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Das Theaterchen des Direktors und Komponisten Jacques Offenbach, genannt die Bouffes-Parisiennes, ein Holzbau zwischen den Bäumen des Bois de Bologne, war so klein, dass sich das »Foyer«, der Erholungsort sowohl für das Publikum als auch für die Schauspieler, auf der Allee vor dem Haus befand: wenn es regnete, musste man eben Regenschirme aufspannen. Und so eng beisammen waren Bühne und Zuschauerraum, dass den Schauspielerinnen Rampenlicht, Schminke und Korsett wenig nützten, wenn sie nicht schön waren: aber sie waren schön, ausgesucht schön, sie bestanden die Prüfung aus nächster Nähe, – die Fremden, die Provinzler und selbst die Boulevardiers gingen gerne in die engen Bouffes. An dieser besonderen und vorgerühmten Uraufführung des 21. Oktober zumal waren Offenbachs bekannt schöne Spielerinnen: Göttinnen, Halbgöttinnen, Bacchantinnen, also nur mit dem Trikot einer sicherlich leichtfertigen Mythologie bekleidet. Man sass eng beisammen, horchte, schaute und schauderte nicht im geringsten, als der Musikmagier mit dem Zwicker auf der grossen Nase die Weltordnung durcheinander brachte und das Unterste zu oberst kehrte, das Nichtzusammengehörige vereinte, das Ungehörige gehörig machte und Himmel und Hölle durcheinander wirbelte, unter der Hetzpeitsche seiner vergnügten Rhythmen. Denn nicht nur Orpheus war in der Unterwelt, sondern auch der Olymp; und nicht nur die Götter wünschten schliesslich, infernalisch zu tanzen, sondern auch die Zuschauer, die plötzlich und unter Gelächter wussten, wo sie mit ihrer sonderbar glücklichen Zeit hingehörten.
Ja, dachte in der zweiten Parkettreihe der Teufelskerl Rochefort, wir gehören in die Hölle, zunächst in die des charmanten Diavolo Offenbach.
In der Rangloge sass der Vicekaiser, der Gönner der Bouffes.
Die Götter schlafen. Über dem Olymp flirrt von den Geigen ein einziger Ton, ein Orgelton fast, langgezogen, ganz allein und etwas schwermütig. Dormons, dormons … Und ganz leise respondieren die Tenöre und Bässe unter dem Bogen des monotonen Himmelsklanges, und die Götter summen aus ihrem besonderen Schlaf. Dormons, dormons – que notre somme – ne vienne jamais à finir … Soviel Angst haben die Götter vor dem Aufwachen.
Wissen sie also wenigstens, dass es nicht gut sei, die Zeit zu sehen, die sie hold verschlafen? Sie spüren es wohl, das vermögen Götter, die Zeit streicht vielleicht unfreundlich über die geschlossenen Lider und an den Ohren vorbei und klingt anders als die eintönige Äolsharfe des olympischen Schlummers. Die Götter sind nicht allwissend, Gottseidank nicht. Aber danken sie es dem Göttervater? Das ist eine andere Frage, die schon das interne, olympische Problem streift. Warum sollen sie ihre beinahe menschliche Unzulänglichkeit dem undeutlichen und unheimlichen, ganz und gar nicht kollegialen Jupiter danken, dem Lüsternen mit den Nebelaugen und dem Vergnügen an unkontrollierbarer Verwandlung, wenn sie von ihm nicht einmal das Nächstliegende wissen: ob auch er schläft, wenn sie schlafen und er sich schlafend stellt, – ob er überhaupt da ist, wenn er seine Anwesenheit darstellt, der alte Magier, oder ob er, zaubrisch abgespalten, derweilen mit der Zeitgeschichte buhlt, als Nebel, mythisches Tier oder Mensch der Erde.
Jetzt ist Oktober, und es war März, als der vorbildliche Kopf Orsinis vom Richtblock in den Korb rollte und die Menge in Liebe und Entsetzen aufschrie und Eugenie, die vergeblich gnadenreiche, den ganzen Tag nicht das Zimmer verliess, – vielleicht weinte sie wie die vielen anderen Frauen um den geköpften Narziss, vielleicht wand sie sich wieder im Krampf ihres heiseren Gelächters, vielleicht rang sie aber auch nur mit dem Aberglauben, um sich von ihm und von dieser ganzen sinnlos und formlos gewordenen Leidenschaft zu befreien; denn sie war ja eine sinnvolle und formvollendete Kaiserin, fromm und vernünftig. Es war März, als die Kaiserbriefe des Geköpften in die Welt posaunt wurden und es einen Augenblick schien, als ob die Mauern des europäischen Friedens einstürzen würden. Aber sie blieben stehen und stehen noch: um sie einzustürzen, scheint mehr zu gehören als eine posthume Posaune. Die olympischen Schläfer wissen doch weder warum, noch wie lange sie stehen blieben. Sie ahnen nur, dass der Göttervater, der zwiespältige, der nun einmal die Macht hat, Mauern zu stützen oder umzuwerfen, mehr wisse und Gott behüte auch mehr tue, als für die himmlische Ruhe gut ist. Es ist etwas geschehen, es geschieht etwas, die Zeit streicht unfreundlich über die Lider, und Jupiter, der Vielfältige, kann zugleich schlafen und lieben und konspirieren. Es ist besser, nicht aufzuwachen. Dormons, dormons …
Jetzt ist Oktober, der Zauberer Offenbach gibt sich bukolisch, wenn er will, ein Hirte singt zugleich pastoral und spöttisch dunkelmännisch – denn dieser Schäfer Aristeus ist ja zugleich der unterirdisch böse Pluto –; die Melodie des Sommers, vor Reife fast schon schwermütig, streift in den hohen Tag, und hörst du richtig hin, vermerkst du auch ein bisschen Gounod, ja, ein bisschen Wagner in der scheinheiligen Parodie, hörst du genau hin, über die Anklänge an traurige Synagogensänge hinaus, so steigt die Sommermelodie auch in die tiefe Nacht, wo Pluto haust.
Da war es also Juli, der Sommer hing warm und prall über dem lieblichen, engen Tal der Augronne, in dem das Vogesenbad Plombières hockt, mit Schwefel- und Eisenquellen, heilsam für Gicht und Niere und Blase, berühmt durch seinen hervorragendsten Kurgast, den Kaiser. Da geschah also etwas im Juli zu Plombières. Wie sollte man etwas ahnen? Denn er lebte dort doch für seine kranke Blase und hatte es wohl notwendig genug, nur an seine Gesundheit zu denken. Sein Kuraufenthalt, sollte man meinen, gehört zu den sichersten Zeiten für die olympische Ruhe. Jetzt ist Oktober, und man wusste noch immer nicht, was damals geschah, man fürchtete sich nur vor dem Erwachen.
Morny hob das Opernglas und prüfte die überaus blonde und üppige Venus, die ihm nicht unbekannt war. Sie trug das dünnste Trikot, das die offenbachische Mythologie zu vergeben hatte. Sogar der Vicekaiser vergass seine Sorgen, seine Ahnungen und die grossen Summen, mit denen er à la baisse engagiert war. Der Direktor Offenbach darf zuversichtlich sein und hat Zuversicht auch nötig; denn es steht finanziell sehr bedenklich mit ihm. (Der dankbare Mann wird die schöne Villa, die er sich nun bald bauen lassen kann, darum nicht anders nennen können als »Orphée«.) Der Vicekaiser war abgelenkt und amüsiert, aus unterschiedlichen Gründen. Die offenbachische Mythologie zeigte unter ihrem charmanten Personal sogar eine Dame, eine keineswegs unwichtige, die sozusagen den Verkehr zwischen Göttern, Menschen und Dämonen regelte und manchmal sogar als moralisches Prinzip funktionierte: die Öffentliche Meinung. Das war recht belustigend, zumal für die, welche wussten, dass die Öffentliche Meinung eigentlich zu den Schläferinnen gehörte. Rochefort zum Beispiel lachte laut, als sie wach und tatkräftig auftrat.
Ich möchte wissen, wer da lacht, dachte Morny über ihm in der Loge, für einen Augenblick irritiert.
Da geschah es also im Sommer zu Plombières, das plutonische Pastorale, das keiner vernahm: genau am 21. Juli. Am Abend vorher traf aus Richtung Strassburg ein untersetzter Herr in den besten Jahren, dessen Pass auf den Namen Giuseppe Benso lautete, in dem Badeort ein, und da es Hauptsaison war und alle Hotels besetzt waren, musste er bei einem Apotheker absteigen. Der Apotheker sah in das flächige und bedeutende Gesicht, ein merkwürdiges Gesicht, zugleich verschlossen und nackt, listig und kühn, verbindlich und hart, von dünner Bartkrause umrahmt, eine scharfe Brille vor den scharfen Äuglein – ein nicht unbekanntes Gesicht. Aber Signor Benso erklärte in vorzüglichem Französisch und überdies etwas herrisch – wie einer, der zu befehlen gewohnt ist –, dass er müde sei, und verwehrte so dem Neugierigen, sich anzupürschen. – Wo sah man schon dieses Gesicht – in den Gazetten? – Der Apotheker sass in seiner Offizin und starrte nachdenklich zur Decke. Über ihm ging der müde Herr Benso in seinem Zimmer auf und ab, stundenlang. Vielleicht sollte man den Meldezettel und seine Wahrnehmungen noch heute nacht der Polizei zustellen: Italiener sind bekanntlich gefährlich.
Dem Beamten vom kaiserlichen Überwachungsdienst, der am nächsten Morgen in blauweiss gestreifter Dienerjacke dem Signor Benso das Frühstück auf das Zimmer trug, genügte ein Blick. Er zog sich diskret zurück, sagte lächelnd zum Apotheker: »Gefährlicher Italiener …«, vertauschte die Dienerjacke mit seinem grauen Überrock, ging geradeswegs auf das Telegraphenamt und sandte an das Pariser Polizeipräsidium eine chiffrierte Depesche. Er war nicht zur Stelle, als Signor Benso kurz vor elf Uhr das Haus verliess und sich wahrhaftig zur kleinen, efeubewachsenen Villa begab, die der Kaiser bewohnte.
»Mein lieber Graf Cavour«, sprach der Kaiser sanft und langsam, »ich freue mich, dass Sie da sind. Es ist allerlei geschehen, seitdem wir uns nicht mehr sahen, es ist allerlei gereift in mir inzwischen.«
Vor ihm auf dem fast leeren Schreibtisch lag eine Karte von Italien: das konnte eine nichtssagende Höflichkeit oder eine vielsagende Vorbereitung sein. Der Kaiser sah wohlgelaunt aus und wach, Plombières schien ihm gut zu tun. Im Ausschnitt der offenen Balkontür stand ein bewaldetes Berglein, von Sommer überschüttet, Grün und Gold. Die Ausschüttung von Sonne war so verschwenderisch, dass zwei Blinkfeuerchen auf Cavours Brillengläsern brannten. Er beschattete die Augen mit der Hand, er war sehr erregt.
Es reift ja schnell in ihm, dachte er, zu abenteuerlichen, aber kurzlebigen Formen, es ist bei ihm ein tropisches Wachstum der Ideen, Palmerston sagte einmal von ihm: wie Kaninchen – seine Gedanken pflanzen sich fort wie Kaninchen … Er lächelte ein wenig gezwungen, und zwischen seinen losen Fingern blitzte die Brille. Er hatte sich nicht ganz in der Hand, vor Erregung, vor Erwartung: er kannte diesen Zustand eigentlich kaum.
»Ja, ich bin entschlossen«, sagte der Kaiser, sah auf die Landkarte hinunter und schützte sie mit den unruhigen Händen; denn die überschwengliche Sonne beschoss das Zimmer, »ich bin entschlossen, Piemont in einem Krieg mit Österreich kräftig zu unterstützen, mit allen Kräften, lieber Cavour, und dazu ist die Voraussetzung, dass der Konflikt in erster Linie für Frankreich und in zweiter Linie für Europa einen einleuchtenden und anständigen Anlass hat. Wie also schafft man diesen noblen Anlass, mein lieber Graf?«
Cavour liess die Hand fallen, die Brillengläser brannten lichterloh, er schloss die Augen, die man doch hinter dem Glasgefunkel nicht sah. Am Ziel zu sein, ganz plötzlich, ganz unglaubhaft hastig, kann wohl schwindlig machen und nachträglich atemlos, nachträglich das Herz schütteln, als sei man doch ein Wettläufer und habe es doch mit den eigenen Beinen geschafft, und als sei es kein Wunder, keine Zauberei, kein fauler Zauber, keine Laune und Truglust der Sphinx: sein festes Kinn ging auf und ab, und er stotterte, er kannte diesen Zustand nicht.
Der Kaiser blinzelte in den Brillenglast, dann in den Sonnenüberschwang vor der Balkontür und sagte freundlich: »Die Sonne stört Sie wohl.« Er stand auf und liess das Rouleau herab. Ein Giessbach sanften, grünen Lichts, mit Goldpunkten unschädlich durchsetzt, ging über den Raum.
Er meint es gut, dachte Cavour und wurde allmählich wieder ruhig, klar, schlau und gefährlich.
»Wir haben viel Zeit«, meinte der Kaiser, »wir werden nicht gestört.«
Cavour nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Taschentuch. »Der Anlass wird nobel sein«, sagte er dabei.
Die Götter sind aufgewacht, es muss so kommen. Aber dass sie nicht mehr schlafen: das ist noch kein Erlebnis, noch nicht die gefürchtete Erfahrung – das ist bestenfalls ein unbehagliches und ungnädiges Gefühl für das Kommende. Das Schicksal eines Menschenpaares, für das die Öffentliche Meinung plädiert, ist der Steg vom Olymp zum Hades, und darüber also geht das göttliche Abenteuer, das geradezu frisch macht, sofort auch boshaft und dann schon rebellisch; denn die jetzt kontrollierbaren oder doch wenigstens sichtbaren Wege des Göttervaters sind bis ins Topographische infernalisch. Die Bosheit hält sich an seine mythologische Schwäche: an seine Lüsternheit in jeglicher Gestalt: als Gott, als Mensch, als Tier; und mit mächtigem Ha Ha Ha! stellt der Spottchor der Götter das Sündenregister auf, das sich um das Unterweltsabenteuer bereichern wird, um die schattenbedrohte Erdenschönheit der Eurydice, um plutonische Rivalität und die äusserste Wandlung des wandlungsreichen Jupiters: zur geilen Fliege. Von der Bosheit zum Aufruhr ist es nicht weit, vom Götterchor des Spottes zum Götterchor der Empörung braucht es nur kühner Modulierung – die hört man in aller Deutlichkeit: »Abattons cette tyrannie – ce régime est fastidieux« – und plötzlich rast in dreimal aufspringender Folge der Anruf, der Aufruf, der Aufruhr der ganz verpönten und unerwünschten Marseillaise quer durch die olympische Unzufriedenheit.
Morny in der Loge und Rochefort im Parkett hoben die Köpfe, und beiden schlug das Herz.
Es ist ja fast gleichgültig, dachte Morny, ob die kluge und innige Walewska tatsächlich schon von irgend einer puppengesichtigen und hartbrüstigen Amerikanerin abgelöst ist – ja, ob es wirklich wahr ist, dass Eugenie, die ja bei alledem mehr leidet, als wir alle ahnen, sich mit seiner Selbstzerstörung abfindet und sie gar fördert, durch eine neue, kalte, grauenhafte Regentinnen-Duldsamkeit, im Dienst und Namen der Zukunft, also des Sohnes. Es scheint mir nicht glaubwürdig, weil sie ja fromm ist, und das ginge nicht zusammen. Aber die selbst wäre gleichgültig vor der Entscheidung, die um uns herum schleicht. Entscheidend ist der Weg, den er schleicht. Täuschen mich denn seine hochsommerlichen Friedensreden und Pilgerfahrten? Sie können den armen Walewski täuschen, der ihn nachgerade hasst und ihm wohl deshalb glaubt, aus purem Anstand, aus Zwang zur Objektivität gerade dem Mann gegenüber, den seine Frau liebt. Walewski glaubt ihm, dass damals zu Plombières mit dem Dämon aus Turin nur freundschaftliche Phrasen gewechselt worden seien, – ich glaube es ihm nicht. Ich bin anders, ich bin unanständig wie diese Operette, unanständig und ungerecht selbst gegen meine Angst um das, was wird, um das, was er uns einbrockt, – vor zehn Jahren hätte ich eine Palastrevolution gemacht; heute spiele ich à la baisse, weil ich spüre, dass er in den Krieg schleicht, in einen gänzlich nichtsnutzigen Krieg: und vielleicht blitzt am blutroten Ende dann die Marseillaise auf wie in dieser musikalischen Blasphemie, die mich auf ganz fatale Weise zerstreut …
Morny fragte sich plötzlich, wie alt er sei. Vor zehn Jahren war er staatsstreichjung, heute reicht es gerade zu Spekulation und Präsidialgeschäften. Er war also alt, was gab es da zu zählen, nicht einmal bis fünfzig? Er war alt, satt und glücklich, ohne seine Angst, die ganz einfach eine Angst um sein sattes Glück war, ehrlich gestanden. Es gibt nun ein Alter, das keine blutrote Zeitwende zu fürchten braucht, weil man sie nicht mehr erleben wird. Galt solche Rechnung schon für ihn, und waren für ihn die Schleichwege des Kaisers, des selbstzerstörerischen, deshalb nur so fürchterlich, weil sie einen Strich durch die Rechnung machen können? – Wie sterbenstraurig und sterbenssüss übrigens ist das Sterbelied Eurydices! Aber, um Gott, sind hier nicht auch Tod und Klage nur Parodie?
Rochefort dachte: warum soll die Höllenfahrt nicht lustig sein und anmutig frech? Wer tut, als sei nichts ernst zu nehmen, auch nicht die Götterdämmerung: dem tun auch nichts die Flammen, die die Zeit ausbrennen werden, sauber brennen, frei brennen – der kommt durch, der singt die Marseillaise, die der dreiste Musikant anschlägt und die wieder gesungen wird. Dieser Clown Offenbach versöhnt mich mit dem Tragöden Orsini …
Rochefort war guter Stimmung, er fand den Beruf des Spassmachers auf weitsichtige und sinnvolle Weise bestätigt und gewann an Zuversicht.
In der Pause kam Chefredakteur de Villemessant in die Loge des hohen Gönners. Er prophezeite, trotz einer gewissen Kühle des Zwischenaktbeifalls, zweihundert Aufführungen, er war vertraglich mit 18% am Gewinn der Bouffes beteiligt. (Sowohl er als auch Offenbach schätzten solche Interessengemeinschaften und Rückversicherungen.) Er prophezeite in diesem Zusammenhang auch eine begeisterte Kritik im »Figaro«.
Morny sagte nicht viel. – »Sehr hübsch«, sagte er, »sehr begabt, sehr unverschämt.«
»Aber die Maske unseres Jupiter ist doch äusserst diskret«, grinste Villemessant aus seinen weichen Backen.
Morny schaute ins Parkett hinunter, und sein Blick verfing sich irgendwo. Er liess das Einglas vom Auge fallen und nahm das Opernglas und schaute. Doch es war nicht, wie der Chefredakteur vermutete und wie jeder vermutet hätte, der den ersten Kavalier des Reiches in der Pause sich mit dem Opernglas bewaffnen sah: Morny vergrösserte sich keine Frau im Blickfeld. Er betrachtete einen Mann. Da sass vor dem Binokel übergross und überdeutlich ein besonderer Kopf, ein seltsamer beziehungsreicher Kopf. Ja, da war Pluto zu sehen, Hadesherr im Frack, Mephisto mit verbeulter Riesenstirn, Stichflämmchen der schwarzen Brauen und kurzen, schwarzen Haarflammen, und er hielt das Kinnbärtchen zwischen den Fingern wie zwischen einer Schere und lächelte ganz infernalisch vor sich hin, tief zufrieden über den Höllengang der Götter, vielleicht das Ha Ha Ha! des Spottchors nachsummend oder den Empörungschor oder nur die zwischenfahrende Marseillaise, und sein Gesicht war zugleich das der Hölle und das der Zeit und das des Kaisers und das des Vicekaisers, fürchterlich bekannt und fremd. Wer ist das, dieser Antigott im Parkett und nicht auf der Bühne, dieser Götterfeind in der Realität?
»Wer ist eigentlich der Herr da unten in der zweiten Reihe rechts auf dem Eckplatz, Villemessant?«, fragte Morny.
»Wo, Exzellenz, – aha, da, der Teufel, ja?«
»Ja, der Teufel.«
»Das ist doch Rochefort, Exzellenz, mein Zukünftiger – aber er weiss es noch nicht, die Teufel sind Gottseidank nicht allwissend, das ist entschieden unser Glück, Monseigneur. Ich lasse ihn noch eine Weile braten, bis er ganz gar ist – Teufel unter dreissig sind für die Hölle Säuglinge –: dann hole ich ihn mir in die Redaktion. Sie werden noch Ihre Freude an ihm haben, Herr Graf.«
Der Vicekaiser verspürte den Wunsch, den Teufelsjünger kennen zu lernen. Aber er unterdrückte den Wunsch. Er wollte erst erfahren, wie es den Göttern in der Unterwelt gefällt.
Der noble Anlass! Nun, es gäbe immer noch den alten, guten Anlass wie vor zwei Jahren auf dem Friedenskongress: Österreich hockt immer noch, wider alles Recht, in Bologna und Ancona.
Das sei ein Anlass, diese alte Geschichte, die schon vor zwei Jahren langweilig war? Und stünden nicht französische Truppen immer noch in Rom? Was dem einen recht sei, Cavour …
Ja, es stehen immer noch seine Truppen in Rom, seit damals, als er, Präsident der Republik, die Tochterrepublik umbrachte. Er ist so guter Dinge heute, dass er scheinbar achtlos die gleichen Argumente gebraucht wie der gestrafte Mörder Orsini, – und das geköpfte Gespenst geht doch auch hier um, gerade hier in diesem heimlichen Zimmer, dem wohlig abgeblendeten. Cavour wenigstens ist davon überzeugt, er tut so, als wisse er im Augenblick keinen nobleren Anlass, er kommt sogar freiwillig wieder ins Stottern, so sicher ist er jetzt, dass der Kaiser und sein Gespenst ihm vorsorglich und wohlvorbereitet aus allen Verlegenheiten helfen werden.
Da sei es im Augenblick, aus dem Stegreif gleichsam, tatsächlich schwierig, äusserst schwierig, Sire …
Der goldene Crayon wandert über die Karte von Italien, und vom Vogesensommer draussen, dem grünverhangenen, hüpfen hübsch und harmlos ein paar Sonnenpünktchen über seinen spielerischen Weg. Der Bleistift hat es nicht schwer, er kennt sich aus, er macht eine niedlich eilige Reise von Genua aus den himmelblauen Golf entlang, östliche Riviera, Spezia, und dann dreht er sich schon in kleinem Kreise, immer rascher, in vergnügtem Tanz wie um sich selbst: so klein ist das umkreiste Ziel.
Massa-Carrara, das dem sprichwörtlich verhassten Autokratlein Franz-Modena gehört – also: das bekanntlich ächzende und stöhnende Fürstentümchen macht einen Freiheitsaufstand (ist das vielleicht abwegig oder unlauter oder überhaupt schwierig, lieber Freund?, nein doch!), es bittet den grossen Bruder um Hilfe, den grossen Bruder Piemont, und dann rollt ja schon das Schicksalsrad. Turin schiesst eine Brandbombe von einer Note nach Modena (man versteht sich im Turiner Aussenministerium auf Feuerwerkerei, nicht wahr, Exzellenz?), Modena pumpt sich den frechkalten Wasserstrahl der Antwort eigens vom grossen Bruder in Wien, Piemont besetzt Massa, das ist jetzt seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit – und was dann Österreich tut, Cavour, was es dann tun muss, das wissen wir und das ganze entrüstete Europa.
Ist das ein guter, ein gültiger, ein nobler Anlass? Oh, das ist ein Anlass zum Hände reiben …
Aber: der Crayon macht einen spitzen Sprung nach Süden – da gäbe es zwei Schwierigkeiten, zwei Rücksichtnahmen, eine grosse Rücksichtnahme auf den Heiligen Vater, man brauche es nicht zu begründen …
Man braucht es nicht zu begründen, da war die berühmte Dankbarkeit, und noch immer ist in Rom die französische Garnison, und da ist der hochwichtige französische Klerus, der manchmal den neuen Charlemagne preist, den Hüter der Kirche, gewiss: aber hier im Zimmer, so scheint es dem mit der Brille, dominiert das Gespenst, und Angst ist für den psychologischen Spekulanten stärker als Dankbarkeit, und so wird man ganz kühn.
Gewiss, man müsse Rücksicht nehmen, das sei keine Frage; der Heilige Vater behalte Rom und das Patrimonium Petri, und niemand könne dann dafür, wenn zum Beispiel die Romagna, die gequälte, dabei nicht mitmachen würde …
Der mit der Brille hält den Atem an: das ist die Abtrennung von vier Fünfteln des Kirchenstaats. Der Kaiser fährt mit dem Zeigefinger den langen, wagerechten, immer dünneren Schnurrbart entlang, der Bleistift springt wieder nach Süden, Rom ist schon verlassen.
Die zweite Schwierigkeit, wenn auch geringfügigerer Natur, sei Neapel und sein Tyrann auf Absterbeetat; aber hinter ihm steckt ja leider das Interesse des Zaren, Sie begreifen, Cavour.
Was für eine Schwierigkeit, Sire? Wer von uns wird sich mit Neapel beschäftigen? Niemand! Neapel wird sich mit seinem Alpdruck weiterquälen und aufwachen und ihn abgeworfen haben, möglicherweise …
Die Sonne stand schon niedriger, der Baumsammet der Hügel wurde dunkler, der kundige Bleistift zog grosse Kreise der Entscheidung: ganz Oberitalien mit Venetien, Emilia, Romagna stand schon unter dem Befreier Piemont, noch drei Staaten bildeten sich, ein vergrössertes Toskana als mittelitalienisches Königreich, das Patrimonium Rom und Neapel, hoffentlich bald unter Murat; der Bund der vier Staaten bildete sich. – Wer wird Präsident?
»Pio Nono«, sagte der Kaiser leise. Cavour lächelte über so viel Dankbarkeit.
Und der Krieg wird, wenn nötig, bis Wien getragen, von 300 000 Mann – 100 000 stellt Piemont, 200 000 Frankreich.
Meint er dies alles ernst? Es kann doch sein Unglück sein … Der Bleistift ist schon jenseits des Isonzo. Der mit der Brille denkt: er hat doch Glück bisher.
Und der Dank des befreiten Italien an den Befreier?
Kein Dank. Vielleicht nur eine kleine Abmachung neben der grossen.
Also schon innerhalb der Bündnis-Stipulierung. Und welche Abmachung, Sire?
Eine Grenzregulierung sozusagen.
Der goldene Bleistift fliegt nach Westen, ganz nach Westen.
Savoyen und Nizza.
»Nizza!«, schrie Cavour auf, »und das Nationalitätenprinzip, das kaiserliche?!«
Der goldene Bleistift winkt ab, nicht aufregen, Bagatellen regeln sich von selber, später.
Die Stunden tropfen aus der Sonne, vier wichtige Stunden unter dem Zauberstäbchen und Taktstöckchen des Crayon. Man darf sich eine Pause erlauben, und dann fährt man im Zweiradwägelchen aus, im niedlichen Zweisitzer, der Kaiser lenkt selber, im grauen Zylinder. Der Sommertag ist ja hoch und reich, immer noch reich an Sonne, die die sanften Berglein hinanläuft. Immer noch bläst die Landschaft die Pansflöte, ihr Gold nur, ihr Grün und ihr Blau tönen dunkler, aber auch süsser und milder. Wer hat Angst vor den Schatten, die ausbrechen werden aus den stillen, den lieblich gewundenen Wegen?
Da ist ja noch dies: die Heirat.
Lieber Gott, diesem aufgeschwollenen Kaisergesicht, bröcklig grobem Abguss des grossen Kaisers – wer fragt noch nach solchen Gesichtern –, diesem Lebenswüterich Plonplon, berühmt nur durch seine Laster und den lächerlichen Lallnamen, soll das fünfzehnjährige Kind von Piemont ausgeliefert werden?
Staatsraison! Staatsraison! Und dieser Mann ist eine Kraft und eine Intelligenz, schädlich in der passiven Opposition, nützlich, sehr nützlich in der heissersehnten Aktivität; er muss aktiv gemacht werden, dynastisch und politisch, er ist euer Freund, ihr wisst es, er wird vielleicht euer mittelitalienischer Königsnachbar, – nun, und wie gefiele euch die kleine Königin? Und dies auch: er ist kein schlechter Mensch, er ist sogar sentimentalisch unter der übertriebenen Maske, – er stürzte zur sterbenden Rachel, Cavour, er desertierte gleichsam von Chalons, er war bei ihr, er ganz allein – ich nicht; er weinte, es ist ganz sicher, dass er geweint hat – ich nicht. – Aber lassen wir das Weinerliche, Sie sollen lachen, Cavour, vorhin schickte mir der gute Walewski eine Depesche, dass Cavour laut polizeilicher Meldung in Plombières sei …
Der mit der Brille sah den Nachbarn an. Des Kaisers grosse Nase zuckte. Wahrhaftig, es freut ihn, dass er alle um die Verantwortung betrügt. – Das ist (gesetzt den Fall, er hat Angst) keine gute Freude. Aber sieht er aus, als habe er Angst? Er sieht so aus, als könne er betrügen … nein, nein, er sieht aus, als könne er gewinnen …
Der Kaiser schnalzte, der Traber griff aus.
»Kanonen! Cavour, Kanonen!«
Aus dem Tal fuhren schon die Schatten auf.
Was also ist es mit den Göttern, die in die Hölle kommen? Kämpfen sie für ihre Oberwelt, siegen sie im Zeichen ihrer Sonne, gehen sie unter in der kochenden Finsternis? O nein. Rebellieren sie, meinethalben im Bunde mit den Teufeln, gegen den Göttervater, der sie auf den bösen Weg brachte, fluchen sie ihm wenigstens? O nein, es gibt da unten eine ganz feierliche Kantate, ihm zu Ehren, so etwas wie ein plutonisches Tedeum. Grosser Gott, leidet die Zeit wenigstens, wenn sie in die Hölle kommt? Nein, sie leidet nicht, sie lacht sich eins.
Man fühlt sich wohl in der Hölle – nicht weil man des lieben Himmels überdrüssig ist: man fühlt sich überall wohl. Die Zeit hat einen unbändigen Lachreiz im Bauch, sie muss über Tod und Teufel lachen, über den Jupiter und auch über sich selbst. Was kommt? Kommt Krieg? Springt dieses Neukaiserglück morgen oder in fünfzig Jahren? Es ist zum Lachen! Das leise, weise Lachen der politischen Skepsis schafft sich die beste aller Welten gerade aus der Unterschätzung und der Verachtung des politischen Schicksals, das man in allen Formen und Farben hat ablaufen sehen. Und den lauten Lachern, denen zumal mit Herzangst, vergeht hier Hören und Sehen und Ahnen vor Lachen: sie sind also noch besser dran. Der Höllenchor singt ein Trinklied, nein, ein Rauschlied, die schöne Menschin, um die es geht, die umbuhlte und umbrummte, wird zur Bacchantin, damit es ihr gut gehe und geziemend im Unterweltsrausch. Die Götter, die Teufel und die Menschen fühlen sich wohl. Und so geschieht es in der Hölle, dass sie tanzen, dass sie alle tanzen.
Es beginnt ganz lieb und zierlich mit einem Menuett wie von Lully. So begannen früher die Götterfreuden, üppige schon, und sie kamen aus heiterem Himmel, rund im Ton und fest im Fleisch. Sollte doch die olympische Lust die Hölle erobern?
Schnell, ganz schnell und plötzlich steht die Höllenlust auf, holt aus und erschlägt das Menuett, aber nicht die Götter. Die Tanzenden bleiben leben; doch der Tanz ist anders, er ist infernalisch zum Lachen. Kleine, rasche, freche Tonhiebe prasseln auf die Beine. Das kitzelt zuerst nur und macht lustiger noch und überaus gelenkig. Man tut ja schon, was man kann und eigentlich nie gekonnt hatte, man springt ja schon trotz Bauch und Jahren, die zwar weder im Himmel noch in der Hölle zählen, aber doch faul machen, man wirft die Beine wie dressierte Zirkusgäule, man hat vielleicht schon Pferdehufe: so dröhnt der Höllenboden unter dem Gestampf.
Die Götter werden eingeritten, die Peitsche knallt immer schneller und schärfer, und dann tun die Hiebe der rasenden Tanzweise weh, nicht lange und nicht etwa tragisch, nicht etwa, dass man die Olympier auf solche diabolische Weise umbrächte: man bringt ihnen nur das Schreien bei, das zum Aufruhr der Glieder gehört, das grosse Lustgeschrei der unteren Welt, den vulkanischen Lachausbruch, den die himmlischen Menuett-Lächler noch nicht erlebten. Die Springer meinen, sie zersprängen dabei; doch sie sprengen nur die alte Form der Heiterkeit, und dann galoppieren sie schon ohne Form und ohne Mass, gelöst und entwurzelt, doch wunderbar gleichgewichtig und gleichgültig, doch im Takt, doch im Takt durch die brüllende Manege des Rausches.
Die Manege ist gross: sie umfasst ja Himmel und Hölle und das bisschen Erde, die Grenzen sind niedergeritten, auch zwischen Bühne, Orchester und Publikum, ce bal est original, Jupiter der Vielfältige und Erzverführer kann überall sein, wie man erfährt: man sieht ihn nicht mehr recht im grossen Durcheinander.
Um die Wahrheit zu sagen: er ist jetzt nicht mehr so wichtig, kein Gott ist mehr wichtig, du kommst aus ganz ohne ihn. Die Zeit, die Zeit hat ein weites Herz und umfängt alle und durchpulst alle. Rochefort fühlt das Herz, auch der Vicekaiser, und beide fühlen sich wunderbar wohl. Die regierende Melodie kommt jedem Wunsch entgegen und macht aus jedem Gedanken ein Couplet. Die Zeit zertanzt das Kaiserreich, Kaiserreich, Kaiserreich … Das ist Rocheforts Galoppgesang. Und Morny tanzt schon à la baisse, à la baisse, à la baisse – auch das kannst du darauf singen.
Das ist der Galop infernal: der Zeitteufel ist aufgestanden und bläst, ein Witzbold ohnegleichen, die neue Posaune von Jericho. Es ist eine zugleich tolle und simple Melodie, die an den Mauern rüttelt, witzig bis zum Wahnwitz, lustig bis zur Tobsucht und rhythmisch bis zur Erschütterung jeden Gefüges. Es ist zum Lachen, was da alles zusammenstürzt an Glaube und Scham, aber auch an Angst. Galopp! Galopp! Die immergleichen Töne, immer heftiger treibend, immer übertriebener und rasender, Gehämmer und Getrommel des Tongelächters jagen den Ernst aus der Zeit. Der allgemeine Cancan geht um, neuer Veitstanz gegen die schwarze Pest der Zukunft.