinktlosigkeiten, die wie Epidemien grassieren. Wenn die Leute nur ahnten, was für Gefühle sie damit bei der Arbeiterschaft auslösen, wie sie die sozialistischen Führer, auf die sie wirken wollen, damit vor den Massen kompromittieren! Doch man kann von Herrn Silverberg keine Erkenntnis verlangen, die auch den Leuchten des demokratischen Leitartikels noch keineswegs aufgegangen ist.
So sind also die Industrie-Häupter bei der Republik gelandet. Das ist bei alledem kein kleines Ereignis, rechtfertigt aber weder den mittelparteilichen Wonneschauer noch das von Theodor Wolff gebotene »Herzlich willkommen!«, dessen sprühende Ironie nicht ganz den Seufzer der Erleichterung zu kaschieren vermag. Zu einem »Herzlich willkommen!« mit Fahnen und bekränzten Türrahmen liegt kein Anlaß vor. Die Republik kann zu diesem Besuch nur die begeisterungslose Geste der überraschten Hausfrau aufbringen: »Anna, geh mal runter, es sind Leute da ...«
Wenn man zufällig diese Sätze liest:
»Jede neue Regierung in Deutschland bekommt ihr Gleichmaß am besten durch eine möglichst ausgiebige Beteiligung der Mitte. Erst dann lassen sich Kräfte und Forderungen ausbalancieren, bei der ein ehrlicher Makler keineswegs die Linke zu kurz zu kommen lassen braucht ...«
– wenn man das liest, dann weiß man, daß der Verfasser nur ein Demokratenführer und von diesen nur Herr Erich Koch sein kann. Auch wer Herrn Koch bitter bekämpft hat, kann doch seiner Gelenkigkeit nicht den Respekt versagen. Er hat ja die schwere Aufgabe, eine zerfallende Partei so lange zu schleppen, bis er sie irgendwo abladen kann, und zwar so, daß sie dann noch Kurswert hat. Das nötigt Herrn Koch, den Opferstock der frommen Gefühle zu füllen, ohne die vitalen Interessen darüber zu vernachlässigen. Die frommen Gefühle sind bei Hörsings Repubikanern, die Interessen bei Stresemann und der Hoffnung auf liberale Einung. Der eine nötigt zum Schreien, der andre zum Wispern. Im Zweifelsfalle hilft hüben wie drüben das Deutschlandlied.
Jetzt hat Herr Koch in der demokratischen Presse einen Artikel veröffentlicht, der in seiner ziselierten Zweideutigkeit an die ruhmreichsten Drehungen der alten Nationalliberalen Partei erinnert. Ein respektvoller Kratzfuß vor Joseph Wirths Republikanischer Union: Ja, das wollen wir ja alle, doch apropos, lieber Freund, wie steht es denn mit ihrer eignen Partei ...? Verbindliches Lächeln, neuer Kratzfuß. Exit. Herr Koch wendet sich von dem Duft der Idee dem solidem irdischen Bratengeruch zu. Mit der Sozialdemokratie ist auch nichts mehr zu machen, das erkennt er viel deutlicher als manche bessern Demokraten. So bleibt nichts als die gegenwärtig regierende Mitte, die sich nach rechts ausweiten muß:
»Wer heute für die Weimarer Koalition eintritt, übersieht oder verkennt die Entwicklungstendenzen, die innerhalb der Deutschen Volkspartei vorhanden sind ... Die Volkspartei abzustoßen ist unklug. Ich weiß recht wohl, wie schwer ihr die Entscheidung zwischen dem Alten und dem Neuen wird ... Aber der Fortschritt ist unverkennbar.«
Das ist die Sammlung der Mitte. Die Einung unter der Formel des Liberalismus. Die Konzentration des Besitzes. Der Bürgerblock. Das entspricht der wirtschaftlichen Straffung Deutschlands und seiner neuen Geltung in der Welt. Herr Silverberg hat noch eine platonische Einladung an die Sozialisten gerichtet: so sicher hat die Schwerindustrie den Staat, daß sie sich sogar die Beteiligung der Sozialdemokraten leisten könnte; denn sie weiß, daß die Partei in dieser Gesellschaft von vornherein zur Ohnmacht verurteilt ist. Herr Koch geht auch darüber wie über eine längst erledigte Etappe hinweg. Diese politische Konstellation deckt sich mit der sozialen Struktur: links Arbeiterschaft, rechts nationalistische Libertinage. Dazwischen: der Besitz, der wieder expansiv gewordene Kapitalismus. Die Politik der goldnen Mittelstraße hat zur Herrschaft der Mitte geführt, die das Gold hat. Die goldne Mitte regiert. Langsam humpeln die Parteien der Entwicklung nach.
Der Überfall Herrn Bacmeisters auf Severing scheint gründlich fehlgeschlagen zu sein. Das Publikum beginnt der Panama-Entdecker müde zu werden; die ewigen Verleumdungen werden langweilig. Nach den ersten Gerüchten sollte der Vorstoß eigentlich von Hugenbergs Blättern geführt werden. Möglich, daß man dort seit dem Magdeburger Mißgeschick die Lust an solchen Affären ein wenig verloren hat und deshalb den Stoff dem benachbarten Herrn Bacmeister überließ, der die leckere Speise sofort mit dem fanatischen Appetit des geborenen Koprophagen hinunterschlang.
Aber Severing ist unversehrt geblieben, und eine Mauer der Entrüstung deckt seine Person. Selbst auf der Rechten erheben sich Stimmen der Klage über die widerlichen Methoden des Kampfes gegen ihn. Ist also eine Renaissance der politischen Moral im Werden? Oder sitzt die Rechte heute schon so fest im Sattel, daß sie es sich wieder erlauben kann, anständig zu sein?
(Die Weltbühne, 7. September 1926)